Denn
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Von Ivo Knill
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I
Nasce ad Albino (Bg.) il 15 Agosto 1887 col nome Agostino Felice Giuseppe alle ore 22. Mein Grossonkel Zio don Agostino kam am 15. August 1887 in Albino, in der Provinz Bergamo mit dem Namen Agostino Felice Giuseppe Sennhauser zur Welt, und zwar um 22 Uhr. Ich habe ihn als Kind noch gekannt, als er ein Mann von über achtzig Jahren war. Sein Haar war weiss, seine Hände zitterten. Ich weiss nicht, ob er uns Kinder, seine Grossneffen und –nichten, auseinanderhalten konnte. Wir waren fast dreissig Cousins und Cousinen, die als Kinder seiner Nichten allesamt in der Schweiz zur Welt kamen, als er noch in Grumello del Monte Priester war. Erst in den späten 50er Jahren trat Don Agostino in den Ruhestand und zog in die Schweiz, wie sein Bruder, mein Grossvater Nonno Tomaso. Ich erinnere mich, dass er in Bruggen im Haus meines Onkels, Zio Alphonso wohnte. Seine Schwester, Zia Annetta, machte ihm den Haushalt, wie sie es schon während seines Priesterlebens die ganze Zeit gemacht hatte. Die Wohnung war dunkel und mit Möbeln und Teppichen aus einer anderen Zeit vollgestellt. Don Agostino trug auch die schwarze Kleidung eines Priesters. Meine Mutter stellte mich vor ihn und er zeichnete mir mit Weihwasser das Kreuz auf die Stirne und flüsterte die Worte des Segens, in denen er ganz und gar versank. Ich erinnere mich an ihn, wie er an Sonntagen zu Besuch kam, immer zusammen mit seinem Bruder, Nonno Tomaso und seiner Schwester, Zia Annetta. Nonno Tomaso steckte sich zum Essen die Serviette in den Kragen, um sein perfekt gebügeltes Hemd zu schützen. Den Wein mischte er mit Wasser, das beobachtete ich als Kind ganz genau. Sie sprachen italienisch miteinander. Ich verstand sie nicht, aber das war auch nicht nötig, um im Klang ihrer Stimmen und Geschichten geborgen mitzuschwimmen. Wenn sie da waren, war die Welt ganz und sie stellten in grossen Säcken die Geschichten der Herkunft in unsere Stube, die nichts Italienisches an sich hatte. Die Begegnungen mit Don Agostino waren selten, aber sie machten einen tiefen Eindruck auf mich. Don Agostino starb im Jahr 1975. Ich war elf Jahre alt. Vorne rechts in der Kirche Bruggen war sein reich mit Blumen geschmückter Sarg aufgestellt. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich zwischen den vielen Leuten in der Kirche zum Sarg ging, an dem ein Fenster angebracht war, durch das man sein Gesicht sehen konnte, was mich faszinierte und beschäftigte: Ein Fenster zum Tod. Wenn ich daran denke, wird mir klar, dass ich mir vorstellte, dass er hinter diesem Fenster weiterlebte, einfach im Tod, denn das wurde uns in der Kirche ja immer gesagt: Dass es ein Leben nach dem Tod gebe. Also vermutete ich, dass Agostino hinter seinem Fenster sein Leben als Toter führte. Ich weiss nicht, ob ich mich bis ganz nach vorne zum Sarg zu gehen traute. Aber ich war mir gewiss, dass Agostino mitsamt seinem Sarg, den Blumen und dem Kirchenmarmor, der alles umfasste, in das ewige Leben übergehen würde. Vor dreieinhalb Jahren, im Herbst 2017, begegnete ich Don Agostino wieder. Er erschien mir beim Schreiben. Ich erinnerte mich an ihn, an den körperlichen Eindruck, den er mir gemacht hatte. Seine segnenden Hände waren alt, warm und von deutlich hervortretenden Adern gezeichnet. Sie hatten für mich etwas Vitales, sie waren, schrieb ich, zum Segnen ebenso geeignet wie zum Ohrfeigen Austeilen. Sein Mund war feucht, die Worte kamen aus der Tiefe seines Körpers. Ich weiss nicht, ob es wirklich die Erinnerung an ihn war, die mich dies