MILIZDIENST FÜR ALLE
Ist das gerecht?
Matthias Keller, männer.ch «Frauen davon auszuschliessen, ist patriachal» Der Dachverband der progressiven Männer- und Väterorganisationen «männer.ch» unterstützt die Initiative «Service Citoyen». Vorstandsmitglied Matthias Keller will der Gleichstellung der Geschlechter auch durch Rechtsgleichheit zum Durchbruch verhelfen. Interview: Adrian Soller ERNST: Vor neun Jahren engagierte sich der Dachverband der Väter- und Männerorganisationen für die Aufhebung der Wehrpflicht. Jetzt unterstützt männer.ch die Volksinitiative für einen Service Citoyen. Wieso diese Wende? Matthias Keller: Es mag verwirren, dass wir uns erst gegen die Wehrpflicht – und jetzt für die allgemeine Dienstpflicht im Sinne von «Service Citoyen» aussprechen. Doch für uns kommt entweder keine Dienstpflicht oder Dienstpflicht für alle Geschlechter in Frage. Die einseitige Dienstpflicht der Männer interpretieren wir als rechtliche Diskriminierung wegen des biologischen Geschlechts. Die Initianten sprechen von einem «historischen Doppelschritt». Man will Zivildienst und Wehrpflicht gleichwertig behandeln, dafür aber auch Frauen in die Pflicht nehmen… Ja, das trifft auch unsere Sicht der Dinge, aus unserer Sicht ist es ein historischer Doppelschritt, eine progressive Forderung, die gesellschaftspolitisch viel bewirken kann. Auf der einen Seite hat die Gleichbehandlung von Zivildienst, Zivilschutz, Militär und anderen Einsatzmöglichkeiten an sich schon das Potential, stereotypisierte Geschlechterrollen aufzulösen, die Männer haben immerhin ein Anreiz, Sorgearbeit zu leisten statt zur Waffe zu greifen. Auf der anderen Seite sehen wir darin auch eine Chance, dass Frauen genauso Verantwortung übernehmen können für die Sicherheitsorgane der Schweiz. Denn diese Pflicht, mitzutun, ist auch ein Recht zur Teilhabe. Die Historikerin Elisabeth Jordis (siehe Seite 38) findet nachvollziehbarerweise: Frauen machen sonst schon genug. Immer wieder hört man auch, die Initiative ginge nur von einer formalen, nicht aber von einer faktischen Gleichstellung der Geschlechter aus. Ich verstehe das Argument, kann es sehr gut nachvollziehen. Auch innerhalb von männer.ch gibt und gab es diesbezüglich verschiedene Einschätzungen und rege Diskussionen. Frauen übernehmen noch immer einen viel grösseren Anteil der Sorgearbeit als Männer. Gleichstellung ist noch lange nicht erreicht. Es gibt noch viel zu tun. Und männer.ch tut vieles, ganz konkret. Mit dem nationalen Programm «MenCare Schweiz» setzen wir uns zur Förderung väterlichen Engagements und männlicher Care-Beiträge ein, wir engagieren uns für mehr Männer in der Kita, in der Primarschule und in sozialen Berufen, unterhalten Projekte, die Teilzeitarbeit für Männer fördern, bieten Vatercrashkurse und haben die Initiative für einen Vaterschaftsurlaub mitentwickelt. Für uns ist klar, dass wir die Männer, was Sorgearbeit anbelangt, mehr in die Pflicht nehmen müssen. Doch sollen wir wirklich warten, bis wir Sorgearbeit gerechter unter den Geschlechtern verteilt haben, bevor wir patriarchale Gesetze ändern? Sollen wir wirklich auf die gesellschaftliche Gleichstellung warten, bevor wir die rechtlich-formale Gleichstellung weitertreiben? Für mich ist klar: Die Initiative ist in Sachen Gleichstellung grundsätzlich mal eine Chance, kein Hemmschuh. Zieht man an einer Ecke, kann schliesslich das ganze Tischtuch in Bewegung kommen. Und doch propagieren Frauenorganisationen: «Keine neuen Pflichten ohne neue Rechte.» Wir stehen gesellschaftlich an einem Punkt, wo wir rechtliche Gleichstellung zwischen Mann und Frau nahezu erreicht haben. Und hier wiederhole ich mich gerne: Das heisst nicht, dass wir gesellschaftliche Gleichstellung erreicht haben, das nicht, das noch lange nicht. Doch formal-rechtlich