ist mein Leben der Rede wert?Die Jahre des Lebens vergehen, die Ereignisse folgen sich: Fügen sie sich zur Geschichte oder bleiben sie bedeutungslos und unwichtig? »
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Von Ivo Knill
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Es ist Herbst, bald November, die Blätter verfärben sich, der Himmel flammt, die Füsse tauchen ins Laub, gedämpft gehen die Schritte und ich habe die Sehnsucht, mein Leben möge einen Sinn ergeben. Ich wünsche mir, es möge so dicht und so verheissungsvoll sein wie ein Roman: Jeder Moment wäre bedeutsam, jede Begegnung ein Anfang. Ich wäre ganz und gar geborgen in der Zeit, die ich durchlaufe. So geborgen, wie wenn ich bequem, mit warmen Füssen und einem Buch auf dem Schoss im Sessel sitze und die Zeit und all ihre Fragen und Drängnisse vergesse. Bei diesen Gedanken tauchen Erinnerungen an Reisen auf, an Momente in fernen Städten und Landschaften. In Marrakesch bin ich und vergesse mich in den Anblick einer farbig gekleideten Marktfrau, die üppig über ihrer Auslage von gelben, grünen und roten Früchten und Gemüse thront. Ich spüre den Abendwind über der Place du Capitol in Toulouse, der die Hitze des Tages unter die Sonnenschirme der Cafés trägt, ich sehe den Himmel aus dem Fenster des Hotelzimmers in Istanbul, in dem ein Bett und nichts mehr Platz hat, ich sehe Tauben auf den Dachziegeln des Dachzimmers in Prag und wähne mich unterwegs und geborgen in der Zeit, die mich trägt und mitnimmt. Das Leben müsste wie eine Geschichte sein, in der das Zerstreute zusammenfindet, in der sich das Ziehen, Drängen und Stossen des Alltags verliert, genauso müsste es sein, wie sich ein grosser Roman liest und ein grosses Stück Musik hört, in dessen Klängen sich die Mühsal verliert und in dessen sanften Tönen ich zum Atmen finde. Mag sein, dass es weiterhin Schmerz, Widersinnigkeiten und Herausforderungen gibt – aber es gäbe auch den Sinn und die grössere Sicht, in der sich das Schwierige fügt und zu ertragen ist und in der sich das Glück als Ahnung berühren lässt. Der Schlüssel zur Geschichte «Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne.» So beginnt Kafkas Geschichte «Vor dem Gesetz». Der Mann fragt, drängt, bittet um Einlass. «Versuche es doch», sagt der Türhüter und warnt vor den nächsten Toren, vor denen mächtigere Türhüter stehen, deren Glanz nicht einmal er auszuhalten vermag. Der Mann vom Lande schickt sich, wartet, bittet von Neuem, wartet – ein Leben lang. Da rafft er sich zur Frage an den Türhüter auf, die sich in ihm in den Stunden, Tagen und Jahren des Wartens gebildet hat: Warum, fragt er, hat niemand anders, da doch alle Menschen zum Gesetz wollen, um Einlass ins Gesetz gebeten? Der Türhüter neigt sich zu dem im Alter klein gewordenen Mann und brüllt in dessen schwaches Ohr: «Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliesse ihn.» Ich lese die Geschichte im Unterricht, denn es ist eine grosse Geschichte eines grossen Autors – aber wie jedes Mal befällt mich die Angst, es würde uns, mir und der Klasse, so wenig gelingen, in der Geschichte einen Sinn zu finden, wie es dem Mann vom Lande gelingt, ins Gesetz Einlass zu finden. Ist diese Geschichte denn nicht in allererster Linie eine frustrierende, ja sadistische Parabel über das Scheitern und die Vergeblichkeit im Leben? Wir rätseln über der Geschichte, ich stehe an der Tafel, schreibe, zeichne, frage: Protagonist, Antagonist, Konflikt. Aber wie können wir die Geschichte lesen und verstehen? Wir rätseln, wir raten: Das Gesetz könnte für das Absolute stehen, das Ideale, das Vollkommene, das wir nur erahnen, aber nie erreichen können. Nicht dass wir