denken liess, oder ob es ein Ankommen in meinem eigenen Körper war, der mit den Jahren der Körper eines durch das Leben gewanderten Mannes geworden war, in dem sich das Alter abzuzeichnen begann. Jedenfalls: Ich begegnete Don Agostino, ich sah das Bild vor mir, wie er in seinem Sarg in einem Fluss schwimmend durch eine Auenlandschaft fuhr, um sich dann an einer Anlegestelle zu erheben, auf sein Fahrrad zu schwingen und in seine Pfarrgemeinde zu fahren, oder unter den hohen Pappeln über die Wiese zum Wald zu eilen, in dem er verschwand. Dieses Verschwinden war mir eine Erlösung aus dem strengen Marmorhimmel, in den ich ihn seit seiner Beerdigung in der Kirche Bruggen versorgt hatte. Vor einigen Wochen ist er mir erneut erschienen, leibhaftiger und lebendiger, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ich war auf der Suche nach Dokumenten zu meiner Herkunftsgeschichte – denn daran leide ich, an einem Mangel an Herkunft – darauf gestossen, dass im Kantonsarchiv St. Gallen Dokumente über ihn aufbewahrt sind. Ich liess mir Kopien kommen und fand darunter den handgeschriebenen Lebenslauf von ihm, schwungvoll übertitelt mit «Memorie di Don Agostino Sennhauser, fu Tomaso». Ich druckte das Dokument aus und geriet für mehrere Wochen in einen regelrechten Rausch des Entzifferns und Verstehens. Der Text war in Handschrift und auf Italienisch geschrieben, das mir kaum mehr als ein poetisches Rauschen aus der Kindheit geblieben ist. Nun war es an mir, mich im Fluss der Worte im Manuskript zu verlieren, stecken zu bleiben bei unentzifferbaren Passagen, mich im Strudel des Verstehens um mich selbst zu drehen und mit wachsender Kenntnis des Textes mehr und mehr Einblick in das Leben meines Vorfahren zu gewinnen, der in bemerkenswert akkurater Schrift mit einer unglaublichen Präzision Bericht über sein Leben abgelegt hatte, und zwar in der dritten Person. Geboren im Jahr 1887, durchlief er, nachdem er bei Nonnen in den «Asylo» gegeben worden war, die ersten Schuljahre in der deutschsprachigen Schule in der kleinen italienischen Gemeinde Albino. Diese Schule war vom Patron der Textilfabrik eingerichtet worden, die sich als Zweig der Schweizer Firma Honegger im Tal niedergelassen hatte, das in der Folge einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung verzeichnete. Agostinos Vater, mein Urgrossvater, war aus der Schweiz nach Italien ausgewandert und war in der Firma als «Assistente» beschäftigt, was eine leitende Stelle umschrieben haben muss. In der vierten Klasse vernahm Agostino den Ruf zum Priestertum und wechselte in die italienische Schule des Ortes, um Italienisch und Latein zu vertiefen. Er erhielt Unterricht vom Pfarrer, schaffte die Prüfung ins Lyceo und besuchte anschliessend das Priesterseminar. Seine Schul- und Studienzeit war gekennzeichnet durch lange Krankheitsunterbrüche. Lungenentzündungen – insgesamt sechs an der Zahl – zwangen ihn für Wochen und Monate ins Krankenbett. Er lernte zuhause und es gelang ihm, die Prüfungen erfolgreich abzulegen. Mit 23 Jahren wurde er zum Priester geweiht. Nach einigen Jahren in wechselnden Gemeinden kam er mit dreissig in jener Kirchgemeinde an, in der er über vierzig Jahren wirkte. Er führte das Leben eines italienischen Priesters. Und er führte, wie ich nach und nach zu verstehen beginne, das Leben eines Begeisterten. Die «memorie» meines Grossonkels sind in einer schönen, regelmässigen und sehr runden Schrift verfasst. Der Stil ist ein Staccato der Fakten. Es gibt kein Ereignis, das nicht exakt datiert, einem Ort zugewiesen und mit namentlich erwähnten Akteuren ausgestattet ist. Zu jeder Lungenentzündung wird