«In meinem Atelier
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Für die Robert-Walser-Preisträgerin ist klar: Schreiben hört nicht auf, wenn man den Schreibtisch verlässt.»
Interview: Anna Pieger
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ERNST: Wie bist du zum Schreiben gekommen?
Gianna Molinari: Ich habe als Kind schon Büchlein mit Zeichengeschichten gemacht und das hat sich nie verändert. Ich habe immer gerne gezeichnet und so Geschichten erzählt. Ins «Schreiben-Schreiben» bin ich während und nach der Schule gekommen. Ich wollte erst zum Theater, mein Traumberuf war Regisseurin, und ich habe auch Praktika gemacht in diese Richtung und habe dann gemerkt, nein, ich möchte schreiben, ich möchte näher zum Text. Dann habe ich vom Literaturinstitut gehört, und mir war sofort klar, dass ich da hinwollte. Die Idee, dass Schreiben auch ein Beruf sein kann, dass man das ja wirklich auch den ganzen Tag machen kann, das habe ich erst da wirklich verstanden, als ich mit Menschen in Kontakt kam, die auch schreiben, die das als Beruf haben, wie die Dozierenden. Da ging dann eine ganz andere Welt auf. Wie sah dein Studienalltag am Literaturinstitut aus? Für mich war es eine wichtige und intensive Zeit. Die Tage ähneln sich in dem Sinne nicht, aber ein wichtiger Aspekt war das Mentorat, das ich bei Ruth Schweikert gemacht habe, und das nahm über die drei Jahre immer mehr Raum ein. Für mich prägend war auch der Austausch mit den anderen Studierenden. Wir waren eine sehr enge Gruppe, ich habe zwei Jahre lang in Biel mit Leuten aus der Klasse zusammengewohnt. Alles was da neben dem Studium noch lief, wo man auch viel über Literatur gesprochen hat, war ein ganz wichtiger Teil dieser Ausbildung. Hattest du nach dem Abschluss den Eindruck, nun «fertig gebackene» Autorin zu sein? Nein, das ist natürlich nicht so. Das Literaturinstitut ist ein geschützter Rahmen, in dem man sich bewegt, in dem man immer ungefähr weiss, wo man ist. Wenn man da rauskommt, beginnt etwas ganz Neues, diese Schutzhülle ist weg und zumindest musste ich mir dann schon neu überlegen: «Wie stelle ich das jetzt an? Wie gehe ich weiter mit dem Schreiben?» Für mich war aber ganz klar, dass es weiterhin der Hauptbestandteil meiner Tage sein wird, was es dann auch war, neben dem Studium, das ich dann begonnen habe. Und ja, man muss sich dann ein bisschen neu finden mit dem Schreiben, wieder einen anderen Rhythmus etablieren, sich auch überlegen: «Woher bekomme ich jetzt diesen Austausch?» Da hatte ich dann das Glück, dass ich im Literarischen Colloquium in Berlin, wo es eine Prosawerkstatt gibt, weiter am Text gearbeitet habe im Austausch mit anderen. Zudem bestehen die Freundschaften aus dem Literaturinstitut bis heute weiter, Schreibfreundschaften, bei denen man sich Texte zeigt und gegenliest; ein Stück weit auch begleitet, was so passiert, manchmal näher, manchmal weiter aus der Ferne. Was hat dich dazu bewogen, nach dem Literaturinstitut noch ein Masterstudium in neuerer deutscher Literaturwissenschaft anzuhängen, also noch mehr auf die theoretische Ebene zu gehen? Es war ein Stück weit die Frage: Wie verdient man sein Geld? Die wenigsten können vom Schreiben leben, es ist allgemein so, dass sich von vielen Kunstsparten schlecht ein Alltag meistern lässt. Da gab es bei mir auch sehr rationale Gründe. Ich habe mir überlegt, welcher Arbeit man neben dem Schreiben nachgehen kann, und da lag dieses Studium nahe. Die deutsche Fakultät der Uni Lausanne ist interessiert an lebenden Autoren, sie sind sehr nahe an der aktuellen Schweizer Literatur, und das war mit ein Grund, warum ich das dann gemacht habe. Es sind gute Leute dort und das Studium hat sehr viel Spass gemacht. Lebst du nur vom Schreiben? Ich versuche das neuerdings. Der Job bei den Solothurner Literaturtagen war mein Brotjob, das habe ich jetzt sechs Jahre lang gemacht. Das hat wirklich sehr, sehr viel Spass gemacht und ist eine grossartige Arbeit, gerade auch neben dem Schreiben, das dann doch eher eine einsame Arbeit ist, im Gegensatz zu einer