Die
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Von Ivo Knill
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I
An keinem Tag der Woche ist drei Uhr nachmittags so sehr drei Uhr nachmittags wie am Samstag. Die strengen Tage der Woche sind um, die Anstrengung des Lebens lässt nach, die Pflichten verziehen sich, die Klammern fallen ab, und es kommen nur noch die schwebenden Stunden des Wochenendes. Das sind die Stunde der Musse, des Schlenderns, des Plemperns, Baumelns, Säumens und Träumens. Das ist der eine Grund, warum es nie mehr drei Uhr am Nachmittag ist als am Samstag. Der andere Grund ist: Am Samstagnachmittag um drei Uhr ist es Zeit für «Scacciapensieri» auf dem Tessiner Kanal des Schweizer Fernsehen. Trickfilmzeit. Der rosarote Panther schlendert heran, Tom und Jerry rennen hintereinander her, Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer starten den Motor, die schwarze Pechente wetzt ihr Gefieder, die Hypermaus dreht auf. Die Erinnerung spielt mir den Sound ihrer Stimmen vor, und ich weiss: Alles war wahr und richtig für mich. Als Kind zweifelte ich an allem, aber den rosaroten Panther glaubte ich. Ich vertraute Fred Feuerstein, dem Steinzeitmacho, der immer alles vermasselte, ich traute Barney, der viel klüger war als er, aber auch kleiner und darum chancenlos. Und sowieso hatten immer Wilma und Betty recht, die jede Einzelne klüger waren als die beiden Männer zusammen. Alles stimmte. Das Quietschen der Hinkelsteinreifen, das Dribbeln der Füsse beim Beschleunigen: Alles richtig, alles wahr wie der lässige Auftritt und Abgang des rosaroten Panthers. Alles schön verpackt und zusammengeschnürt in der samstagnachmittäglichen Ausstrahlung auf RTSI, die wertvoll und selten war, denn Samstagnachmittag um drei Uhr, das war auch: Die Jungwacht. Nach dem Höck am Dienstagabend hängte ich den Anschlag für den Samstag auf. Am Samstag besammelten wir uns gruppenweise, zogen los in den Wald oder verschwanden im Innern des Pfarreizentrums in die buntbemalten Luftschutzräume, wo wir lärmten und bastelten – ich und meine 10 Gielen. Gipsbandagen brachte ich mit, Schicht um Schicht legten wir sie aufs eingecremte Gesicht, warten musste man, bis der Gips kühl aushärtete, ruhig liegen, wie im Schlaf, im Tod, im Übergang, lange. Dann kam das Gesicht wieder heraus, wurde wieder frisch und lebendig, löste sich vom erstarrten Abdruck, die Stimmen kamen wieder, das Lärmen, die Kinderkörper, die Geräusche des Samstagnachmittags um drei. Samstagnachmittag um drei – ja klar, das ist heute Bohrmaschine, Hammer, Heimwerken. Nichts Schöner als das. Werkeln, schrauben, bohren, anpassen, kitten, leimen, schleifen unter dem Lampenlicht, die Beine vom Gerüst baumeln lassen, den Kopf ins Genick legen: Malen, Streichen. Etwas Kleines, Fragiles unter den Händen haben, dröseln, fummeln, fingern, bis es passt und der Draht durch die Öse ist und das Kamel durchs Öhr. Machen, bis man’s hat, aber man hat Zeit in jeder Tasche der blauen Werkschürze, die Kneifzange greift und knippst. Das ist Samstagnachmittag. Das Branden der Wochentage ist fern, die Uhr hört auf zu ticken, ruhig atmet das Meer in seinen Wellen, aus denen das Licht schimmert. Wer diese Zeit nicht kennt, geht gefesselt durchs Leben. Und wem diese Zeit nicht gnädig ist, der verhaspelt sich in Ketten, wie ich vor einigen Wochen, als wir in den Schnee fuhren und im Schnee stecken blieben, weil ich dem Schneematsch und den vielen Menschen über den Pass entfliehen wollte. Ich wollte einfach weg und fuhr