die Zeit des Auftretens, der Arzt und bei der letzten auch die heilsame Medizin angegeben. Die Schweizer Schule in Albino befindet sich zwischen der Kapelle der Maria del Pianta und der Stickereifabrik. Schwelgerisch oder frömmlerisch sind die Eintragungen nie, ihr Pathos ist das der präzise diktierten Fakten und der knappen, kurzen Sätze: Nel 1918 scappia la spagnola: Giorno e notte in mezzo agli ammalati, di giorno confessarli e di notte portarli al Cimitero. Per di più ha in casa la sorella Maria e il fratello Tomaso pure colla spagnola. La mamma era morta nel marzo del 1917 e il papà pure nel giugno dello stesso anno. Povero pretino! Deve andare allo Spaccio comunale per il pranzo. Ciònostante la salute è sempre state attissime. Il buon dio mi aiutava. Ad Albino nel negozio c’era solo la sorella Anna. 1918 brach die Spanische Grippe aus: Er war Tag und Nacht unter den Kranken. Tagsüber Beichte abnehmen, nachts zum Friedhof transportieren. Zusätzlich ist zuhause die Schwester Maria und der Bruder Tomaso mit der «Spanischen». Die Mutter war im März 1917 gestorben, der Vater ebenfalls, im Juni desselben Jahres. Armer kleiner Priester! Er muss zum Mittagessen auf den Marktplatz. Trotzdem war die Gesundheit immer bestens. Der gute Gott hat mir geholfen. In Albino im Geschäft war nur die Schwester Anna. Der Bericht über die Spanische Grippe wirft Schlaglichter auf die Lebenszeit meines Onkels. Drastisch beschreibt er, wie er die Epidemie als Priester durchläuft, Beichte abnehmend, Segen spendend und Gräber einsegnend. Er selbst verlor im Jahr zuvor die Eltern. Er verweilt nicht bei ihrem Tod, so wenig, wie er in seiner Autobiografie auf die vielen Todesfälle in seiner Familie eingeht. Dem von ihm angelegten Stammbaum ist zu entnehmen, dass er als achtes von zwölf Kindern geboren wird. Von den sieben vor ihm geborenen Geschwistern lebt zum Zeitpunkt der Niederschrift des Lebenslaufs als Einzige noch die zwölf Jahre ältere Maria. Und woran lässt sich die Begeisterung meines Grossonkels ablesen? Ganz sicher in der Akribie seiner Aufzeichnungen: Immerhin ist er in seinen Achtzigern, als er seine Aufzeichnungen verfasst. Dass er so detailliert über die Begebenheiten seines Lebens Bescheid geben kann, heisst doch, dass er das, was in seinem Leben passierte, für wichtig und bemerkenswert hielt. Er legte eine alphabetische Liste von allen 38 mit ihm eingesegneten Abgängern des Priesterseminars an, die Sterbedaten führte er nach, bis nur noch er übrigblieb. Mag sein, dass der Tod hier wieder als Grundmotiv seines Lebens durchschimmert, aber zu sehen ist doch auch, dass er sich für seine ehemaligen Mitstudenten interessierte und mit ihnen soweit verbunden blieb, dass er ihren Tod erfuhr. Genauso akribisch führt er auf, was er an seinen wechselnden Pfarrstellen für Arbeiten zu übernehmen hatte. Da mussten Messen gelesen, Beichten abgenommen, Beerdigungen gemacht werden. Vor allem aber setzte er sich mit Elan für die jungen Gemeindemitglieder ein. Als er in Grumello del Monte, seiner späteren Lebensstelle, ankam, bemerkte er, dass das «Oratorio», also das Kirchgemeindehaus für die Jungen, «in disordine» war. Er trat die Stelle nur an unter der Bedingung, dass die Gebäude wieder instandgesetzt würden und legte schliesslich selbst Hand an, bis es eine Bühne, einen Saal für die Theatergruppe und eine Bibliothek gab, die er selbst anlegte und mit Büchern ausstattete. Die Renovationen wurden über eine «colossale fiera die Beneficienza» bezahlt. Das «Oratorio» wurde, wie er vermerkt, im Durchschnitt von 350 Besuchern frequentiert. Er gründete eine Sparkasse (die drei Prozent