Der Lotse,
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Von Ivo Knill
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«Als Ärzte haben Psychiater ein anderes Verhältnis zum Körper – kein besseres, aber ein anderes», sagt mir Ingo Büschel. Bald darauf vergleicht der 50-Jährige seine Arbeit mit der Arbeit eines Lotsen, der an Bord kommt, wenn der Kapitän in Bedrängnis ist. «Ich übernehme nicht das Steuer», sagt Büschel. «Ich bin da, begleite, gebe Unterstützung, biete Perspektiven an – aber steuern muss immer der Kapitän selbst.» Er schildert mir in seiner Praxis die Arbeit mit einem jungen Mann, der seit mehreren Jahren sein Patient ist und sich jetzt anschickt, sein Leben selber in die Hand zu nehmen. Er kam mit Depressionen und Alkoholproblemen in die Therapie. Vor dem Kind, dessen Vater er ist, ergriff er die Flucht. Jetzt, nach Jahren der Suche, der Gespräche, Reflexionen und Ergründungen ist der Mann unterwegs zurück zu seiner Familie – oder besser: Hin zu einem Leben, in dem er das Steuer ergreifen kann. Büschel hat mit ihm gearbeitet, wie mit anderen Patienten. Neben der klassischen Gesprächstherapie steht in seinerArbeit auch die Arbeit mit Bildern im Mittelpunkt. Der Patient kann zum Beispiel Symbolkarten zu einem Thema auswählen. Oder er begibt sich zusammen mit dem Therapeuten in eine Imagination. Tagträume entstehen, Vorstellungsbilder, Gedankenreisen, die besprochen und gedeutet werden. So werden Wege erkundet, so hat er mit seinem Patienten wieder und wieder das Leben erforscht und betrachtet. «Therapie ist ein Weg, den man gemeinsam geht». Der Weg kann kurz sein, wenn es darum geht, in einer Lebenskrise neue Orientierung zu finden, es kann ein langer Weg sein, wenn schwere psychiatrische Krankheiten wie eine Depression oder eine Psychose vorliegen. Ich sitze im bequemen Stuhl mit hoher Lehne im hellen Praxisraum. Auf dem niederen Tisch liegen in einer Schale verschiedenartige Steine, der Blick geht aus dem Fenster. Ich stelle Fragen, lausche, schreibe mit, frage nach. Büschel beschreibt, wie er mit seinen Patienten auf Bilderreise geht: Er schlägt ein Motiv vor, zum Beispiel «Berg», der Patient oder die Patientin greift das Motiv auf, schildert das Bild, das in ihr aufsteigt. Der Therapeut fragt nach, folgt dem Bild, das im Gespräch entsteht und leitet auch den Weg zurück in die Realität ein. Die Methode heisst Katathym Imaginative Psychotherapie (KIP) und klingt vielversprechend. Ich bekomme Lust, gleich selbst mit auf die Reise zu gehen: Eine schöne Weite, ein offener Raum tut sich auf. Der grosse Schreibtisch, Tastatur und Bildschirm und das Gestell an der Wand machen deutlich, dass in diesem Raum auch andere, handfeste Arbeit ausgeführt wird. Ingo Büschel ist nicht nur behandelnder Therapeut, sondern auch Gutachter. In dieser Rolle ist er nicht mehr der Lotse an der Seite des Kapitäns. Seine Aufgabe ist es, eine Momentaufnahme zu machen, den Gesundheitszustand einer Person und dessen Auswirkungen auf seine Funktions- und Arbeitsfähigkeit zu beurteilen. Er prüft, denkt sich in den Fall ein, studiert Unterlagen und kommt zu einem Bild der Chancen und Defizite. Seine jahrelange Erfahrung als Konsiliarpsychiater und Leiter eines stationären/teilstationären Fachbereichs unterstützen ihn bei diesen Einschätzungen. Dass er auch Therapeut ist, hilft ihm, den Menschen zu sehen, um den es im Gutachten geht. Das grosse Raunen Unablässig rätseln wir, ergründen wir und versuchen herauszufinden, wer wir sind. Umso mehr, wenn wir in eine Krise geraten, wenn wir mit uns oder der Welt nicht mehr zurande kommen, wenn der Boden, auf dem wir gehen, brüchig wird, wenn die Psyche selbst brüchig und instabil wird. Nach einer Schätzung der WHO aus dem Jahr 2012 haben in der Schweiz pro Jahr etwa 700 000 Menschen einen psychiatrischen, respektive psychotherapeutischen Behandlungsbedarf. Ihnen stehen 5700 Psychotherapeutinnen und -therapeuten und rund 3600 Psychiaterinnen und Psychiater zur Seite. Wenn die Zahl bis heute etwa gleich hoch geblieben ist, dann finden täglich Zehntausende therapeutische Gespräche statt. Was für ein grosses Suchen, Fragen, Massnehmen und Leben besprechen! Ich stelle es mir als ein einziges grosses Raunen über das Leben vor, hervorgebracht von einer Schar von Menschen, die der Einwohnerschaft einer kleinen Stadt wie Solothurn entspricht, die sich in immer neuer Besetzung in einem unablässigen therapeutischen Gespräch befindet. Und was ist es denn, frage ich ihn, was die therapeutische Arbeit gelingen lässt? Büschels Antwort ist sehr klar: «Grundlegend für den positiven Verlauf ist die therapeutische Beziehung. Wenn sie von Vertrauen, Zuversicht und Sorgfalt geprägt ist, kann die Behandlung