fluchtartig und mutig aus Angst die verschneite Strasse hoch. Und blieb stecken. Hinter mir drängten die anderen Autos, oben standen sie, aber ich kam nicht voran. Man schob, man war gutmütig, man half, aber ohne Ketten ging nichts. Eine brachte ich übers Rad, irgendwie, bei der zweiten wollte es nicht klappen. Immer war ein Ende zu viel, jedes Mal verschwand das Spannkabel hinter dem Rad, nie liess sich der Riemen spannen, ob sie vor oder hinter mir nun warteten oder nicht. Bis ich’s mit einer Kette am Rad versuchte. Es ging wider Erwarten, ich kam los. Wir fuhren aufwärts an. Einer schlitterte von oben herkommend an uns vorbei noch in den Strassengraben, den liessen wir stehen, dann waren wir frei und los. Wir gewannen Höhe, der Nebel löste sich auf, wir kamen in die Sonne hinauf, stiegen aus und gingen im frischen Schnee unter dem geschenkten Licht der Nachmittagssonne auf dem Höhenweg über allem Nebel und Gram, gelöst und befreit. Am Samstagnachmittag um drei Uhr findet die Zeit ohne Plan statt. Alles kann kippen, alles kann in Schieflage kommen, aber sehr langsam. Ungewiss auf welche Seite es kippen wird. Die Zeit liegt über den Wellen eines mächtigen Meeres. II In der römischen Antike und noch bis weit ins Mittelalter hinein wurden die Stunden des Tages nicht von Mitternacht, sondern vom Sonnenaufgang angezählt. Um sechs Uhr war die erste Stunde, Neun Uhr war die dritte Stunde, 15 Uhr war die sechste Stunde, und dies war die Stunde des letzten Atemzuges des Erlösers, wie die Bibel berichtet. Sie spricht von einer Finsternis, die am Karfreitag von der dritten bis zur neunten Stunde des Tages dauerte. An ihrem Ende starb Christus am Kreuz. Sein Tod prägte dieser Stunde das Siegel der Verzweiflung, der Verlorenheit und der Vergeblichkeit auf. 15 Uhr – das ist die Sterbestunde in der Mitte des Nachmittags, der nur noch drei leere Stunden bis zum Sonnenuntergang dauern wird, drei leere, verlorene Stunden, in denen die Zeit nicht vorwärts gehen dürfte. Die Stunden der Antike dauerten wegen ihrer Verbindung mit dem Lauf der Sonne je nach Jahreszeit unterschiedlich lange. In Rom währte eine Stunde im Winter 45 Minuten, im Sommer dauerte sie 75 Minuten. Das Mittagessen fand konsequenterweise zur neunten Stunde statt: Das heisst um drei Uhr, in der Mitte des Nachmittages. Wichtige Besprechungen wurden in die achte Stunde verlegt. Drei Uhr, das lässt sich unschwer verstehen, ist in einem Zeitgefühl, das sich nach dem Licht der Sonne richtet, der Dreh- und Wendepunkt des Tages, der Schwebepunkt, der Moment, in dem ein Federball, mit Wucht in die Höhe geschlagen, seinen höchsten Punkt erreicht. Einen Moment lang verharrt er in schwebendem Stillstand zwischen Sonne und Erde. Dann fällt er Um drei Uhr nachmittags wenden sich die Dinge. Was bis dahin noch nicht angefangen ist, das wird nie unternommen werden. Drei Uhr Nachmittag ist der Moment des Innehaltens, gebettet über den Wellen eines ruhig atmenden Meeres. Manou, der ich von diesem schwebenden Gefühl berichte, nickt still und sagt später, dass drei Uhr die Stunde für langsamen Sex ist. Man ergibt sich dem Wellengang der Sinne, man lässt die Lust kommen und gehen, man taucht ein, geht unter, taucht auf. Einschlafen ist ebenso gut möglich wie der Sturm der Körper. Es heisst, sagt Manou, dass dieser langsame Sex dem weiblichen Begehren entgegenkomme, aber so klar ist das nicht, weil auch Frauen ins Machen kommen können, sagt sie, und dass vielleicht manchem Mann die sanfte Welle des drei-Uhr-Sex viel