es erreichen, so liesse sich deuten, macht uns gross – unser Streben ist es, unser Hoffen und Warten, der Glanz, den wir erahnen. Dass wir nicht aufgeben macht uns menschlich. Ich schöpfe Zuversicht über unserem Versuch, die Geschichte zu verstehen: Nur schon, weil wir alle in diesem Zimmer Menschen sind, im Jetzt. Ja: Die Geschichte handelt, vielleicht, vom Absoluten und vom Ringen damit. Die Fragen gehen auf, der Mann vom Lande findet Platz in einer grösseren Sichtweise. Und jetzt nimmt die Zeit, für den Moment des Verstehens verlangsamt, wieder ihren Gang. Die Stunde geht zu Ende und die Welt setzt wieder ein. Die Schülerinnen und Schüler packen ihre Sachen zusammen. Es ist keine Frage, dass die Türen der Züge, zu denen sie eilen, sich öffnen werden, und dass die Tunnels, durch die sie fahren, sich nicht in der Unendlichkeit des Erdinnern verlieren, sondern Teil der Strecke sind, die Nachhause führt, wo vertraute Menschen und ein Abendessen warten. Unser Spiel mit Kafkas Geschichte wird Teil vom Leben, in dem Zusammenhänge, Deutungen, Sinn und Bezüge immer wieder gefunden werden wollen. Und wenn es keine Geschichte gäbe? Unser Beharren adelt uns also, und es ist unser Blick auf das eigene Leben, der aus vereinzelten Ereignissen und Begebenheiten eine Geschichte macht. Ist damit das Beklemmende aufgelöst? Machen wir es uns zu einfach? Müssen wir näher an das dunkle Herz von Kafkas Geschichte? So kann die Geschichte vom Mann vom Lande auch anders gelesen werden, nämlich als Bild für die Angst, keine Geschichte zu haben. Der Mann vom Lande lebt sein Leben nicht – er verbringt es mit dem Warten auf den Tod, das ist alles. Ihm fehlt der Mut, die Schwelle ins Leben zu überschreiten. Seine Angst vor dem Leben projiziert er auf den Türhüter. Der Mann vom Lande ist der Mann, der ohne Geschichte bleibt, weil er sein Leben nicht wagt oder am falschen Ort sucht. Oder es ist einfach so, dass dem Mann vom Lande ein Leben lang nichts Nennenswertes passiert, dass die Jahre vergehen und keinen Sinn ergeben. Die Geschichte braucht keine Deutung, denn sie ist die präzise Darstellung einer Angst, die wir alle kennen. Es ist die Angst, das eigene Leben sei uninteressant und nicht der Rede wert. Diese Angst kenne ich. Was ist schon bedeutsam an meinem Leben? Ich weiss auch: Ich müsste nur die Augen öffnen, und ich würde sehen, dass mein Leben voller Begebenheiten ist, die der Rede wert sind. Ich bin nicht allein, sondern umgeben von Menschen, die mir etwas bedeuten. Aber ich schliesse die Augen und bleibe bei der Überzeugung, die mir meine Angst eingibt: Es ist nichts. Wenn es so wäre: Ich müsste aufbrechen, ich müsste einen Ort finden, wo ich mein Leben erkennen, sehen, wahrnehmen kann. Ich müsste mehr sehen, als ich normalerweise sehe, wenn ich mein Leben betrachte. Vielleicht ist mir vieles verborgen und ich müsste die Türe zu jenem Reich öffnen, in dem Entscheide über mein Leben fallen, von denen ich nichts weiss, weil es mir nicht bewusst ist. Die Schwelle, die es zu überschreiten gälte, wäre die Schwelle ins Unbewusste, wie es Freud und Jung erforscht haben. Dann würde ich den Schlüssel finden. Ich glaube, ich werde Kafkas Geschichte vom Mann vom Lande weiterhin im Unterricht lesen. Es gibt vieles zu entdecken an ihr. Und indem ich zwischen der Geschichte und dem Leben deutend meine Fäden spinne und Zusammenhänge erkunde, merke ich: Momente, in denen sich Einsichten in die Geschichte einstellen, Einblicke zeigen, Deutungen eröffnen – das sind die kostbaren Augenblicke. Es sind die Momente, in denen das Leben, indem wir uns ihm zuwenden, bedeutend wird.
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