Alles Fürs Schreiben |
Paul Nizon hat mit dreissig Jahren die Schweiz und das bürgerliche Leben ausbruchsweise verlassen, um Schriftsteller zu werden. Sechs Jahrzehnte später blickt er für uns zurück auf das Leben, das ihm erst im Schreiben wirklich wurde. »
Von Ivo Knill
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Man muss sich den Schriftsteller Paul Nizon als einen Soldaten vorstellen. Genauer: Als einen Soldaten in der hintersten Mandschurei. Er ist permanent im Einsatz. Er ist immer bereit, immer auf Abruf, in Stellung, am Graben, am Schaufeln und Erde bewegen. Man kann sich seinen Schweiss und die Grösse seiner Aufgabe genauso vorstellen wie die Weite des Landes, das ihn umgibt. Nur ein Feind ist nicht in Sicht. Kein Ziel ist auszumachen, kein Kampf droht, keine Front zeichnet sich ab. Der Soldat ist allein. In diesem Bild hat Paul Nizon sich selbst und seine Arbeit des Schriftstellers auf den ersten Seiten von «Im Bauch des Wals» beschrieben. Das Buch erscheint im Jahr 1986, Nizon ist 57 Jahre alt und schreibt schon ein ganzes Leben lang, und das heisst in seinen Worten: «Um auf das Arbeiten zurückzukommen, sage ich wichtigtuerisch, befinde ich mich immer noch im Stadium des Stellungskrieges. Ich belagere etwas. Sondiere. Es liegt bereits allerhand vor. Das Zeug stapelt sich; so hoch, übertreibe ich und deute mit der Hand einen Haufen Papiere an. Bei mir denke ich: hol der Teufel das abseitige Metier.»
Die Manuskripte stapeln sich, denn Nizon ist ein Vielschreiber, sein ganzes Poetenleben lang. Seine Hände, er macht es vor, jetzt in unserem Gespräch, symbolisch, als Geste in der Luft: Sie legen sich auf die Tastatur, die Maschine unter ihm erwacht, der Text rattert Zeile um Zeile heran, wie ein Zug durch die Landschaft rast, in den man einsteigt wie in Träume. Er braucht zum Schreiben ein Atelier. Meist ist es eine unansehnliche Bude, wo er schreibt und wo er seine Blatter auslegen, stapeln und sichten kann. Er muss einen Weg haben zwischen der kleinen Wohnung und dem Atelier. Auf dem Weg ergeben sich Gedanken und Ausflüchte, es ergibt sich das Zögern, das Nicht-Schreiben-Wollen, das Plempern, Säumen, Stauen. Auf dem Weg ist der Schriftsteller ein Wörterträger, ein Gedankendreher. Im Journal «Die Innenseite des Mantels» beschreibt er sein Leben als Autor: «Das Poetenleben ist ja weitgehend ein Nichtstun, Sätze- und Körperherumtragen, ein Tagverbringen in Wartestellung, Warten auf Einfälle und Marschbefehl. Spazieren, damit etwas in Gang käme. Robert Walser. Umso stärker oder gerade darum der vermessene Wahn, LEBEN abzugeben. Eine Verlebendigungswut.» Paul Nizon ist 1929 in Bern geboren und aufgewachsen in einem Haushalt, der nach dem frühen Tod des Vaters ein Frauenhaushalt in vierzehn Zimmern war, den er mit Mutter, Schwester, Tanten, Grossmutter, Haushälterin und einem einzigen Hausdiener teilt. Er studiert Kunstgeschichte, doktoriert, hat eine Stelle als Kulturredaktor. Er steigt aus, er verlässt Frau und Kinder und wird, was er sich heiss und sehnlich wünscht: Schriftsteller, und zwar einer, der sich im Anblick der Gefahr und im Angesicht des Todes existenziell strafft. Er wird einer, der den Frauen nachsteigt, der, wo er liebt, auch enttäuscht. Er wird einer, der sein Leben hingibt, um eines zu können: Schreiben. «Hol der Teufel das abseitige Metier!» Wir sitzen in Baden am Tisch in der Stube des Reiheneinfamilienhauses. Paul Nizon ist zu Besuch in der Schweiz bei seiner Tochter, zu der er ein gutes Verhältnis hat, wie auch zu seinen anderen Kindern und zu seinen ehemaligen Frauen und Gefährtinnen. Zum Ehemann war er