«Wir waren zermürbt vom ewigen hin und her» |
Margit Sprecher im Interview über ihre Recherche zum Fall Relotius.»
Interview: Dennis Bühler
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ERNST: Sie haben ein Buch geschrieben, das nicht erscheinen darf. Stört Sie das?
Margit Sprecher: Klar. Den Frust gemildert hat nur, dass ich Verluste jeglicher Art ziemlich leicht wegstecke. Zudem weiss ich nach zwölf Büchern inzwischen: Das Schönste, Interessanteste und Spannendste am Bücherschreiben ist das Recherchieren und Formulieren, das Hineintasten ins Unbekannte, das Erleben einer neuen Welt. Ist das Buch mal draussen, beginnt es ein Eigenleben, das immer kürzer wird. Mittlerweile wird es schon nach wenigen Wochen von der Flut der Neuerscheinungen aus Buchhandlungen, Besprechungen und Bewusstsein verdrängt. Ihr Buch handelt von Claas Relotius, der zunächst freischaffend für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und danach für den «Spiegel» Dutzende Reportagen verfasst hat, die teilweise oder sogar vollständig erfunden waren. Warum wollten Sie über ihn schreiben? Erstens handelte es sich um den grössten Medien-Betrugsskandal des 21. Jahrhunderts. Zweitens beschimpfte ihn die ganze Welt als machtgeilen Karrieristen, skrupellosen Fälscher und monströsen Lügner, ohne je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Besonders störend empfand ich den schicksalsdräuenden Ton und das eifernde Tugendwächtertum der Artikel, diese allzeit bereite Empörungswut. Dabei konnte niemand schreiben, warum Relotius zum Fälscher wurde, weil er sich versteckt hielt. Wie lockten Sie ihn aus seinem Versteck? Das mussten wir gar nicht, weil Relotius zwei Jahre nach dem Auffliegen des Skandals von sich aus Daniel Puntas Bernet anrief, den Herausgeber und Chefredaktor von Reportagen, und uns treffen wollte – für uns ein journalistischer Glücksfall. Gleichzeitig empfanden wir diese Chance aber auch als Aufgabe: Jemand musste ihm eine Stimme geben, ihm erstmals Gelegenheit bieten, sein Tun zu erklären. Dazu kamen die Thriller-Qualitäten der Story: Wie hatte es dieser bescheidene, junge Mann aus einem kleinen Dorf bei Hamburg geschafft, nicht nur das grösste europäische Nachrichtenmagazin samt seiner legendären Dokumentationsabteilung zu überlisten, sondern auch die renommiertesten Blätter in Deutschland und der Schweiz, von der FAZ bis zur NZZ? Wann war für Sie klar, dass Ihr Text nicht gedruckt werden würde? Ich hab bis zum Schluss daran geglaubt, dass sich die monatelange Arbeit irgendwie retten liess. Dass ein Kompromiss zwischen Relotius’ Vorstellungen und meiner Art zu schreiben möglich sei. Aus diesem Grund habe ich das Manus auch zwei Mal völlig umgeschrieben. Die erste Version war eine lange Reportage, in der sich Begegnungsszenen mit Interviewpassagen abwechselten, Gespräche mit Relotius, seiner Freundin, seinem Psychiater und ehemaligen «Spiegel»-Kollegen. Das alles rundete ich ab mit Überlegungen zum Wesen der Reportage, dem Begriff «Das Erfinden der Wahrheit» und historischen Fälscherbeispielen. Doch Relotius legte sein Veto ein. Ihm die ersten hundert Seiten Rohversion zu schicken, war für uns, obwohl keine Vereinbarung bestand, selbstverständlich. Schliesslich handelte es sich um sein Coming out als psychisch gestörter Mensch. Relotius war schockiert. Der grosse Storyteller wollte keinesfalls ein Storytelling. Er verbat sich alle szenischen Reportageeinsprengsel und, noch schlimmer, alles Persönliche. Weder seine Familie und sein Psychiater noch seine Freundin und Fussballkollegen durften erwähnt werden, selbst sein Dorf war tabu. Und überhaupt sei alles bisher Gesagte rein privater