gelingen. Die angewandte Methode ist zwar nicht egal, aber sie kommt an zweiter Stelle – das zeigen zahlreiche Studien.» Die List Und was passiert in der Therapie, was wir in unserer unaufhörlichen Selbstreflexion selber nicht können? «Wir kennen uns selbst, unsere eigene Geschichte nur bruchstückhaft», erklärt Büschel. «Wir wissen nicht alles über uns. Manche Dinge verdrängen wir, andere übersehen wir, anderes ist vergessen, verborgen oder nicht zugänglich.» Wir sind also selbst der Elefant, von dem wir einmal den Schwanz, einmal den Rüssel, ein Bein oder borstige Rückenhaare greifen, aber nie das Ganze zu fassen bekommen. Oder wie es Büschel formuliert: Es geht uns mit uns selbst wie mit dem Eisberg, von dem wir nur die Spitze sehen. Was uns unbewusst prägt, bestimmt und leitet – davon wissen wir nur wenig. Das Unbewusste bewusst zu machen – das ist seit Freud der Weg der Psychotherapie. Nicht immer, so Büschel, ist, wie bei Freud, das Gespräch der beste Weg, an die unbekannten Stellen unseres Ichs zu gelangen, denn auch im Gespräch filtern wir unablässig weg, was uns unangemessen, unbedeutsam oder vielleicht auch schwierig scheint. Hier kommt die Arbeit mit Bildern und Symbolen ins Spiel. Sie ist ein Mittel, vielleicht eine List, um die Filter des Bewussten zu umgehen. Wenn Patienten tagträumen oder Symbolbilder ohne grosses Überlegen auswählen, um ihren Zustand zu beschreiben, kann sich Unbewusstes zeigen. In der Auseinandersetzung mit dem ausgewählten Bild kann deutlich werden, welche unbewussten Kräfte am Werk sind – und wie präzise und bedeutsam die scheinbar unwillkürliche Wahl des Symboles war. Der Lotse lässt die Schnur mit den Knoten ins Wasser gleiten, um die Tiefe zu vermessen, denke ich, oder er wird zum Taucher. Beim jungen Mann wurde in der Arbeit offensichtlich, dass ihm eine verlässliche, tragfähige Beziehung zum Vater fehlte. Dieser war nicht da, nicht greifbar für das Kind. Der junge Mann, der aus diesem Kind geworden war, hatte kein Vaterbild, an dem er sich orientieren konnte. Im therapeutischen Gespräch zeigte sich der Mangel, konnte besprochen werden. Dabei ging es nicht nur darum, diese Zusammenhänge zu sehen – sondern auch darum, sie aus wechselnden Perspektiven zu beleuchten, so machten die beiden aus der einfachen Erklärung eine vielschichtige Betrachtung. Und wo ist nun, frage ich mich, der besondere Bezug zum Körper, von dem Büschel spricht? Ob es ein Anker ist, der geworfen werden kann, wenn die Tiefe bodenlos wird? Die Maske Noch immer sitzen wir im Sprechzimmer des Psychiaters – aber gerade beginnt es sich zu verwandeln: Büschel holt Masken hervor, die er in der Ausbildung zur Maskenarbeit am Institut für Integrale Pädagogik und Persönlichkeitsentwicklung aus Ton modelliert und in Pappmaché abgezogen hat. Zu den Masken gehört ein Gewand aus Stoff. Beides drapiert er auf dem Bürotisch und seinem Stuhl. Am Anfang der dreijährigen Maskenausbildung stand die für ihn zufällig gezogene Tarot-Karte des Herrschers. Im Kurs nahmen dann mit der Zeit diese und viele weitere Masken Gestalt an und wurden zum Vehikel einer intensiven Auseinandersetzung mit Figuren des Männlichen, des Weiblichen, mit archetypischen Symbolen und Gestalten. «Die Maske hat ein Eigenleben», erläutert Büschel. Untergründiges bringt sie zum Ausdruck, sie will gespielt und erforscht werden – im Spiel offenbart sich der Mensch über die Maske. «Erstaunlich, dass der Mensch nur hinter seiner Maske ganz er selbst ist», zitiert er Oscar Wilde. Das Spiel mit der Maske wird zum Versuch, herauszufinden, wer man ist, indem man die Maske aufsetzt und sie spielen lässt. Ganz so, als würde man ins Leben aufbrechen und aus den Wegen, die man geht, herauszufinden suchen, wer man ist. Das Spiel mit der Maske öffnet die Tür ins Unbewusste – und lässt Inhalte des Unbewussten im Spiel ins Leben heraufsteigen. Im Spiel begegnen wir uns selbst. Der Arzt und Therapeut, der Gutachter, der Lotse und Begleiter zeigt sich jetzt als einer, der selbst forscht, reist und Verborgenes an die Oberfläche bringt – und mir wird noch einmal klar: Diesem Mann, der das alles ist, traue ich es zu, weite und offene Netze zu spannen, in denen sich Bezüge des Lebens zeigen und neu sehen lassen und Wege und Übergänge zwischen dem finden, was wir so schnell als gesund und krank bezeichnen.
Ingo A. Büschel ist 50 Jahre alt. Er studierte Medizin und erwarb den Facharzttitel der FMH für Psychiatrie und Psychotherapie. Bis 2013 arbeitete er als Oberarzt und in leitender Funktion im psychiatrischen Spitaldienst. Seit 2013 führt er eine eigene Praxis. Mehr Infos zum Maskenbau: www.integralepaedagogik.ch Schweizer Arbeitsgemeinschaft für Katathymes Bilderleben:www.sagkb.ch |