Zinsen gewährte) und brachte es zuwege, dass ein Jahr nach seinem Stellenantritt ein Karussell mit sechzehn Pferden seine Runden drehte. Don Agostino wollte bewegen, bewirken, in Gang bringen und anstossen – und er tat es auch. Noch im Jahr seiner Ankunft in Grumello gründete er eine «Banda musicale», also eine Musikgruppe, und zwar, wie ich erst langsam zu verstehen begann, eine Blasmusik. Die Instrumente beschaffte und reparierte er in Bergamo und schon am 28. Dezember 1919 hatte er seine «Banda» so weit, dass man ein Konzert zur Feier der Heiligen Maria Ausiliatrice geben konnte. (Oder zum Fest Ordensgemeinschaft der Don-Bosco-Schwestern (italienisch: Figlie di Maria Ausiliatrice), wie Wikipedia vorschlägt). Der Auftakt zu seinem Wirken in der Pfarrgemeinde war fulminant. Die Liste seiner Arbeiten bleibt lange: «Scuole di Catechismo alle 11.30 e alle 15.30 in tutti classi communi del paese. Catechismo quotidiano dopo la Messa delle ore 8 nell Istituto Pallazzolo in Grumello. Scuole autumnale per tutti le classi maschili et femminile in Agosto e Settembre.» Er liest die Messe in der Kirche des Ortes, besucht und betreut die Ordensschwestern, die im Ort ein Spital betreiben, er betreut, hilft und sorgt, aber nicht nur fürs Seelenheil: Er leitet einen Chor für Gregorianische Musik, engagiert sich für die Theatergruppe, er probt mit seiner Blasmusik, er eröffnet eine «scuala di disegno festivo per giovani di Grumello». Er eröffnet und unterrichtet eine fünfte Klasse der Elementarschule, die von Kindern aus der ganzen Umgebung besucht wird und die sie für die Prüfungen zu weiterführenden Schulen vorbereitet. So lese ich es aus seinen Aufzeichnungen heraus, die sich wieder und wieder in Auflistungen und Aufzählungen verzweigen, von denen ich nicht weiss, ob sie Heilige oder Heilige Messen bezeichnen, aber ich muss nicht alles verstehen, um zu sehen, dass da ein Mensch im unablässigen Wirken und Schaffen aufgeht. Vierzig Jahre wird er in seiner Gemeinde bleiben. Und vierzig Jahre wird er seine Banda Musicala leiten. II Vor mir liegt die Chronik von Grumello del Monte über die Jahre 1882 bis 1982. Seit ich weiss, dass der auf dem Titelbild abgebildete Priester der Probst war, der versucht hatte, meinen Grossonkel «in omni via» aus der Gemeinde zu verdrängen, verstehe ich meinen Widerwillen, den ich ihm gegenüber empfand. Antipathie überspringt Generationen. Aber ich habe in Agostinos «Memorie» eben auch gelesen, dass mein Grossonkel diesen Versuchen widerstand, genauso wie er auch kluge Distanz gegenüber den Fascisti wahrte, deren Aufkommen er mit dem Hinweis vermerkt, dass der Bürgermeister des Ortes gehen musste. Während der Probst, wie die Chronik umständlich festzuhalten nicht umhinkommt, es als vaterländische Pflicht empfand, sich mit der nun mal bestehenden Regierung zu arrangieren. Agostino nicht: Einmal ging er hin und machte die auf dem Fussballfeld spielenden Faschisten darauf aufmerksam, dass Sonntag und damit Zeit für den Kirchgang war. Dies führte zum zweiten Versuch, ihn von seinem Ort wegzuweisen. Der Bischof ging nicht auf die Vorstösse der Faschisten ein, die sich, brav der Ordnung folgend, an ihn wandten. Don Agostino blieb und hält fest, dass der Probst seine Gesellschaft, ob er wollte oder nicht, mehr als dreissig Jahre aushalten musste. Die Dorfchronik zu Ehren des Probstes, den ich auf den ersten Blick nicht mochte, zeigt auf Seite 93 Don Agostino Sennhauser mit einer Gruppe Ministranten auf einer Wiese vor dem Dorf, das im Hintergrund mit Kirche und dem Rustico der Villa Camozzi-Vertova zu sehen ist. Agostino ist ergraut, sein Blick ist