Jenseits aller Zuschreibungen |
Nico und Kim geben Einblick in ihre gelebte Auseinandersetzung mit einem non-binären Dasein.»
von Ivo Knill
|
«Ich möchte unbedingt einmal Kinder, am liebsten schon jetzt!», sagt Nico und lacht. Es ist heiss im Backstagebereich des Frauenraumes der Berner Reithalle. Wir sind zusammengekommen, um über das Lebensgefühl und die Lebensentwürfe zu sprechen, für die «non-binär» und «genderfluid» Begriffe sein könnten. Wir haben die Sofas zurechtgeschoben und setzen uns, Nico, Kim, ich und Jules, die das Gespräch eingefädelt hat und unsere Begegnung illustrieren wird. Nico ist zwanzig Jahre alt, verwendet lieber keine Pronomen für sich, am ehesten «sie». Nico hat in diesem Sommer eine Ausbildung als Fachperson für Kleinkinderbetreuung abgeschlossen. Nach einer Auszeit will Nico Sozialpädagogik studieren. Kim ist 24 Jahre alt, hat einen Bachelor in Graphic Design abgeschlossen und sucht sich bald eine Praktikumsstelle. Jules hat für uns den Frauenraum aufgemacht, setzt sich zum Gespräch hinzu und dreht sich im Wechsel mit den anderen hie und da eine Zigarette.
Kim sieht im non-binären Lebensentwurf eine Befreiung von Mustern und Rollenerwartungen. Kim definiert sich unabhängig von binären Geschlechterrollen. Kims Ort ist nicht «zwischen» den Geschlechtern, sondern, wenn das denn denkbar ist, ausserhalb der Geschlechterordnung. Frei sein, nicht gelesen werden, auch wenn das gar nicht so einfach ist: Sogar in einem linken und geschlechtersensiblen Umfeld erlebt Kim Irritation: «Bist du etwa geschminkt? WTF, warum?», wird Kim auf der Party im besetzten Haus gefragt. Und wenn Kim durch den Bahnhof geht, kann es sein, dass unter den Zurufen auch Beschimpfungen sind. Kim möchte sich nicht bewegen müssen, wie es einem weiblichen oder männlichen Geschlechtsstereotyp entsprechen würde. Kim möchte nicht Verhaltensmuster zeigen, die geschlechtstypisch sind, und möchte in Bezug auf den Körper, das Verhalten und die Rolle nicht in der Kategorie des Geschlechtes beschrieben sein. Freiheit also, frage ich nach, und Kim bekräftigt: Eine Welt ohne diese Schubladisierungen wäre eine Utopie, die vielfältiger ist, als es die binäre Geschlechterordnung erlaubt. Nico wollte schon im Kindergarten lieber Bub als Mädchen sein und zog sich so an. Die Eltern liessen es zu, auch die kurzen Haare. Die Pubertät war schlimm. «Ich hatte Horror davor, eine Frau zu werden. Ich stand jeden Tag vor dem Spiegel. Ich hatte Angst vor dem, was mit mir passierte, und konnte nicht schlafen.» Eine körperliche Anpassung kam für Nico nicht in Betracht, weil die Mutter sich das überhaupt nicht vorstellen konnte. Erlösung brachte eine neue Sicht auf den Körper: «Ich merkte, dass mein Körper gar nicht weiblich war, sondern es durch den Blick auf ihn wurde. Ich begann meinen Blick zu ändern.» Eine Befreiung also? «Nein, überhaupt nicht», findet Nico, etwas im Gegensatz zu Kim. Damit zu leben, sich nicht in der binären Geschlechterordnung zu identifizieren sei nicht Freiheit, sondern dauernde Herausforderung. Immer sei da die Frage, ob Nico sich anpassen soll, um weniger anzuecken. «In einer sensibleren Gesellschaft könnte es eine Freiheit sein. In unserer ist es das nicht», sagt Nico. Aber ist es denn für das eigene Selbstbild ein Gewinn? Auch hier verneint Nico: «Immer zieht es mich hin und her, ich fühle mich fluid, beweglich, forschend. Wie fühlt es sich an, wenn ich die Haare lang trage? Möchte ich mich schminken? Am Abend frage ich mich, ob ich mich mit einer tieferen Stimme beim Sprechen wohler fühlen würde. Und am Morgen kann sich schon wieder alles