Natur. Unsere 24 Stunden Tonband-Protokolle sah er als reines Vorgeplänkel, das uns erlaubte, jetzt die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Verstehen Sie sein Verhalten? Nach dem Auffliegen des Skandals stand sein Leben fast drei Jahre still. Er musste einen Weg zurück in die Welt finden, und das schaffte er, dies meine Vermutung, nur mit der Neuerfindung der Figur Relotius. Zweifellos schwebte ihm eine psychologisch hochinteressante Fallstudie eines jungen Reporters vor, der von seinen inneren Dämonen getrieben zur einsamen, geheimnisumwitterten Gestalt wurde, die für niemanden erreichbar und nicht von dieser Welt war. Deshalb, so denke ich, blieb für uns auch alles Konkrete – Herkunft, Leben, Freunde – tabu, was ihn erklär- und fassbarer gemacht hätte. Hat Relotius Ihnen untersagt, das Buch zu veröffentlichen? Von Verbot war nie die Rede. Relotius liess uns einfach wissen: Verlief das Projekt nicht nach seinen Wünschen, war er an einer weiteren Zusammenarbeit nicht mehr interessiert. Darauf kam es zu einer mehrwöchigen gegenseitigen Funkpause. Wir waren zermürbt vom ewigen Hin und Her und seinen Lenkungsversuchen; er suchte, so nahmen wir an, willfährigere Schreiber für sein Werk. Schliesslich liess er uns Ende 2020 wissen: Die einzige verbliebene Möglichkeit einer Zusammenarbeit sei für ihn ein langes Interview. Wir hatten inzwischen schon so viel Zeit und Energie in das Projekt R. investiert, dass wir retten wollten, was zu retten war. Ist dieses Anfang Juni erschienene Interview ein valabler Ersatz für Ihr nicht gedrucktes Buch? Als Daniel das Interview online stellte, wurde es schon in den ersten Stunden 40 000 mal angeklickt. Diese Auflage und Aufmerksamkeit hätte ein Buch wohl kaum erreicht. Aber natürlich machte das Interview Relotius nicht so erfahrbar, wie das der Buchtext getan hätte. Denn alle Fragen drehten sich, auf Relotius’ Wunsch, praktisch ausschliesslich um seine psychischen Probleme. Auch fehlt die ganze Sinnlichkeit der Begegnungen und die Prise Ironie, die für die nötige Distanz sorgen sollte. In der ersten Buchfassung irrten Daniel und ich als naive Schweizer Journalisten monatelang hilflos durch Relotius‘ Lügenwelt, zweifelten immer wieder sowohl an ihm wie an uns und ahnten düster: Relotius hat uns längst in der Tasche. Bei einem Interview behält der Interviewte die Kontrolle über seine Aussagen, da diese – anders als bei einem Buch – von der Journalistin höchstens mittels kritischer Nachfragen eingeordnet werden können. Hat Relotius deshalb einem Interview zugestimmt, nicht aber einem Buch? Ganz klar. Relotius kannte den journalistischen Standard, dass der Interviewte seine Antworten nach Belieben ändern oder gar streichen kann. Die Interviewform ermöglichte ihm, die Kontrolle zu behalten, so wie er auch im Leben überall die Kontrolle zu behalten versuchte. Die «WOZ» hat Sie für die gewählte Form kritisiert. «Gerade das Interview, das mit dem O-Ton Authentizität suggeriert, hat immer auch etwas sehr Fiktives», schrieb sie und begründete das damit, dass bei dieser journalistischen Form ein oder gar mehrere ausführliche Gespräche zu wenigen Aussagen kondensiert würden, die der Interviewte beim Gegenlesen noch einmal anpassen könne. Können Sie diese Kritik nachvollziehen? Sicher. Wobei natürlich keine journalistische Form absolute Objektivität garantiert. Auch die seriöseste Reportage bleibt immer eine Momentaufnahme. Denn welche Bilder und Worte Eingang in eine Reportage oder ein Porträt findern, hängt ganz von den Augen, Ohren und der Tagesform der Interviewenden und der Porträtierten ab. Im Interview erklärte Relotius, er leide unter einer schweren psychotischen