bestimmt, zuversichtlich und voller Lebenskraft. Die Ministranten, Schulkinder, wären gewöhnliche Flegel, hätten sie nicht ein Lächeln und einen verwegenen Glanz des Heiligen im Gesicht. Auf Seite 109 ist wiederum mein Grossonkel abgebildet, der Bürgermeister Zaccharia Patelli nestelt am Kragen seiner Robe – er aber lächelt verschmitzt aus dem Bild. Freude, Triumph und etwas Buffomeskes mischen sich im Blick: Schaut her, was unser kleiner Priester geschafft hat. Im Hintergrund ist ein applaudierender Mann zu sehen. Auf Seite 94 ist die ganze Szene zu sehen, mehr Publikum ist im Raum, wir sind in Albino, es ist der 27 August 1969 und mein Grossonkel ist, 82-jährig, aus der Schweiz angereist, wo er seit zehn Jahren den Ruhestand verbringt. Bürgermeister Zaccharia Patelli befestigt am Revers seiner Robe die «Medaglio d’oro» und anerkennt damit die Verdienste von dessen vierzig Jahre währendem Wirken in Grumello del Monte. In der Rede streicht er die vielen wohltätigen Aktivitäten von hohem gemeinschaftlichem Wert heraus: Die Gründung der Krankenkasse (Mutua Medica) für die Arbeiter und Landleute im Jahre 1919, die Gründung der «Cassa di Risparmio», die Einrichtung der Bibliothek, die Gründung der Abendschule und vieles mehr. Am Vorabend der Medaillenübergabe fand ein Gottesdienst statt, begleitet von der Banda Musicala, die Don Agostini fünfzig Jahre zuvor ins Leben gerufen hatte. Das Wirken meines Grossonkels, da besteht kein Zweifel, wirkte noch ein Jahrzehnt nach seiner Emeritierung fort. Und noch mehr erfahre ich in der Chronik: Monsignore Giovanni Battaglia erinnert sich in einem Schreiben an meinen Grossonkel mit den Worten: «... ich muss sagen, dass er ein aussergewöhnlicher Arbeiter war: Er war immer eifrig im harten Amt des Beichtstuhls; er war bereit für jeden Ruf der Kranken, um ihnen während der gesamten Krankheitsdauer mit häufigen Besuchen zu helfen und den Trost der Sakramente zu spenden. Ihm entging keiner! Grosszügig war er in der Kreditvergabe für die Bedürfnisse von Familien, er half bei der Unterbringung heikler Fälle, er unterstützte bei der Arbeitssuche; er war brillant in der Führung des Oratoriums, immer pünktlich im Gottesdienst, auch als Kaplan am Palazzolo-Institut; sehr gut – obwohl er nicht mehr so gut hörte – als Direktor des Schola Cantorum und der Band, die er auf ein sehr hohes Niveau bringen konnte: kurz gesagt, er war ein wirklich eifriger Priester und von einer aussergewöhnlichen Tätigkeit und immer voller Harmonie mit mir.» Auf der Fotografie anlässlich der Ordensverleihung entdecke ich Nonno Tomaso - Agostinos Bruder und mein Grossvater. Agostino spricht mit ernster Miene und ich denke, es gelingt ihm, den Anlass als einen grossen Anlass zu würdigen. Seine Haltung erinnert mich an meinen Bruder Paolo, und da wir viele Ähnlichkeiten haben, dürfte auch ich in ihr zu erkennen sein. Geneigter Kopf, ein Innehalten im Suchen nach dem richtigen Wort, das sich als Geste bereits andeutet, sich über Hände und den richtigen Ausdruck des Gesichtes seinen Weg bahnt, den es aus unterirdischer Tiefe gehen muss, um ans Licht zu kommen. Ich verstehe, jetzt, da ich dies schreibe, die Tränen meiner Mutter, als sie mich bei einer Rede sah, die mir gelang: Ganz sicher wurde in ihr etwas Vertrautes wach, ein Gruss von Don Agostino erreichte sie. Die Überreichung des Ordens waren Triumph, Befriedigung und tiefe Genugtuung für meinen Grossonkel. Die Begeisterung, die ihn ein Leben lang angetrieben hatte, war aufgeblüht, hatte in langen Jahren der Arbeit Früchte getragen, die anerkannt wurden. Was kann ein Mensch mehr erreichen? Er hatte mit zwölf Jahren