anders anfühlen. Das ist nicht immer einfach und kostet mich mehr Energie, als dass es sich unbedingt stärkend auf mein Selbstbild auswirkt. Wohl fühle ich mich jedoch unter meinen Freund:innen und in einer sensibilisierten Bubble.» «Und wie hast du die Arbeit in der Kinderkrippe erlebt?», frage ich. Für kleine Kinder spielt doch die Frage nach Geschlechterrollen eine grosse Rolle. Zumindest habe ich es so erlebt, ergänze ich, als ich meine Kinder zur Kita brachte: Sie wünschten sich geschlechterstereotype Rüschenröcklein und Räuberpistolen und sorgten für hitzigen Gesprächsstoff. «Kinder sind erstaunlich offen, neugierig und direkt», entgegnet Nico. Einmal fragte ein Knabe auf Nicos Schoss: «Warum hast du Brüste, wenn du doch ein Junge bist?» «Dabei», ergänzt Nico, «trug ich in der Krippe doch meinen gesellschaftlich gesehen weiblich einzuordnenden Vornamen! Er las mich aber als Junge – das heisst doch, dass kleine Kinder da sehr flexibel sind.» Es wird wärmer, noch wärmer im Hinterzimmer des Frauenraums, der vielleicht bald einmal umbenannt wird. Wir reden, ich höre zu, mache mir Notizen und bekomme einen ersten Eindruck davon, was es heissen könnte, sich nicht nur innerhalb des Spektrums eines Geschlechts zu bewegen, sondern die Grenzen zu überschreiten, ja aufzuheben. «Man muss nicht unbedingt einen androgynen Körper haben, um sich als non-binär zu definieren. Das Aussehen des Körpers ist nicht entscheidend», hält Kim fest. «Und auch meine Sexualität möchte ich nicht aus einer Geschlechterrolle ableiten. Es soll ja Spass machen!» Ich werde neugierig und frage nach: «Wie geht denn sexuelle Begegnung, wenn du – und vielleicht dein:e Partner:in – sich nicht definieren?» «In der Begegnung entsteht etwas, jedes Mal neu, das ist es! Was sagen denn die Begriffe? Ist eine Geschlechtspraxis damit beschrieben, welche Geschlechtsteile dabei eingesetzt werden? Oder geht es eher um die Anziehung zu einem sozialen Geschlecht? Sexuelle Begegnung ist vielfältig! Vieles wird erst sichtbar, wenn wir die Kategorien fallen lassen!» Sexuelle Begegnung ausserhalb von Kategorien und Zuordnungen: Geht da nicht ein Raum auf, nach dem sich viele sehnen? Auch Nico will sich nicht «labeln». «Ich kann mir fast alles vorstellen – aber ich möchte nicht als etwas gelesen werden, was ich nicht bin. Eine lesbische Frau, die ausdrücklich auf Frauen steht, würde ich eher nicht daten, weil sie vermutlich etwas in mir sehen würde, was ich nicht suche. Auch einen Cis-Heteromann, der in mir die heterosexuelle Frau sieht, würde ich nicht daten. Sonst bin ich offen.» Das Gespräch entspannt sich. «Wie ist es denn mit Beziehung, Familie, Kindern?», frage ich. Nico verblüfft mich: «Ich kann mir gut vorstellen, ein Kind zu haben. Am liebsten schon jetzt! Ich lebe schon mit einem Kind zusammen, und das ist schön!» Nico würde das Kind austragen und zur Welt bringen – aber ohne in der klassischen Mutterrolle landen zu wollen. Nico stellt sich Familie als etwas Grösseres und Offeneres vor. Da müssen viele Menschen im Spiel sein, es können Liebe und Sexualität und Offenheit unter einem grossen Dach wohnen – und so sieht es auch Kim. Beziehung, Familie neu erfinden! Ich gehe durch die Hitze des Augusttages nach Hause. Das Gespräch hat mich glücklich gemacht. Ist es nicht ein spektakulär schönes Geschenk an die Gesellschaft, dass Menschen wie Nico und Kim ihren Weg gehen? Sie stellen sich Fragen, die uns alle betreffen, und suchen Antworten auf neuen Wegen. Sie könnten Forschende am Leben sein, Künstler:innen – jedenfalls Menschen, die einer Spur folgen und andere inspirieren können. |