haben wir sie nahezu erreicht. Darum frage ich mich schon, von welchen «neuen Rechten» man denn heute noch spricht? Klar ist es nicht gut, dass wir noch immer eine unerklärte Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern haben, klar müssen wir als Gesellschaft das ändern. Doch das ist ein komplexes Problem, das rein rechtlich kaum zu lösen ist. Anders sieht es übrigens bei unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ohne Schweizer Pass aus. Dort greift die Milizidee nicht. Menschen, die kein Recht auf Teilhabe in unserem politischen System haben, dürfen wir nicht zum Milizdienst verpflichten. Rechte und Pflichten müssen miteinander einhergehen. Für alle anderen wäre allerdings, unserer Meinung nach, die Zeit reif, weil die Gesellschaft als Ganzes gewinnen wird. Auch wenn kulturelle Gleichstellung, wie gesagt, noch lange nicht erreicht ist. Hilft eine gesetzliche Gleichstellung denn wirklich dabei, kulturelle Gleichstellung zu erreichen? Gesetze zu ändern allein reicht sicher nicht aus. Doch Gesetze zu ändern hilft vielleicht dabei, Gewohnheiten zu ändern. Ich weiss noch, wie undenkbar es für mich dereinst war, eine Maske im öffentlichen Verkehr zu tragen. Heute habe ich mich daran gewöhnt, weil ich mich daran gewöhnen musste. Und vor allem ist es halt schon auch etwas ein Totschläger-Argument, zu sagen: «So lange wir keine gesellschaftliche Gleichstellung haben, arbeiten wir nicht an der rechtlichen Gleichstellung weiter, solange wir nichts Neues haben, gehen wir auf nichts Neues ein.» Mit diesem Argument blockieren wir jegliche Entwicklungsmöglichkeit. Die Initiative bietet immerhin die Chance, junge Männer für Sorgearbeit zu gewinnen. Da ist doch durchaus eine Art Kaskade denkbar: Männer lernen im Rahmen des Service Citoyen den Wert der Sorgearbeit kennen und engagieren sich danach auch im privaten Bereich mehr, entschliessen sich vielleicht gerade auch wegen ihrer Erfahrung während dem Zivildiensteinsatz zur Teilzeitarbeit. Die Initiative könnte eine Dynamik auslösen. Aus unserer Sicht ist es nicht mehr zeitgemäss, die Rollen – rechtlich – so zu verteilen, dass Frauen zu Hause den Haushalt organisieren müssen, während die Männer mit dem Gewehr in der Hand auf Zielscheiben schiessen, sondern eben für alle Geschlechter alles möglich ist. Letztlich hat sich im Vorstand und in der Mitgliederversammlung von männer.ch in allen Abwägungen die Überzeugung durchgesetzt, dass der Vorstoss für eine allgemeine Dienstpflicht geeignet ist, eine verkrustete Diskussion aufzubrechen und neu zu beleben. Ob die Frauenrente, Witwenrente oder Zivildienstinitiative: Wo der gesetzliche Gleichstellungsprozess einen Nachteil für die Frauen mit sich bringt, begehren Frauenorganisationen auf, verständlicherweise. Es ist wichtig, dass man aufbegehrt, wo man sich benachteiligt sieht. Und ebenso wichtig ist es, eine gesamtgesellschaftliche Sicht auf die Dinge zu pflegen. Hinter den Forderungen, dass Frauen weniger lange arbeiten sollen als Männer, kein Stimmrecht haben sollten und keine Wehrpflicht zu leisten haben, stecken dieselben patriarchalen Ideen: Die Frau soll sich kümmern, der Mann soll versorgen und beschützen. Grundsätzlich tun wir als Gesellschaft gut daran, all diese veralteten Gesetzgebungen anzupassen. Der Gesetzgeber sollte Frauen und Männer grundsätzlich gleichbehandeln. Klar gibt es biologische Unterschiede wie die Schwangerschaft, die weiterhin zu berücksichtigen sind. Doch darüber hinaus müssen wir uns schon fragen, ob eine gesetzliche Ungleichbehandlung der Geschlechter heute noch Sinn macht. Elisabeth Joris, Historikerin «Frauen leisten schon genug!» Die Historikerin Elisabeth Joris sieht im MiIizdienst für alle höchstens eine formale Gleichstellung, nicht aber eine gesellschaftliche. Interview: Giulia