zuverlässiger über die Klippen einer abbrechenden Lust trägt als der Sturm nach dem Takt der Finalität. Ich höre ihr zu und lerne. Mir fallen Fotos ein, die mein Bruder aufbewahrt hat. Sie sind aus den frühen Achtzigerjahren, zu sehen sind langhaarige Gestalten, die sehr breit, sehr glücklich und sehr entspannt aus kleinen Augen in die Kamera blinzeln. Das Wellen[1]spiel des Rausches schlägt in den Nachmittag und verteilt die Platten[1]hüllen, die Aschenbecher, die umgekippten Gläser und die aufgeschlagenen Hefte auf dem Teppich, wo sie mit den Gestalten dieses Nachmittags auf dem Meer der Trunkenheit treiben. In flutenden Wellen ergiesst sich der Rausch in den hellen Tag, so wie es nichts Schöneres gibt, als in der Hitze eines italienischen Mittags unter dem Schatten der Pergola zu sitzen und Salat, Suppe und Brasato zu essen. Von der Schläfe rinnt in Perlen der Schweiss, auf dem Teller vermengt sich die dunkle Sauce des Fleisches mit dem hellen, geschmeidigen, mit Butterflocken gewürzten Kartoffelstock. Aus grossen Gläsern trinkt man vom schweren Wein. Mit schweren Liedern rührt man im Café, süss schmeckt der Salat aus Äpfeln, Ananas und Pfirsichen, der Grappa sendet letzte Blitze ins Gehirn. Dann geht man schwankend seinen Weg ins Zimmer. Selig legt man sich in die weissen Decken und Kissen. Erdenschwer und weltensatt lässt man sich in den Himmel einer Siesta hinter vorgezogenen Jalousien sinken. Für immer, oder, um etwas genauer zu sein: Für die Ewigkeit eines Nachmittags um drei Uhr. Und gerade darum trägt der Tagesschlummer seinen Namen: Siesta geht zurück auf «sexta» – was die sechste Stunde des Tages ist: Also, wir wissen es, 15 Uhr. III Das Wort «Scacciapensieri», es hat mir all die Jahre keine Ruhe gelassen, es klingt so schön! Es wird von Google mit «Windspiele» übersetzt. Oder Harfe. In Wahrheit, das zeigt die weitere Suche, ist es die Bezeichnung für die Maultrommel. Ihr «diong-doing»-Klang entsteht durch das Modulieren der Obertöne in der Mundhöhle, in der ein hufeisenförmiges Metallteil mit einer schwingenden Metalllippe liegt. Es gab virtuose Spieler, die durch die Kombination mehrerer verschieden gestimmter Instrumente mit ihrer Maultrommel einen bemerkenswerten Umfang der chromatischen Tonleiter abzubilden vermochten. Die Musik des Mittelalters, sogar die kirchliche, setzte das auch Brumm[1]eisen genannte Instrument gerne ein, wie maultrommelspielende Engelsfiguren in mittelalterlichen Kirchen belegen. In der Forschung zu Tinnitus gibt es Ansätze, das Hirn mit dem Hören von Obertonklängen aus seiner gewohnten Bahn zu lenken. Man geht davon aus, dass der Tinnitus-Ton als entferntes und nie abbrechendes Echo auf ein Gehörtrauma vom Gehirn selbst produziert wird. Bringt man die für das Hören zuständigen Hirnareale dazu, sich mit Ober[1]tönen zu befassen, lösen sie sich von ihrem Krampf – so die hoffnungsvolle Annahme. Greif zur Maultrommel und löse dich vom Hufeisen im Kopf! Das ist die Losung von Scacciapensieri, denn wörtlich bedeutet «sciacciare» so viel wie verscheuchen oder vertreiben und «pensieri» sind sorgenschwere Gedanken. Gibt es eine bessere Losung, einen schöneren Auftakt und ein bedeutenderes Motto für jene dritte Stunde des Nachmittags, die Stunde des Scherzes, des Übergangs, des Loslassens, der Hingabe, des Rausches und der, der sich im Klang der Obertöne auflösender Sorgen ist? Die Kulturgeschichte zur dritten Stunde des Nachmittags: Sie bleibt ungeschrieben, aber, wohlan, die ersten Forschungsarbeiten sind vollbracht |