«Moderner Krieg
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Vom Unbehagen am Thema, Selenskis Kleidung und davon, warum wir die Helden nicht loswerden – ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Bröckling. »
Interview: Frank Keil
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ERNST: Auf dem Weg zu Ihnen ist mir der Schauspieler Will Smith eingefallen, wie er auf der letzten Oscar-Verleihung den Moderator ohrfeigt, weil dieser seine Frau beleidigt habe – und er sich sogleich entschuldigen musste. Ist das ein typisches Handeln eines Helden in der postheroischen Gesellschaft?
Ulrich Bröckling: Schauspieler sind oft erst einmal Helden-Poser, also Heldendarsteller. Das heisst, ihr Job ist es, ein Gespür für Gesten und Situationen zu entwickeln, die zu Heldengeschichten passen. Wenn jemand sein Berufsleben lang damit beschäftigt ist, solche Rollen zu spielen, dann läuft dieses Spiel zuweilen auch jenseits der Kamera weiter. Für Zuschauer:innen ist dann oft nicht mehr zu unterscheiden: Was ist Rolle, was ist öffentliche Präsentation, was ist privater Alltag? Der Mann – Will Smith – verteidigt seine Frau, weil es einen gibt, der sie angeblich beleidigt hat. Das ist ein Ehrenhandel, ein klassisches Westernmotiv. Aber sind ihm nun die Sicherungen durchgebrannt oder war die Ohrfeige wohlkalkuliert? War es eine Pose oder eine Affekthandlung? Das lässt sich kaum unterscheiden – und gerade deswegen können wir so lange darüber reden. Mich hat das Urteil überrascht: Zehn Jahre Ausschluss von allen wichtigen Filmpreis-Verleihungen, nicht nur dem Oscar … Andererseits wird man in zehn Jahren immer noch von dieser Geste sprechen. Und es passt durchaus in die Heldenpose, dass man Dinge tut, für die man dann büssen muss. Das wird auch oft honoriert, im Sinne von: Der hat das Richtige getan, und die zehn Jahre Sperre ist das auch wert. Ich habe Ihr Beispiel jetzt ganz selbstverständlich als heldenhaften Akt akzeptiert, aber Smiths Ohrfeige wirft die Frage auf, ob der Begriff «heroisch» oder «heldenhaft» damit nicht überstrapaziert wird. Helden gehören ursprünglich in die Sphäre des Krieges; dass wir heute alle möglichen Leute als Helden oder Heldinnen bezeichnen, ist ein modernes Phänomen. Was zu einer gewissen Unschärfe führt – die SupermarktketteAldi hat vor einiger Zeit sogar mal eine Kuchenglasur zum Helden des Alltags gekürt. Für mich gehört zum Sprechen über das Heroische jedenfalls ein Kontext von Kampf und auch von Opferbereitschaft, wie subtil auch immer. Das ist nicht zuletzt auch der Grund, warum mir Heldenfiguren suspekt bleiben. Sie sagen in Ihrem Buch immer wieder: Will man über das Heldische sprechen, muss man sich auch selbst positionieren. Was mussten Sie wegräumen, um einen nüchternen, soziologischen Blick einzunehmen? Dazu kurz zur Vorgeschichte des Buches und meiner Forschung: Es entstand im Rahmen eines grösseren, fächerübergreifenden Forschungsverbunds, zu dem ich eingeladen wurde, als ich vor elf Jahren hier nach Freiburg im Breisgau an die Universität kam. Ich dachte damals: «Helden, das interessiert mich doch nicht die Bohne. Heroes are boring. Welche Funken sollen sich aus dem Thema schlagen lassen?» Dazu kam meine Lebensgeschichte: Ich habe den Kriegsdienst verweigert, habe mich in den 1980er-Jahren in antimilitaristischen Gruppen engagiert. Dass Heldendenkmäler gestürzt werden sollten, war für mich klar. Doch im Verlauf der Arbeit in dem Forschungsverbund habe ich gemerkt, dass Abneigung gegen den Untersuchungsgegenstand auch erkenntnisfördernd sein kann. Man lernt, genauer hinzuschauen: Warum ärgert mich etwas? Was stört mich, was ist das genau? Manchmal kann man mit einem kalten, ablehnenden Blick