Bernardi ERNST: Elisabeth Joris, die Initiative «Service Citoyen» fordert, dass alle Schweizer Bürgerinnen und Bürger einen Einsatz im Zivildienst, -schutz oder Militär leisten. Die Initiative sorge «für die Gleichstellung aller Geschlechter beim Dienst an der Gesellschaft». Was halten Sie von dieser Begründung? Elisabeth Joris: Die Initiative greift eine Debatte auf, die es schon lange gibt. Im März 1957, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, fand die Abstimmung über die «Einführung der obligatorischen Schutzdienstpflicht weiblicher Personen» statt. «Keine neuen Pflichten ohne Rechte», protestierten Frauenorganisationen und Frauenrechtlerinnen vor dem Referendum. Als 1971 das Frauenstimmrecht angenommen wurde, entbrannte die Diskussion erneut. Diesmal mit der Begründung, dass formale Gleichstellung erreicht sei und auch Frauen folglich eine Wehrpflicht leisten sollten. Während ein Teil der älteren Frauenrechtlerinnen nun für dieses Postulat eintraten, wehrte sich insbesondere die neue feministische Bewegung vehement dagegen. Ähnlich wie heute ging es nicht um Gleichstellung, sondern um einen Vorschlag, der von einem patriarchalen und männlichen Verständnis von Sicherheit unter Vorherrschaft des Militärs geprägt war. Unerwähnt lässt das Initiativkomitee etwa die unbezahlte Sorgearbeit… Ja, diesen Aspekt denkt die Initiative nicht mit. Laut dem Bundesamt für Statistik leisten Frauen immer noch einen weit bedeutenderen Teil der unbezahlten Sorgearbeit als die Männer. Indem die Initiative diese Arbeit nicht als unverzichtbaren Dienst an der Gesellschaft anerkennt, wird klar, dass hier die Initiantinnen und Initianten von einer formalen und nicht von einer gesellschaftlichen, respektive faktischen Gleichstellung ausgehen. Dass Gleichberechtigung bereits erreicht sei, ist ein rekurrierendes Narrativ. Auch in der medialen Debatte um die Initiative sprechen die Journalistinnen und Journalisten oft von der «Pflicht für Männer» und der «Freiheit für Frauen». Die Aufhebung der männlichen Wehrpflicht wird somit als wichtiger Schritt in Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter deklariert. Was für ein Verständnis von Gleichberechtigung liegt diesem Ansatz zugrunde? Diese Frage begleitet mich als Historikerin seit langem. Die Schweiz zeichnet sich durch ein ausgeprägtes Fortschrittsnarrativ aus und blendet systemische Widersprüche aus. Zugespitzt formuliert: Wir haben das Frauenstimmrecht eingeführt, also sind wir alle gleichberechtigt. Damit einher geht ein Verständnis, dass Pflichten und Rechte miteinander verknüpft sind. So diente das Argument, Frauen leisteten keinen Militärdienst, sehr lange als Begründung für die Verweigerung des Stimmrechts. Dabei wird ignoriert, dass es Grundrechte gibt, die nicht an Pflichten gebunden sind, sondern allen Menschen zustehen. Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter als Teil der Menschenrechte ist ein solches Recht. Laut Noémie Roten, Co-Präsidentin des Initiativkomitees, breche der «Service Citoyen» patriarchal geprägte Vorstellungen von «Männer an der Waffe» und «Frauen am Herd» auf. Ausserdem ist sie der Meinung, dass die Initiative nicht-militärisches Engagement aufwertet und auch für Männer den Anreiz schafft, mehr Care-Arbeit zu übernehmen. Was halten Sie von dieser Aussage? Das patriarchale Verständnis von männlich und weiblich konnotierten Sphären ist trotz Auflockerung noch immer wirkmächtig. Ich denke, dass man Frauen mit der Einführung des «Service Citoyen» weiterhin häufiger als Männer im Bereich der sozialen Arbeit und seltener als Männer im Militär antreffen wird. Das, was Frauen heute schon gratis machen, übernehmen sie auch im Rahmen einer Dienstpflicht. Denn die Frage bleibt, wo Frauen etwas zu suchen haben und wo nicht, was