nicht gemacht, als Familienvater ist er immer wieder ausgestiegen, aber zur Freundschaft hat er eine Gabe, und so befreundet er sich, wo andere sich binden und verpflichten. Es ist ein heller Nachmittag im Mai. Ich weiss gar nicht mehr, was hinter ihm aus dem Fenster zu sehen gewesen wäre, oder doch, jetzt beim Schreiben zeigt es sich: Ein bewaldeter Hügelrücken über Agglomeration, einige quer laufende Starkstromleitungen, an denen ich hängen bleibe. Interessanter ist aber der Blick auf den Mann Paul Nizon, der mir, 91 Jahre alt, gegenübersitzt und erzählt. Das Leben. Das Schreiben. Das Schreiben. Das Schreiben: «Ich habe nämlich», schreibt er im Journal im Jahr 1964, «wirklich mit meiner Ohnmacht der Themenlosigkeit ernst gemacht, und konsequent aus Banalität Sprache, das heisst Wirklichkeit gezimmert» . Vielleicht hatte es mit dem Tod des Vaters zu tun, der ihn als zwölfjährigen Knaben ein ganzes Jahr lang erstarren und den Schulstoff verpassen liess, dass sein Leben unstet blieb. Diese Flucht aus Bern und der Schweiz in die Welt, nach Paris, wo er in einer kleinen Wohnung haust, in Atelierbuden schreibt und in der ganzen Welt dazwischen bummelt, streikt und Wörter herumträgt. Wenn er sich dann an die Maschine setzt, kommen sie rasend in Gang. Das Klappern der Maschine braucht er. Verantwortungsloses Schreiben Er nennt es nicht frei, kreativ oder absichtslos, dieses Schreiben, sondern «verantwortungsloses Schreiben». Herunterschreiben, Seite um Seite, nicht denken, schreiben! Nicht zieren – zeigen! Das ist seine tägliche Arbeit, die leicht fällt. Aber damit dann aus dem vielen Material ein Buch wird, braucht es Mühe und Anstrengung. Nizon spricht von Verdichtung und Inkubation, vielleicht Geburt, wobei: Geboren wird immer er selbst, denn immer kreisen seine Texte um ihn, seine Welt, seine Eindrücke, sein Leben: «Was mich diesbezüglich anficht, ist das Eingesperrtsein in wenigen autobiografischen Stoffreservaten manchmal bis zur Erschöpfung», schreibt er 1999. «Die Bücher sind oder bleiben an meinen Leib gefesselt – oder in meiner Lebensproblematik gefangen. Es ist ein Kreuz. Mein Kreuz.» Der Mann, mit dem ich spreche, wird lebendig, als wir über den Mann sprechen, der er vor sechzig Jahren war, und den er 1972 im Buch «Untertauchen» beschrieben hat. Das Buch beginnt mit dem Abschied von zwei Frauen: «Ich sehe mich im Wohnzimmer einer Vierzimmerwohnung stehen. In Zürich. Ein Mann um dreissig, der sich von seiner Frau verabschiedet. Und ich sehe mich auf dem Bahnsteig in Barcelona neben dem internationalen Expresszug stehen. Ein Mann um dreissig, der sich von einer anderen Frau verabschiedet.» Nizon jetzt, an diesem Nachmittag im Mai, wie er damals von der Guardia Civil in Barcelona zusammengeschlagen wurde. Er erzählt, wie ihn die Mischung aus Gefahr und Leben aufpeitschte – und alles ist da, wie ich es gelesen habe: Der Mann von dreissig Jahren, der nach Barcelona reist und sich innerhalb einer Sekunde in eine Nachtclubtänzerin verliebt. Er verbummelt seinen Auftrag, verjubelt sein Geld und muss sich freikaufen. Er wird zusammengeschlagen, er reist ab. Aber wenige Wochen später ist er schon wieder in Barcelona, ist zurückgereist zu jener Nachtclubtänzerin, die er vor seiner Abreise beschimpft und verletzt hat. Er versöhnt sich mit ihr, nur um sich noch einmal von ihr zu verabschieden und loszureissen, und auch das wiederum nur, um sich anschliessend von seiner Frau in Zürich scheiden zu lassen. Denn der Mann um dreissig will Poet werden. Das ist es, was an ihm gerissen hat und wozu er zwei Frauen als Geburtshelferinnen gebraucht hat: das