mehr erkennen, als wenn man mit grosser Begeisterung und Sympathie dabei ist. Die Abneigung wird dadurch nicht geringer, sie wird präziser. Springen wir in die Gegenwart – und da kommen wir am Krieg in der Ukraine nicht vorbei: Hat Sie überrascht, was geschehen ist und was geschieht? Der Beginn des Krieges hat mich wie wohl die meisten hierzulande überrascht. Wie so viele hatte ich in den vergangenen Jahren kaum zur Kenntnis genommen, was im Osten der Ukraine vor sich ging. Als dann im Februar der Krieg losging, hat mich allerdings nicht überrascht, wie rasch das Thema Helden auftauchte. Der Krieg ruft nach Helden und schafft sich welche, auch wenn die Zeiten, in denen heroische Kämpfer die Schlachten entscheiden, lange vorbei sind. In diesem Fall fiel dem ukrainischen Präsidenten Selenski der Heldenpart zu, und er wuchs binnen Tagen in die Rolle hinein. Seine ersten Ansprachen waren ausserordentlich eindrücklich, besonders im Kontrast zu den Auftritten Putins: Selenski schlug zwar heroische Töne an, demonstrierte Entschlossenheit und forderte vom Westen militärische Unterstützung, aber er hielt keine Hassreden und vermied ein martialisches Auftreten. Selbst seine Kleidung blieb und bleibt in einer Zwischenlage: Er trägt zwar olivfarbene T-Shirts, tritt aber bisher eben nicht als Soldat in Uniform auf. Ich bin überzeugt, dass diese Auftritte, gerade in der Anfangsphase, massgeblich zur Solidarisierung in der westlichen Welt beigetragen haben, bis hin zu den Waffenlieferungen. Die politische und auch militärische Bedeutung seiner Online-Ansprachen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Heldenbilder und Heldengeschichten sind nicht bloss das Wellenkräuseln über den eigentlichen historischen Bewegungen, sondern sie sind auf einer ganz materiellen Ebene wirksam, und sie beeinflussen ein Kriegsgeschehen massgeblich. Selenski hat Sie erreicht? Mich selbst hat etwa seine Rede im Deutschen Bundestag nicht kalt gelassen; ich konnte da nicht in einer reinen Beobachterposition bleiben. Zugleich gab es bald Kritik an der Art der – ich sage es mal so: ukrainischen Mobilmachung … Zur Wiederkehr des Heldenthemas gehört eben auch, dass Frauen und Kinder zur Flucht aufgefordert wurden und Millionen dem gefolgt sind. Das Heldentum ist männlich konnotiert, und die Geschlechterrollen werden sehr klar definiert. Es gibt Frauen, die freiwillig kämpfen, das wissen wir; aber die Männer müssen kämpfen. Was ist mit denen, die nicht kämpfen wollen? Die den Kriegsdienst verweigern? Das Land verlassen dürfen sie jedenfalls nicht. Wie ist es mit diesem Krieg als Heldengeschichte? Auffällig ist zunächst die Personalisierung: Wir reden von «Putins Krieg», weil wir den Krieg mit seinem Gesicht, seiner Person verbinden. Es gibt wenige Bilder von denen, die militärisch im Einsatz sind. Man sieht kaum Generäle, kaum Offiziere. Der Krieg selbst bleibt sehr unpersönlich. Eine These meines Buches ist: Die moderne Kriegsführung selbst hat nichts mehr mit Heldentum zu tun. Die Taten Einzelner, der Mut Einzelner sind nicht mehr entscheidend. Was das militärische Geschehen dominiert, sind technische Systeme; ist nicht der Kampf Mann gegen Mann, sondern der Einsatz von Distanzwaffen. Gut möglich, dass die derzeit noch eingeschlossenen ukrainischen Kämpfer im Stahlwerk von Mariupol mit einem Opfermythos bedacht werden wie die dreihundert Spartaner bei der Schlacht bei den Thermopylen 480 v. Chr., aber auch dann wird man keine Gesichter vor sich haben. Der Heldenhunger ist paradoxerweise gerade deshalb so gross, weil das Kriegsgeschehen gar keine Helden hervorbringt. Wer mobilisieren will, braucht Identifikationsfiguren. Also muss man selber mit viel Anstrengung