damit einhergeht, mit welchen Aufgaben sich Männer identifizieren. Aktuell herrscht Personalmangel ist der Schweizer Armee. Stellt der «Service Citoyen» einen Versuch dar, diesen zu beheben? Schon heute wird diskutiert, wie man den Zugang zum Zivildienst für Männer erschweren könnte, um das Personalproblem in der Armee zu lösen. Denn diese Wehrpflicht hat nicht mehr den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert wie noch vor vierzig Jahren. Eine Position als Offizier ist im Gegensatz zu früher heute nicht mehr wichtig für eine wirtschaftliche Karriere, eine berufliche Karriere hat Vorrang vor der militärischen. Was mich stört: Die Initiative will hier noch immer eine Priorisierung der Armee, indem sie deren Sollbestände garantiert. Liesse sich die Wehrpflicht nicht einfach abschaffen? Grundsätzlich bin ich für die Demilitarisierung der Schweiz, aber das ist eine andere Diskussion. Fest steht, dass wir Sicherheit anders denken müssen. Wir sind aktuell mit gesamtgesellschaftlichen Sicherheitsproblemen konfrontiert, die viel dringlicher sind als die Frage, ob wir die Sollbestände im Militär aufrechterhalten sollten: Damit meine ich etwa Absicherungen, damit sich die Schere zwischen Reichen und Armen nicht weiter öffnet, die Vergiftung der Umwelt oder die Klimakrise, aber auch die Energieversorgung und die Gefahren der Digitalisierung. Positiv an der Initiative scheint mir, dass sich der Fokus von der Erwerbsarbeit hin zu ökologischen und sozialen Engagements verschiebt. Hat die Initiative das Potential, ein gemeinschaftliches und solidarisches Verständnis von Gesellschaft zu fördern? Ich lehne die allgemeine Dienstpflicht nicht grundsätzlich ab. Aber die unbezahlte Sorgearbeit müsste man miteinbeziehen. Diese Kontextualisierung ist entscheidend und könnte auch durch die gegenwärtige Politisierung der Care-Arbeit begünstigt werden. Bei der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht stellt sich auch die Frage, ob Männer im Umkehrschluss im privaten Bereich zu Sorgearbeit verpflichtet werden sollten. Aktuell unterstützen 67 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer eine Dienstpflicht für Frauen und Männer. Wie erklären Sie sich die hohe Zustimmung? Positiv gedeutet heisst dies, dass die Mehrheit einerseits das Engagement für das Gemeinwohl bejaht. Anderseits ist es alles andere als klar, wie die Unterstützung bei einer Konkretisierung der Initiative aussehen würde. Wäre ein freiwilliger Dienst ebenfalls eine Option, wie es etwa Samuel Zbinden der Jungen Grünen vorschlägt? Eher nicht. Ich denke, dass es durchaus Sinn macht, gewisse Pflichten festzuschreiben, da sonst alles beim Ist-Zustand bleibt, beziehungsweise, dass Frauen vielleicht noch mehr Sorgearbeit übernehmen als heute, Männer aber weiterhin die Erwerbsarbeit priorisieren. Warum ist das Verständnis von «Citoyen» in der Initiative nach wie vor an die Staatsbürgerinnenschaft gekoppelt? Das liegt an der Wehrpflicht, die nach wie vor national gedacht ist und eine Schweizer Staatsbürgerinnenschaft voraussetzt. Eigentlich ist es nicht logisch, dass Zivildienst oder -schutz nur Schweizerinnen und Schweizer zugunsten der Gesamtgesellschaft verrichten. Der Begriff «Citoyen» ist Ausdruck einer partizipativen Gesellschaft. Im Hinblick darauf, dass alle Erwerbstätigen die AHV finanzieren und diese allen zu Gute kommt, unabhängig von der Staatsbürgerschaft, würde sich eine Diskussion darüber lohnen, wie wir «Citoyenneté» im Sinne von Partizipation, Solidarität, Rechte und Pflichte verstehen. Denn rund ein Viertel der Bevölkerung – jenes ohne Schweizer Pass – ist nicht nur von diesem Dienstpflichtmodell ausgeschlossen, sondern es fehlt den «Ausländerinnen und Ausländern» die zentrale Grundlage zur Partizipation: das Stimm- und Wahlrecht. |