Harsch |
Von Anna Pieger
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Sie gehen im milchigen Frühlingslicht eines Tages mit Hochnebel nebeneinander durch die Stadt. Ihre Schritte sind aufeinander abgestimmt, ein einvernehmliches Schreiten über Asphalt und vereiste Schneereste, die an manchen Stellen noch nicht weggetaut sind, obwohl es schon Mitte März ist.
Wenn ihre Arme beim Gehen locker mitschwingen, berühren sie sich fast. Erik trägt tannengrüne Strickfäustlinge, die ihm seine Mutter zu Weihnachten geschenkt hat, und Jen ihre alten türkisfarbenen Skihandschuhe. Nur bei morgendlichen Minusgraden holt sie die ollen Dinger aus dem Körbchen im Garderobenschrank, normalerweise trägt sie dünne Fingerhandschuhe aus hellbrauner Alpakawolle. Kurz nach zwei. Heller wird es heute nicht mehr. Am Freitag machen sie beide früh Schluss, sie an der Uni, er im Büro. Sie haben sich an der Brücke getroffen, weil die Cafés geschlossen sind. Wenn sie einen Satz in die feuchtkalte Luft schweben lassen, wird er von sichtbarem Atemhauch begleitet. Erik ist sparsam mit seinen Sätzen. Jen kennt das. Nach der Arbeit möchte er schweigen und sie reden. Unter der Eisenbahnbrücke gibt es glatte Stellen am Boden, sie rutscht aus und kann sich gerade noch an seinem Mantel festhalten. Er kommentiert es nicht, macht keine Anstalten, sie am Arm festzuhalten, er verlangsamt nur seine Schritte ein wenig. Zuhause angekommen, waschen sie sich nacheinander die Hände. Erik mit der Gewissenhaftigkeit, die all seine Alltagshandlungen auszeichnet und die seit dem ersten Auftreten des Virus noch stärker spürbar wird, Jen vor sich hinsummend und ein wenig abwesend. Erik geht ein paar Schritte die Treppe zum oberen Stockwerk hoch und wendet sich dann zu Jen um. —Ich muss noch ein paar Mails beantworten. Jen nickt. —Ist gut. Ich muss auch noch einen Antrag auf Fördergelder fertigstellen. Sie macht sich einen Kaffee, nimmt ihren Laptop aus der Tasche und setzt sich an den Küchentisch, auf dem noch Reste des Frühstücks stehen, eine Haferflockentüte und eine Glasdose mit Chiasamen. Sie öffnet die Datei auf dem Hochschulserver. Der Cursor blinkt. Sie sollte Sätze für den Antrag schreiben. Kluge Sätze. Fördergelderwürdige Sätze. Innovation. Interdisziplinär. Zukunftsweisend. Performativ. Die Buchstaben verschwimmen vor ihren Augen. Die Müdigkeit legt sich wie eine schwere Decke über ihre Schultern. Am liebsten würde sie sich aufs Sofa legen und ein paar Minuten dösen. Aber wenn Erik nach der Arbeit noch am Computer sitzen kann, sollte sie das doch auch schaffen. Sie klopft sich mit der flachen Hand auf die Wange. Die Bewegung erzeugt ein nicht sehr wohltönendes klatschendes Geräusch und eine Wachheit in den Backen, die aber schnell wieder einer langsam tropfenden Schwere weicht. Sie versucht einen Satz, sucht in einer Datenbank Stellen aus wissenschaftlichen Artikeln heraus, die das Forschungsanliegen verdeutlichen. Oder vielleicht auch nur den Publikationsstress an der Uni, denkt sie bei sich. Die Wörter wollen sich nicht zu sinnvollen Einheiten fügen. Sie nimmt einen letzten Schluck Kaffee. Ihr ist kalt. Eine Umarmung wäre jetzt schön. Sie klappt den Laptop zu und geht nach oben zu Erik. Er sitzt in der Büroecke im Dachstock und tippt mit effizienten, minimalistischen Bewegungen, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. Im Gegensatz zu Jen beherrscht er das Zehnfingersystem. — Erik? — Hmm? Erik hält seine Augen weiterhin auf den Bildschirm gerichtet und tippt. Jen stellt sich hinter ihn und streicht ihm mit beiden Händen über die Schultern. Sein Körper nimmt die Berührungen mehr hin als an. Sie kann die leichte Verspannung seiner Schultermuskulatur unter dem Strickmuster seines Rollkragenpullovers spüren. — Ist was? — Nein. — Dann ist ja gut. Jen nimmt die gestrige Tageszeitung vom Nachttisch, setzt sich in den Schaukelstuhl neben dem Bett und beginnt zu lesen. Sie gähnt. Ihr Blick wandert kurz zu Erik. Die Schreibtischlampe beleuchtet sein Profil, das durch die markante Nase mit dem leichten Knick im oberen Drittel geprägt wird. Sie kann sich nicht auf die Zeitungsberichte konzentrieren. Hilfspakete… Ersatzzahlungen… Grenzkontrollen… Sie blinzelt. Eriks Konturen werden undeutlich. Als sie wieder aufwacht, ist das Zimmer leer und dunkel. — Erik? Keine Antwort. Sie steht auf, legt die Zeitung zurück auf den Nachttisch und geht zur Treppe ohne Licht anzumachen. Im fahlen Schein des Laternenlichts kann sie auf dem Küchentisch Überbleibsel eines Abendessens ausmachen, das Erik ohne sie eingenommen haben muss. Im Wohnzimmer brennt Licht. Sie tritt durch die Zimmertür. Erik liegt auf dem Sofa, seine Augen sind geschlossen. Der Lichtschein der grossen Stehlampe neben dem Sofa fällt ihm direkt ins Gesicht, aber das scheint ihn nicht zu stören. Jen macht ein paar Schritte auf ihn zu. Sein Atem geht regelmässig und ruhig. Unter seinen Lidern zucken die Augäpfel hin und her, er scheint zu träumen. Sein Mund steht leicht offen, im linken Mundwinkel hat sich Spucke gesammelt. Jen sucht in sich nach zärtlichen Gefühlen für diesen müden Erik mit weichen Gesichtszügen, der all die Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit abgelegt hat, die sein waches Selbst auszeichnen. Aber etwas in ihr meint dieses Gesicht nicht zu kennen. — Erik? Jen widersteht dem Drang, ihn an der Schulter zu schütteln. Sie lässt das Licht brennen, setzt sich in den Sessel gegenüber und beobachtet den schlafenden Erik. Sie muss an seine Mutter denken. Erik als Kind. Sie kennt nur die Kinderfotos, die bei seiner Mutter in dem Album kleben, das neben seinem alten Kontrabass in der guten Stube steht. Die Fotos zeigen zumeist einen dicklichen, ernst dreinblickenden Jungen mit Grübchen in den Wangen. Auf manchen Bildern ist sein Mund auch zu einem lausbubenhaften Grinsen verzogen, das Jen nicht vertraut ist. Schlafend sieht er zugleich jung und alt aus. Ein müder Junge, der an den Schläfen ergraut ist und leise schnarchend die Luft einzieht. Woher kommt die leise Wut, die Jen fühlt und die sich nicht einmal durch das Zurückdenken an den kindlichen Erik besänftigen lässt? |