Störung und habe verzweifelt versucht, deren Auswirkungen durch «hemmungsloses Schreiben» zu entgehen. Glauben Sie ihm? Vor dem ersten Treffen war ich überzeugt: Aha, der neuste, geniale Trick eines notorischen Betrügers, über dessen Erfindungsgabe beim Vertuschen einer Lüge schon die Kollegen vom «Spiegel» gestaunt hatten. Psychotische Störungen machten ihn schlagartig vom Täter zum Opfer. Nach dem ersten Interview in Hamburg dann war mir egal, ob er wirklich krank war. Dieser Mensch war so sympathisch, bescheiden und sensibel, dass er eine zweite Chance verdiente. Mit nur dreiunddreissig Jahren hatte er alles verloren und keine Zukunft mehr in seinem Beruf, der ihm alles bedeutete. Im Laufe des Jahres, der Interviews und seiner E-Mails wurde mein Glauben an seine Krankheit mal stärker, mal schwächer. Es gab Tage, da schien mir seine Störung tatsächlich der Schlüssel zu allem. An anderen Tagen fühlte ich mich als blosse Marionette eines Spielers, der mich nach Lust und Laune zappeln liess. Haben Sie sich deshalb dazu entschieden, nicht nur Relotius zu befragen, sondern auch Expertinnen und Experten? Ja. Nur konnten uns auch sie nicht weiterhelfen, da sie völlig uneinig waren. Ein Psychiater schrieb, dass Relotius zweifellos von sozialen Ängsten getrieben sei. Für einen Kriminalisten war er der klassische Hochstapler, der seinen Charme gezielt einsetzt, um Menschen zu manipulieren. Der Chefarzt einer Psychiatrischen Klinik dagegen attestierte ihm zweifelsfrei eine psychische Störung, wollte sich aber bezüglich Krankheitsgrad nicht festlegen. Selbst in den Krankenakten der Klinik, wo er nach dem Skandal Zuflucht gefunden hatte, stand keine genaue Diagnose. Sie kannten Relotius und sein Schaffen seit langem und waren als Jurorin im Jahr 2013 sogar am Entscheid beteiligt gewesen, ihn zum ersten von insgesamt vier Malen mit dem renommierten Deutschen Reporterpreis auszuzeichnen. Fühlten Sie sich von ihm hintergangen? Hintergangen ist das falsche Wort. Es gab schlicht zu viele hochkarätige Betrogene, um den Betrug persönlich zu nehmen. Eher fühlte ich mich so getroffen, wie man es bei einem Kriminalfall in der eigenen Familie ist. Im Laufe der Recherchen wuchs dann sogar mein Verständnis für ihn. Der Druck der schwächelnden Printmedien auf ihre Reporter, eine sensationelle Story heimzubringen, wird immer stärker. Da hilft dann eben mancher – und nicht nur Relotius – ein bisschen nach. Besonders, wenn die Stossrichtung des Stücks schon von der Redaktion vorgegeben ist und man zum braven Erfüllungsgehilfen wird. Relotius sagte Ihnen, er habe «in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht». Sie sind eine der bekanntesten Reportage-Schreiberinnen der Schweiz. Was halten Sie von Relotius’ Reportage-Verständnis? Wie absurd sein Glaube – vor allem als Reporter eines Nachrichtenmagazins – ist, hat er ja inzwischen selbst zugegeben. Denn natürlich sind Fakten die Grundlage jeder Reportage. Oder wie es Reporterlegende Egon Erwin Kisch formulierte: «Uns ist zum Tanz nur der schmale Steg der Tatsachen frei gegeben.» Wobei gerade in dieser Beschränkung ein ähnlicher Reiz liegt, wie im Kreieren eines Fünfsterngerichts aus den im Kühlschrank vorgefundenen Resten. Trotzdem glaube ich – ein Stück weit – an Relotius’ Naivität. Er hatte mit seinen Konstrukten schlicht zu grossen Erfolg. Denn je grösser das Weltchaos ist, desto stärker sehnt sich die Leserschaft nach schönen, runden Reportagen, die alles Komplizierte ganz einfach erscheinen und keine Frage unbeantwortet lassen. Selbst Angela Merkel bekannte, bei einer Relotius-Story geweint zu haben. Zurück zu Ihrem Buch, das wir leider nicht werden