Festivalorganisation. Ich mochte es sehr, diese beiden Dinge zu haben, die mir beide sehr liegen, die Teamarbeit, das Organisieren und Machen unter Zeitdruck und als Kontrast das eher gemächliche Tempo des Schreibens. So habe ich mein Geld verdient, dann aber gemerkt: Ich brauche wieder mehr Zeit für das Schreiben. Ich bin auch keine Schreiberin, die nach einem Arbeitstag in Solothurn noch zwei Stunden schreibt. Ich brauche drei, vier Tage am Stück, damit ich reinkomme und schreiben kann; bei den Figuren, beim Text und bei der Sprache bin. Was wären deine Idealbedingungen für das Schreiben? Unterschiedliche, jede Schreibphase an einem Roman braucht andere Bedingungen. Ein Stipendium gibt unheimlich viel Freiheit an Zeit und Raum, auch im Denken. Glücklicherweise habe ich eines bekommen und bin ganz glücklich darüber. Das macht viel aus, wenn man weiss, man muss jetzt nicht dem Geld nachrennen, sondern was man tut, ist in dem Sinne auch finanziell wertgeschätzt. Man hat da viel Raum und Zeit, das zu tun, woran man arbeitet und denkt. Ganz weggehen ist für mich immer ganz wichtig, weil die kleinen sozialen Alltagsfallen dann weg sind und man sich wirklich auf den Text, das Schreiben und den Rhythmus einlassen kann. Ich mag es aber schon am liebsten, im Atelier zu schreiben, weil es da am klarsten definiert ist, dass das der Raum zum Schreiben ist. Ich habe ein Atelier in Zürich, das ist sehr viel wert, dass man aus dem Alltagswohnraum herauskommt. Der Weg ins Atelier, aber vor allem auch zurück nach Hause ist zentral; dass man Dinge auch liegenlassen kann und am nächsten Tag wieder da einsetzen kann, wo man sie liegengelassen hat. Es ist ein guter Ort, weil ich ihn mir so eingerichtet habe, dass er gut ist. Manchmal weiss man ja auch gar nicht, woran es liegt, dass es an einem Ort eine gute Schreibstimmung gibt. Es sind manchmal kleine Dinge, die gut tun fürs Schreiben. Im Atelier zum Beispiel habe ich einen Stein, den finde ich super. Es ist gut, wenn der da ist. Oder ich habe ein Bild hinter mir, das ich gerne mag. Solche Dinge gehören auch zu diesem Schreibraum dazu. Ich kann aber an vielen Orten schreiben, in unserem Ferienhaus im Elsass oder vor ein paar Wochen war ich in der Cima Città, einem Ort für Künstlerinnen und Künstler im Tessin, zum Schreiben, diese Ortswechsel tun mir im Schreiben gut. Und sonst sind es eigene Rituale für das Schreiben, die man entwickelt, bei denen es gut ist, wenn man die ausleben kann. Bei mir ist das zum Beispiel der Morgen. Ich schreibe am liebsten am Morgen, wenn ich noch gar nicht viel geredet habe. Es gibt auch Stunden am Tag, da weiss ich, da geht gar nichts, da muss ich gar nicht erst versuchen zu schreiben. Über Mittag ist meine Siestazeit, das sind unschreibsame Stunden, da geht gar nichts. Wie lange am Stück schreibst du? Am allerliebsten beginne ich morgens früh und schreibe bis um zwölf, mit der Möglichkeit, dazwischen ein paar Schritte rauszugehen und eine kleine Pause zu machen; und dann geht gar nichts bis ungefähr drei Uhr nachmittags, dann schreibe ich nochmal drei Stunden. Oder auch nicht. Es ist auch immer die Frage, was gehört denn zum Schreiben dazu? Es sind ja nicht die Finger auf der Tastatur oder der Stift in der Hand. Es gehört mehr dazu. Es gibt einfach diese Momente, in denen man aus dem Fenster schaut oder im Internet recherchiert, ein Buch liest, eine Radiosendung hört, in der es um das Thema geht, oder mit Menschen spricht. Es gibt so viele Facetten, die dazugehören zum Schreiben. Bei mir gehört auch das Zeichnen zum Schreiben dazu, oder ich erstelle Listen mit Stichworten, die mich beschäftigen. Ist das Zeichnen bei deinem Roman «Hier ist noch alles möglich» von Beginn weg Teil des Arbeitsprozesses am Text gewesen? Eine Zeichnung hat sogar den Anfang gemacht, ein Rechteck: Innen steht «Halle» und aussen steht «Welt». Das war, sozusagen, der Ausgangspunkt des Textes, und die Zeichnungen waren von Anfang an dabei. Oder auch das Arbeiten mit Bildern, es ist oft so, dass mich Bilder inspirieren, etwas zu schreiben, das Visuelle ist