Personal Stories finden beziehungsweise erfinden – und das ist nicht leicht. Wir wissen noch nicht, wie es ausgeht … Über das ein Urteil zu fällen, was in der Ukraine passiert, masse ich mir nicht an. In Deutschland trägt der Heroisierungssog zu einer Emotionalisierung von Politik bei, die Schritt für Schritt weiter in die militärische Eskalation hineinführt, auch wenn die Bundesregierung immer wieder betont, nicht zur Kriegspartei werden zu wollen. Wie wichtig ist für den Helden das Ende? Zynisch gesprochen, gilt für den Kriegshelden: Am besten ist er tot, das ist das Beste, was ihm passieren kann. Dann kann er sich nicht mehr blamieren, seine Geschichte ist abgeschlossen, und er kann in den Status der postumen Verehrung übergehen. Es gibt selbstverständlich auch Kriegshelden, die überleben und als Veteranen Anerkennung geniessen. Entscheidend ist das Ende für Diktatoren und starke Männer vom Schlage Putins, ihre Herrschaft endet selten mit einer friedlichen Machtübergabe an die nächste Generation oder an einen demokratisch gewählten Nachfolger. Diese Autokraten werden häufig gestürzt, und das ist für ihr Handeln nicht unwichtig. Es ist ja wiederholt kolportiert worden, dass Putin sich immer wieder die Bilder von Gaddafis Sturz in Tripolis angeschaut habe, wie dieser öffentlich umgebracht und dann geschändet wurde. Die Angst der starken Männer vom Schlage Putins ist, genauso zu enden. Das versuchen sie um jeden Preis zu verhindern. Mir sagte neulich jemand mit einem Stossseufzer: «Ach, diese alten Helden … Am Ende müssen sie alles kaputtschlagen …» Es gibt eine Tendenz zur Entgrenzung von Gewalt angesichts einer zu erwartenden Niederlage. Liest man Hitlers letzte Reden, dann findet man dort immer wieder die Aussage, dass Deutschland seinen Untergang verdient habe, wenn es nicht entschlossen genug kämpfe, um seine Feinde niederzuringen. Besonders wenn der Krieg zum metaphysischen Endgefecht hochstilisiert wird, bleibt zuweilen nur die Option der totalen Zerstörung um den Preis des eigenen Untergangs. Dabei geht es nicht um die Psychopathologie autokratischer Führergestalten, sondern um Eigendynamiken kollektiver Gewalt. Was ist wichtiger: die Heldentaten oder die Heldenerzählungen? Die Erzählungen! Ohne die Erzählungen sind die Taten nichts. Die Tat wird erst dann zu einer Heldentat, wenn sie als eine solche erzählt wird. Das Problem an Heldengeschichten ist, dass sie unendlich viel ausblenden müssen, um alles auf das Handeln der einen ausserordentlichen Gestalt herunterzubrechen. Ein Kollege von mir hat mal einen wunderbaren Aufsatz geschrieben über den Chemiker Louis Pasteur. Er hat rekonstruiert, wie die Taten dieses Wissenschaftsheros in der Wissenschaftsgeschichte bis hinein in den Comic und den Spielfilm erzählt wird: Da kommt der geniale Pasteur und handelt gegen alle damals herrschenden wissenschaftlichen Einsichten! Wer ihm zugearbeitet hat, welchen zeitlichen Vorlauf seine Forschungen hatten, all das bleibt unsichtbar. Wann wird eine Geschichte eine Heldengeschichte? Es gibt unendlich viele Taten, die das Zeug hätten, Heldengeschichten zu werden, es werden aber nur relativ wenige als solche erzählt. Als der Ukraine-Krieg losging, als die Corona-Pandemie begann, war zu erwarten, dass Heldengeschichten folgen werden. Es sind Krisenmomente, Momente grosser Verunsicherung, in denen man sich nach solchen Geschichten geradezu sehnt. Geschichten vom weissen Ritter, der sagt, wo es langgeht, und die Dinge zum Guten wendet. Obwohl man weiss, dass es ihn gar nicht geben kann. Heldengeschichten sollen trösten und Mut machen. Aber sie tragen eben auch dazu bei, sich etwas vorzumachen. Sie sagen: Bei Helden ist von Todesanzeigen