Schreiben. Die Stapel In seine Schreibmaschine spannt er in frühen Jahren ausschliesslich einseitig bereits beschriebene Makulaturblätter ein. Auf leeres, sauberes, frisches Papier mag er nicht schreiben, die Rückseite muss es sein und auf die muss getippt, gesammelt und aufgeschrieben werden, was den Behälter seines Bewusstseins durchströmt. Was in ihm ist, muss auf Papier, damit da eine Welt entsteht. Er setzt sich hin und schreibt über das Gesicht der Frau im Bus, in die er sich so sehr verliebt, dass er in seiner Bewunderung untergeht. Er schreibt über die Gäste im Restaurant Chartier an der Rue du Faubourg Montmartre, die um ihn sitzen, während er an seinen Freund Joe denkt, und daraus entsteht eine grossartige Erinnerung an den wortkarg leibgewaltigen Mann, der sich selber immer fremd blieb und das komplette Gegenstück des Schriftstellers Nizon war, der sich selbst und der Welt unablässig Fallen stellt, damit er sich im Leben verfängt und darüber schreiben kann. Nizon schreibt, und die Manuskripte stapeln sich. Immer mehr Kisten und Schachteln sind es, die er schleppen muss, wenn er wieder ein Atelier wechselt oder einen Schreibaufenthalt macht wie in Bergen-Enkheim. Es ist unmöglich, hier zu leben, erzählt er, zwei Restaurants gibt es und kein Leben weit und breit, keine Stadt zum Flanieren, nichts, also auch keine Möglichkeit, Schreibstau aufzubauen, Gräben auszuheben, Sondierungen vorzunehmen. Also sichtet er mit der Journalistin Maria Gazzetti, was er in den Jahren geschrieben hat. Daraus entsteht der erste Band seiner Journale. Er umfasst Aufzeichnungen aus den Jahren 1961 bis 1971 und erscheint unter dem Titel «Das Auge des Kuriers». So erzählt er es jetzt, und dafür hat unser Nachmittag in der schönen Schweiz einen kleinen Whisky verdient. Die Welt bekam den ersten Band seiner Journale 1995, und kann jetzt lesen, wie er sich in seiner «verantwortungslosen» Prosa als Liebender, als Prostituiertengänger, als Sohn, als Vater zeigt, seziert und zur Schau stellt, denn immer geht es um ihn. Das ist sein Geschenk an die Welt. Ein Umzugs- und Lagerproblem stellten sie also dar, seine Manuskriptblätter, zu denen er einen übrigens unsentimentalen Bezug hat. Er liest kaum nach, was er geschrieben hat, so virtuos und verbissen er auch schreibt, mit dem unbändigen Drang, die Welt in Worte zu bringen, wie der Maler sie auf die Leinwand holt. Und doch: «Bleibt etwas? Das ist doch die Frage!», sagt er jetzt in unserem Gespräch. «Was bin ich wert? Was ist es, das Geschriebene, wert? Was überlebt?» Wenn er ein Buch fertig hat, schickt er den Stapel an den Verlag, ein luftiger Haufen Blätter, wie er sagt, mit der Maschine getippt, von Hand korrigiert und überschrieben. Er hat in jedem Satz, in jedem Wort, das er geschrieben hat, gewohnt, hat in seinen Wörtern und Sätzen Zuflucht gefunden und gehaust, mag auch Kruste auf dem Herd geklebt haben, den er beschreibt, mag sich zwischen herabgefallenen Wörtern der Unrat in seiner Wohnung getürmt haben, mag er als Clochard zwischen zwei Absätzen vor Hauseingängen gestanden haben, mag er vor der durch ein Komma erzwungenen Pause an seinen Hund gedacht haben oder an die explodierenden Knospen des Frühlings: Er hat jeden Satz bewohnt, und jetzt kann es weg, das Geschriebene, so denke ich es mir jedenfalls, als er schildert, wie er den Stapel einpackt, abschickt und hinter sich lässt. Aber vielleicht flunkert er, denn er erfindet gerne, wenn auch nur sich selbst, was nicht wenig ist. Und er ist, als Mensch, liebenswürdig im Umgang, mag er auch, wie im Journal nachzulesen ist, Hippies und Spiessbürger verachten (wohl in etwa das Gleiche) und beissend übers Skifahren herziehen, das er mag, aber nicht unter Leuten. Er ist nicht Schriftseller geworden, um nett zu sein, gefährlich wollte er sein Leben, und so ist es geworden. Aber was bleibt von allem Geschriebenen? Das ist seine Frage, jetzt. Die Manuskripte hat er dem Literaturarchiv verkauft. Das Archiv bot einen bestimmten Betrag. Er verlangte mehr, worauf Sachverständige beigezogen werden, die den Wert noch höher veranschlagten. Wie hoch? Für eine Wohnung in Paris reichte es, eine zweite Wohnung, um genauer zu sein, denn eine hat er schon, eine zweite also, einen Stock tiefer, bar auf die Hand und 10 000 als Geschenk, weil der Verkäufer Geld brauchte. Eine Hommage an Joe Geld also. Das ist schon etwas. Ruhm auch: Im deutschen Sprachraum ist er respektiert, in Frankreich ist er, obwohl er auf Deutsch schreibt, ein Star. «Paul Nizon ist einer der besten Schriftsteller der Welt. Er hätte längst den Nobelpreis bekommen müssen», sagt der einflussreiche Kritiker Frédéric Beigbedier. Nizon wird übersetzt, auf Französisch, selbstverständlich, und jetzt, gerade aktuell auf Russisch. Ruhm. Forschungsarbeiten über sein Werk. Und doch: Was bleibt vom Werk eines Soldaten, der jenseits der Schlachten seine Gräben aushebt? Ist es die Hommage an Joe, seinen Freund, der wortlos lebte? Die Sehnsucht nach dem Abtauchen? Die Freundschaften, die ums Schreiben herum entstehen, die Kinder, die Frauen, mit denen er verbunden bleibt? Wie eine riesenlange Haut liegt es da, sein Leben, die Haut, das Papier, das Manuskript: Vollgeschrieben mit Zeichen, Wörtern und Sätzen, von denen man nicht weiss, ob sie vom Leben reden oder das Leben sind, oder ob sie es sind, indem sie davon reden. Nizon schlägt symbolisch aber herzhaft seinem Freund Reto Sorg, der das Gespräch eingefädelt hat, mit flacher Hand unters Kniegelenk, aufbrechen! gerade jetzt: Er ist bereit fürs Leben, gerade jetzt. Und da ist diese ungeheure Versuchung zum Glück, die er hinterlässt und «im Bauch des Wals» beschreibt: «… ein Komplizentum mit allem und jedem auf der Welt; ein Aufmerken, Witterung in der Nase und die Lust, dem nachzugehen und mit Worten hinterherzulaufen, es in Worte zu fangen, spielerisch erst und dann blitzschnell, so wie man einen Vogel im Fluge schiesst, Worte Wendungen Bilder; Sätze, die etwas greifen oder pflücken; und die Worte wie Kiesel und Murmeln, sie durchrollen durchtanzen mich. Habe es in Worten an mich genommen, habe die Taschen voll. Ein Glücksspieler und glücklicher Murmler, ein wahrer Reicher, ein Wortmillionär … notierte ich» Ist es die Einladung zum Glück des Schreibens, die bleiben wird? Ja, bestimmt. Aber da ist noch etwas, was mich an Paul Nizon fasziniert, berührt, herausfordert und beglückt: Dass er der Andere ist. Er ist der Aussenseiter, wo ich Bürger bin, er ist Künstler geworden, wo ich es nicht riskiert habe, er setzt sich – oder beginnt hier die Figur, die er aufbaut? – der Armut, der Niedertracht und dem Elend der Brotlosigkeit aus, er bummelt, wo ich fleissig bin, er geht, wo ich bleibe. Er verletzt, wo ich schonungsvoll bin und zum Verräter werde. Und das ist alles immer noch nur die Oberfläche, denn, so sehe ich es: Paul Nizon ist da unterwegs, vielleicht, man kennt diese Länder nur ungenau, wo mein Bruder war, als er zwischen Leben und Tod wählte. Das ist bei ihm, so wie ich ihn verstehe, die Spanne zwischen Schreiben und nicht Schreiben, zwischen noch nicht Schreiben und nicht mehr Schreiben, die eine Spanne des Lebens ist: Seines Lebens. Wählen! Er ist der Andere, und er hilft mir, den Anderen zu lieben. |