stark Teil meines Arbeitens. Zeichnungen und Bilder werden auch im zweiten Roman wieder wichtiger Bestandteil sein. Denkst du den Text zuerst im Kopf zu Ende und notierst ihn dann? Nein, der Text entsteht aus dem Schreiben heraus. Ich funktioniere nicht so, dass ich mir einen Text fix fertig ausdenke und dann überlege: «Ah ja, jetzt kommt diese Szene und dann diese, und dann muss noch das passieren». Es erschreibt sich mir, und ich weiss auch jetzt beim zweiten Roman nicht, was da jetzt noch passieren wird. Ich habe mir zwar nach dem ersten Roman vorgenommen, dass ich den zweiten strukturierter angehen möchte, vielleicht auch, um so viele Irrwege oder Sackgassen zu vermeiden und habe gemerkt: «Ja nein, die gehören ja genau dazu». Ich kann gar nicht anders. So funktioniere ich einfach nicht, dass ich mir das so sauber schon einmal durchgedacht habe. Das ist auch das Schöne und das, was mich auch motiviert zu schreiben, dass man sich selbst überraschen kann oder auf Dinge stossen, bei denen man vor einer Minute noch nicht wusste, dass das einem begegnen wird und dass das vielleicht auch zu Literatur werden kann. Es ist schon auch eine Entdeckungsreise, das Schreiben. Schreibst du von Hand oder am Computer? Meist grosse Teile zuerst von Hand, aber nicht alles, und anschliessend am Computer. Dann ist der wichtigste Überarbeitungsschritt das Übertragen von der Handschrift auf den Computer, da passiert fast am meisten. Wenn es digital mal da ist, bleibe ich auch oft im Digitalen und gehe dann gleich weiter im digitalen Text. Aber ich mag auch gerne das Analoge. Es hat offensichtliche Vorteile. So kann man Papier beispielsweise schnell irgendwo auspacken, ausser man hat keinen Stift dabei, was sehr ärgerlich ist, aber zum Glück nur selten vorkommt. Ich glaube schon, von Hand zu schreiben ist etwas sehr Praktisches, Alltägliches, und ich mag das Gefühl, von Hand zu schreiben, es ist auch näher am Zeichnen. Hast du spezielle Schreibutensilien, die du gerne verwendest, oder spezielles Papier? Nichts ganz Spezielles, aber ich schreibe am liebsten schwarz auf weiss, mit Kugelschreiber oder Stift. Wenn kein schwarzer Stift zur Hand ist, ärgert mich das. Und am liebsten in Hefte, schwarze oder rote. Wie transferierst du deine Zeichnungen ins Digitale? Und welche Rolle spielen sie für die Entwicklung des Textes? Die scanne ich ein und füge sie dann in den Text ein. Die Zeichnungen und Bilder vermögen Dinge anders zu erzählen, als dies der Text tut. Auch interessiert mich, wie Text und Bild sich gegenseitig beeinflussen. Wie stehen sie zueinander, was erzählt das eine, was das andere nicht erzählen kann? Bei «Hier ist noch alles möglich» gibt es zwei Erzählstränge, denjenigen des «Mannes, der vom Himmel fiel», zu dem mich eine Radiosendung inspiriert hat, in der es um einen Mann geht, der aus einem Flugzeugschacht stürzt, und denjenigen der Fabrik. Bei der Fabrikgeschichte war die Zeichnung der Ausgangspunkt. Mich hat die Frage interessiert nach diesem Innen und Aussen und nach Raum, nach diesem Ich und der Halle. Da war dieses Ich da, das in dieser Halle lebt. Dann war die Frage: Was erlebt sie dort? Was erwartet sie dort? Was baut sie sich auf? Das ist der Anfang des Romans, dass sie sich Stück für Stück ihr Umfeld erschafft. Was wiederum sehr viel mit dem Schreiben zu tun hat: dass man ein Stück weit auch von einem Rechteck ausgeht, und das füllt mit Welt und Leben, Figuren und Sprache. Das war der Ausgangspunkt für den Zustand, in dem sich diese Figur befindet, die sich ja immer wieder vergewissert: Was ist um mich? Was ist da, und was ist nicht da? Dieses Abklopfen und der Versuch, mit dem genauen Beschreiben ein bisschen Sicherheit rund um sich zu schaffen, davon bin ich ausgegangen. Ich arbeite stark den Motiven entlang. Was sind die Themen, wie entwickeln sich die Motive? Es geht mir weniger darum, einen dramatischen Bogen zu spannen. Wie kommt das eine Motiv zum anderen, wie verhalten sie sich? Das war für mich eher die Arbeit an einem Netz, nicht der Versuch, eine Linie zu ziehen. Wie kann