den Wunsch, das Leben eines Priesters zu führen. Er hatte lange Monate lebensbedrohender Krankheiten überstanden, sein Studium gemacht, Lehrjahre absolviert und den Ort seines Wirkens gefunden und gegen Anfeindungen aus eigenen und fremden Reihen verteidigt. Er war nicht hart geworden im Leben, sondern leichter und immer, immer hatte es ihn in die Kirche gezogen. In seinem Ruhestand in St Gallen hatte er nicht aufgehört, die Messe zu lesen und Beichten abzunehmen. In den sechziger Jahren, als er gegen Achtzig ging, hörte er nach und nach auf, nachdem er, er muss Buch geführt haben, zweihundertsoundsoviele Messen da und da, dreihundert und etwas Messen dort und so viele Sonntage im Dienst der Sakristei verbracht hatte. Ihm blieben – und so lernte ich ihn kennen – die Messen für die Familie in seiner Wohnung in Bruggen. Im Lebensbericht vermerkt er, mit nun etwas zittriger Schrift, dass er froh ist, nicht mehr 83 Treppenstufen in seine Wohnung hinaufgehen zu müssen. Die Kraft reicht noch für den täglichen Besuch der Kirche in Bruggen, wo er verweilt und innehält. Bei seinem Tod im Jahre 1975 mit 88 Jahren bin ich dabei – und zwei Autobusse aus der Gemeinde Grumello mit Angehörigen der Gemeinde kommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. In Grumello aber findet ein voll besetzter Gottesdienst zu seinen Ehren statt. Ein Trompeter der Banda Musicala, die er als dreissigjähriger junger Priester gegründet hatte, tritt vor, ich denke, ein Strahl der Sonne fällt auf ihn, als er, nachdem er das letzte Rauschen eines Kleides und das allerletzte Sich-im-Bank-Zurechtrücken abgewartet hat, mit grosser Geste die Trompete ansetzt und «Il silencio» anstimmt. III Selbstverständlich ist auch dieses Lied nur einen Mausklick und eine Google-Suche weit entfernt. Es ist ein grossartiges Trompetenstück von Nini Rosso, mit dem er in den Sechzigerjahren die Hitparaden Deutschlands und Italiens eroberte. Ich höre es und höre den Sound meiner Kindheit, finde in der Playlist «La Montanara», das sie bei unseren Familienfesten, die riesig waren aufgrund der Zahl von Zios, Zias und Cousins, anstimmten, um für zwei Stunden nicht mehr zu verstummen. Lied um Lied sangen sie, die sonst gestrengen Eltern, Ernst war ihr Blick beim Singen, aber der Optimismus, mit dem sie in ihr Leben eingestiegen waren, klang über dem mehrstimmigen Gesang durch. Es ist die Begeisterung für das Leben. Sie hatte sie nicht vor Schicksalsschlägen bewahrt, hatte nicht gegen den Tod und das Sterben geholfen, aber sie hatte sie Kraft für das Leben finden lassen. Tagelang höre ich Nini Rosso, ich begeistere mich an der Musik, ich gehe auf in der Erinnerung an eine Zeit, die ich nun als gross ansehen kann. Bei einem Kurs über Fake News, der online stattfindet, stehle ich mich davon und gebe, nur so zum Spass, Don Agostino Sennhauser und Grumello ein und finde unter https://www.bandagrumello.com/ die Homepage des Corpe Musicala die Don Sennhauser. Flötistinnen, Tuba-, Trompeten- und Saxophonspieler blicken mir aus Fotografien entgegen, sehr gegenwärtig, denn die Banda Musicala besteht noch immer und hat sich zur Musikschule mit breitem Angebot gemausert. Ihre Aktivitäten teilt sie auf dem Facebookprofil «Corpo Musicale Don Sennhauser». Jetzt bin ich vollends ergriffen: Der Mann, der mir als Greis das Kreuz zur heiligen Kommunion auf die Stirn zeichnete, führt ein Nachleben auf Facebook. Das Fenster in seinem Sarg hält, was es mir versprach. Das Leben geht weiter. Trompeter, stemme die Rechte in deine Seite, die Linke aber führe das Instrument mit Schwung zum Munde. Spiel, denn das Leben ist Begeisterung! |