lesen dürfen. Wie viel Zeit haben Sie in dieses Werk investiert? Alles in allem ein Jahr, wenn auch nicht ununterbrochen. Doch im Hinterkopf rumorte das Thema ständig, und die Stapel an Relotius-Unterlagen nahmen immer mehr Raum auf meinem Schreibtisch ein. Dazu kam die Unsicherheit. Immer wieder liess uns Relotius wissen, dass die Zusammenarbeit noch keineswegs fest beschlossene Sache sei. Wirklich frei jedenfalls war mein Kopf für keine andere Arbeit. Wie schnell kamen Sie voran? Die erste Version – 120 000 Zeichen – ging relativ flott über die Bühne. Ich war in meinem Element, der Reportage mit ihren szenischen Eindrücken, und auch das Interesse eines Berliner Verlags wirkte beflügelnd. Als ich einsehen musste, dass mit Relotius eine solche Aufarbeitung unmöglich sein würde, schrieb ich eine zweite Version, die ohne alle O-Töne auskam, sämtliche Namen wegliess, nichts Persönliches mehr enthielt, alles Wichtige in den Lauftext packte. Diese Version schickte ich an den Verlag. Wie fühlten Sie sich dabei? Diese zweite Version, das Verschwindenlassen aller O-Töne in einen Lauftext und Ausradieren von Orten und Personen, war eine Qual. Alles Interessante und Farbige – weg! Das Ganze – dünn und dürr. Wie viele Menschen haben das Manuskript gelesen? Version 1: nur Relotius und seine Freundin. Die gestrippte Version 2 ging dann an den Verlag. Dessen Absage erstaunte mich nicht. Wenn kein einziger gesprochener Satz zitiert werden darf, ist das wie ein Film ohne Ton. Denken Sie, dass Ihr Buch dereinst doch noch veröffentlicht und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden wird? Ich glaube nicht, dass Relotius noch immer eine breite Leserschaft interessiert. Schon im vergangenen Jahr wurden Daniel und ich von Branchenfremden häufig unterbrochen: «Relotius – who?» Aber irgendwie musste ich persönlich mit dieser Geschichte abschliessen. Ich tat es mit einem «Making-of» in den Branchenmagazinen «Schweizer Journalist:in», «Medium» und «Kress-Report». Wenigstens ansatzweise wollte ich zeigen, wie schwierig der Spagat zwischen Relotius’ Vorstellungen und unseren journalistischen Grundsätzen gewesen war. Das Stück sollte auch aufzeigen, dass wir weit mehr als ein Relotius-Psychoporträt im Sinn hatten, sondern auch ein Zeitdokument und Lehrstück schaffen wollten. Nach der Veröffentlichung im Juni 2021 meldete sich übrigens prompt Relotius’ Hamburger Anwalt bei Johann Oberauer, dem Verleger des Magazins «Schweizer Journalist:in». Im Juli 2021 dann habe ich alle Relotius-Unterlagen gebündelt und der Papiersammlung übergeben. Das Gefühl der Erleichterung war gross. 85-jährig ist die Bündner Journalistin und Schriftstellerin Margrit Sprecher inzwischen – doch quicklebendig und beruflich aktiver als manch junger Autor, der ihr Enkel sein könnte. Nach ihrer Ausbildung zur Dolmetscherin arbeitete sie fünfzehn Jahre lang für die Frauenzeitschrift «Elle», bevor sie in den Achtzigerjahren zunächst zum «Züri Leu» und dann zur «Weltwoche» wechselte, bei der sie das Frauenressort aufbaute und später das daraus hervorgegangene Gesellschaftsressort leitete. Seit ihrer Pensionierung im Jahr 2003 arbeitet Sprecher als freie Journalistin unter anderem für «Die Zeit», «NZZ Folio» und «Reportagen». Zuletzt erschien von ihr Ende August 2021 in der «NZZ am Sonntag» ein grosses Porträt des vor bald dreissig Jahren verstorbenen Autors und Rebellen Niklaus Meienberg. Sprecher schrieb zwölf Bücher – zuletzt 2020 den Reportageband «Irrland» – und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Joseph-Roth-Preis, den Zürcher Journalistenpreis, den Bündner Literaturpreis sowie den Graffenried Lifetime Achievement Award. |