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Der Held ist ein journalistisches Konstrukt.»
Ein Kommentar von: Rolf Wespe
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Es ist glorreich – und risikoreich –, ein Held oder eine Heldin zu sein. Wer herausragt aus der Masse, wird geliebt und beneidet. Denn: Wir lieben Helden und wir hassen Helden. Diese Botschaft verinnerlicht haben Teamsportlerinnen und Teamsportler. Wenn Sie im Interview nach dem Spiel auf eine herausragende Leistung angesprochen werden, verweisen die Stars reflexartig auf das ganze erfolgreiche Team. Zum Beispiel Leonardo Genoni, Torhüter des Schweizer Meisters im Eishockey, des EV Zug. Die NZZ fragt ihn, wie er es geschafft hat, sieben Mal mit verschiedenen Teams Schweizer Meister zu werden. «Man muss einfach sagen, dass ich immer in wahnsinnig guten Teams gespielt habe. Das hilft schon sehr.» Genoni gibt den Ball, beziehungsweise den Puck, gleich weiter. Zum Helden gehört Demut, sonst wirds schwierig. Sonst droht «Make a hero, kill a hero», wie die Journalistinnen und Journalisten sagen.
Begriffen hat das auch der hervorragende Krisenkommunikator Wolodimir Selenski: «Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind die Helden», sagt er. Diesen Verweis aufs Team hat Nationalratspräsidentin Irène Kälin offenbar zu wenig gemacht. Sie wurde zur Heldin. Sie hat sich in Gefahr begeben und ist nach Kiew gereist. Prompt kam die Heldin an die Kasse. Einige Medien und neidische Politiker-Kolleginnen und -Kollegen unterstellten ihr, sie profiliere sich, um Bundesrätin zu werden. Das Medienritual lässt grüssen: Kreiere eine Heldin, demontiere eine Heldin. Journalistinnen und Journalisten sind stets auf der Jagd nach Heldinnen und Helden. «Find a face», nennen das die amerikanischen Medienleute. Der Held ist ein journalistisches Konstrukt. Die einfachste Methode, um einen komplizierten Sachverhalt zu vermitteln. Eine Erzählung braucht einen Helden oder eine Heldin. Heldinnen helfen, eine meist abstrakte Botschaft an die Leute heranzutragen. Wie lässt sich Unterdrückung und Widerstand der alten Eidgenossen gegen die Verwaltung der Habsburger anschaulich erzählen? Durch Personifizierung, mit dem Auftritt von Wilhelm Tell. Die Konzentration auf diese Person zeigt gleichzeitig die Probleme der Heldenerzählung auf. Tell hat nie gelebt. Die Apfelschuss-Legende wurde aus Skandinavien importiert. Trotz allem ist aus einer gefakten Geschichte ein allgegenwärtiger Mythos geworden. Ein Ur-Archetyp der Schweiz. Immerhin muss Tell sich, wie sein Kollege Winkelried, nie vorwerfen lassen, er habe es als Held zu weit getrieben und nur den Ruhm gesucht. Denn die beiden Eidgenossen haben nie gelebt, und ihre Taten sind erfunden. Heldenerzählungen müssen mit Vorsicht aufgenommen werden. «Selenski gegen Putin» – so bringen die Regeln des Storytellings den Krieg in der Ukraine auf eine einfache Formel. Die Wirklichkeit ist komplexer. Auch das Botox-Gesicht aus Moskau ist wahrscheinlich nur in der medialen Verkürzung ein einsamer, brutaler Amokläufer. Die Mafia der russischen Massenmörder hat viele Köpfe. Der Empfänger muss sich vergegenwärtigen: Helden und Heldinnen verweisen oft auf komplexe Sachverhalte, die mitgedacht werden müssen. Und die Empfängerin sollte skeptisch reagieren, wenn Leute, die mutig reagieren oder Ausserordentliches leisten, heruntergemacht werden. Dazu gehört auch der Umgang mit der Tochter einer Bauernfamilie, die im Gymi hervorragende Noten macht. Die neidischen Mitschülerinnen und Mitschüler mobben sie: Sie rieche nach Bauernhof. Oder zwei Lebensretter, die eine Frau aus dem Rhein gefischt haben, wollen nicht mit ihrem Namen in die Zeitung. Sie wollen keine Helden sein. Sie fürchten negative Reaktionen. Eigentlich müsste man nicht die Helden angreifen, sondern, wenn überhaupt, all jene, die sich in schwierigen Situationen totstellen oder davonmachen. Allerdings gibt es da in der Regel keine starken Geschichten. Stellen Sie sich vor, Tell würde, wie gefordert, den Gesslerhut grüssen und weitergehen. Damit kann auch ein begabter Erzähler keine Geschichte bauen. Die Mutlosen machen keine Schlagzeilen. Rolf Wespe war Studienleiter an der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern und hat zwanzig Jahre als Redakteur, Reporter und Rechercheur beim Zürcher «Tages-Anzeiger» und beim Schweizer Fernsehen gearbeitet. Wespe wurde mit dem Zürcher Journalistenpreis ausgezeichnet. Er ist Ko-Autor des Buches Storytelling für Journalisten. Es ist in der fünften Auflage im Herbert von Halem Verlag erschienen. |