man ein Netz in ein Buch bringen? Wie schnell gibst du Texte im Entstehungsprozess Anderen zum Lesen? Unterschiedlich. Bei einem langen Text wie dem ersten Roman habe ich das Manuskript in der Prosawerkstatt in Berlin schon recht früh zur Diskussion gestellt, habe das Manuskript zwischendurch aber auch wieder liegenlassen. Diskussionen über eigene Texte muss man auch sich setzen lassen, man muss Zeit verstreichen lassen und schauen, was nehme ich da jetzt mit, und was nehme ich nicht mit. Das ist für mich ganz wichtig, mal zuzuhören, dann zu sagen: «Jetzt ist es gut» und weiterzuschauen, was man damit macht. Dann gab es aber auch eine lange Zeit, in der ich den Text niemandem gezeigt habe. Ich habe sehr lange an dem Text gearbeitet, sechs Jahre. Irgendwann gab es den Moment, in dem ich dachte: «Das Ding ist fertig, aber ich weiss auch nicht, ob es wirklich fertig ist, ob ich zu nah drauf bin, ob noch etwas fehlt, was es überhaupt erzählt.» Diese Zweifel, die das Schreiben oft begleiten: Was ist es denn, das man da macht, wohin soll das führen? Das war ein Moment, in dem ich froh war um diese Freundschaften aus Biel. Drei Leute von dort haben das Manuskript gelesen und mit ihrem ganz eigenen Blick darauf geschaut, was eine grosse Bereicherung war. Irgendwann wollte ich, dass das auch noch jemand liest, der mich gar nicht kennt. Ich habe dann Manuela Waeber den Text zum Lesen gegeben. Sie war bei einem Werkbeitrag in der Jury, den ich von der Stadt Basel bekommen habe. Sie ermutigte mich beim Bachmann-Wettbewerb einzureichen (Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis, Literaturpreis im Rahmen der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, Anmerk. der Red.). Und dann hat das Ganze begonnen. In Klagenfurt sind ja viele Agenturen und Menschen aus der Literaturszene, die da rumschleichen. Der ganze Betrieb ist da am See am Plantschen. Dort habe ich eine Agentur gefunden, und die Agentur hat sich auf die Verlagssuche gemacht. So ist es dann zu dem Buch gekommen. Da ist auch viel Glück dabei. Ein Text kann noch so gut sein, aber irgendwie muss da Licht drauf. Bei mir hat das glücklicherweise mit dem Bachmann-Wettbewerb funktioniert. Wie gut kannst du ein Manuskript loslassen, wenn es als Buch vorliegt und auf den Markt kommt? Wie gut mit der Kritik umgehen, die dann kommt? Es kommt darauf an, wer Kritik äussert und vor allem wie. Je nachdem, wie Kritik im Literaturbetrieb geäussert wird, kann sie schon weh tun. Schlechte Kritik trifft einen immer, ich bin da nicht davor gefeit. Vor allem unbegründete Kritik ist schwer hinzunehmen, wenn man denkt: «Hat dieser Kritiker oder diese Kritikerin wirklich dasselbe Buch gelesen, das ich geschrieben habe?» und die Kritik nicht nachvollziehen kann, die dann so in der Welt steht. Man hat dann keine Mittel dagegen anzugehen. Besonders freut mich, wenn jemand von der Kritik eine Formulierung findet für den Text, bei der ich denke: «Oh, sie hat es geschafft, in zwei Sätzen auf den Punkt zu bringen, was ich da in einem ganzen Buch sagen wollte». Ich habe aber gelernt, das Buch loszulassen und freue mich sehr, wenn ein Theaterstück oder ein Hörspiel daraus entsteht. Das sind für mich unglaublich schöne Momente, weil der Text dann weiterlebt und weil andere sich damit beschäftigen und ihn auch zu ihrem Eigenen machen. Ich empfinde das als grosses Glück, wenn ein Text so in die Welt weitergeht und dort andere Formen annimmt. Autorin Gianna Molinari, Jahrgang 1988, aufgewachsen in Basel, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte 2009–2012 am Literaturinstitut Biel, danach absolvierte sie ein Studium der neueren deutschen Literaturwissenschaft in Lausanne. Von 2015 bis 2021 war sie als Programmassistentin der Solothurner Literaturtage tätig. Vor drei Jahren erschien ihr erster Roman «Hier ist noch alles möglich», mit dem sie bei Publikum und Kritik Erfolge feierte. Mit dem Autorinnenkollektiv RAUF engagiert sie sich für die Sichtbarkeit von Frauen im Literaturbetrieb. Im Moment arbeitet sie an einem zweiten Romanprojekt. |