ebenso abzusehen wie von Unsterblichkeitsbehauptungen … Es gibt die eher psychologische These, die behauptet: Menschen brauchen Helden und werden immer Helden haben. Damit wäre ich vorsichtig, denn dies ist nicht nur eine beschreibende Aussage, sondern meint immer auch: «Sie sollen welche haben», ist also durchaus normativ gemeint. Demgegenüber gibt es die Position: Helden, das sind doch Relikte aus vergangenen Zeiten, ein Überbleibsel. Die Helden sterben aus, und das ist auch gut so. Das wiederum scheint mir allzu optimistisch. Meine These ist, dass Heldengeschichten nicht zuletzt deshalb soziologisch interessant sind, weil sie Probleme anzeigen; an ihnen lässt sich ablesen, welche Zumutungen die jeweilige Gesellschaft den Einzelnen abverlangt. Es geht also um denjenigen, der an den Zumutungen leidet? Da sind wir beim Thema Opfer. Das muss nicht gleich der gefallene Soldat auf dem Schlachtfeld sein. Zumutungen können auch Frustrationen aufgrund sozialer Ungleichheit sein: Man arbeitet und arbeitet und schafft doch den sozialen Aufstieg nicht. Auch demokratische Gesellschaften verlangen ihren Mitgliedern eine Menge ab, wecken die Sehnsucht nach einem Zustand ohne diese Zumutungen. Da kommen dann die Heldengeschichten ins Spiel – sie bieten uns Ermächtigungs- und Ermutigungsgeschichten. Der Wunsch danach, dass die Malaise aufhören soll, ist ja nur allzu verständlich. Also versucht man sich selbst und einander Geschichten zu erzählen, in denen jemand das Ruder herumgerissen und eine schwierige Situation gemeistert hat. Wenn man solche Geschichten wiederum gegen den Strich liest, erfährt man, woran die Mitglieder einer Gesellschaft besonders leiden und wo sie sich wünschen, es möge aufhören. Anders gesagt: Ich glaube nicht, dass wir Heldengeschichten brauchen, aber wir werden sie nicht los. Sie sagen: Die Idee, Helden abzuschaffen, ist selbst eine Grössenfantasie... Das wäre ja der Gestus des Heroischen: Der eine grosse Move, und dann war es das! Aber das gibt es so nicht. Deshalb gehört zu den Heldengeschichten wie zur Kritik an den Heldengeschichten, dass sie sich immer wieder neuen Situationen stellen müssen. Mit den gesellschaftlichen Zumutungen ändern sich auch die Helden, die sie sichtbar machen. Das Heldische ist ein Chamäleon: Dass eine Greta Thunberg zur Heldin wird, daran wäre vor siebzig Jahren nicht zu denken gewesen. Bleibt der Held eine tragische Figur? Der tragische Held ist eine Variante; es gibt auch den triumphierenden Helden. Wenn individuelles wie kollektives Selbstopfer eingefordert werden, dann folgen daraus tragische Heldengeschichten. Vermutlich steckt auch in den Geschichten, die vordergründig von Triumphen erzählen, mehr Tragödie, als man beim ersten Blick bemerkt. Wenn ich an die griechische Tragödie denke, ist in ihr auch immer die kathartische wie entlastende Funktion enthalten: Indem ich als Teilnehmer oder als Zuschauer einen unlösbaren Konflikt auf der Bühne erlebe und ich mich davon bewegen lasse, verändert mich das. Ich erkenne meine eigenen, unlösbaren Schuldverstrickungen darin wieder – und kann trotzdem weiterleben. Gönnen Sie uns noch ein Resümee … Die Kraft von Heldengeschichten liegt nicht zuletzt darin, dass sie so spannend sind; dass sie einen hineinziehen – dass sie unterhaltsam sind und Suspense liefern. Das Schwierige an Heldengeschichten liegt nicht zuletzt darin, dass es so schwer ist, andere Geschichten zu erzählen oder die Geschichten anders zu erzählen. Nicht nur Geschichten von Kampf, Bewährung und Opfer. Das zu versuchen, ist die grosse Aufgabe. Ulrich Bröckling: «Postheroische Helden – ein Zeitbild», Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020, 278 Seiten, 25 Euro. |