Ich bin meine Geschichte.Der neue ERNST. Wie immer gediegen-gedruckt zu erwerben, und zwar: hier.»
|
Von Adrian Soller
|
Während wir das Abendessen zubereiten, sprechen meine Frau Tess und ich manchmal unsere Bewegungen nach, beschreiben möglichst lückenlos fünf, zehn Minuten unseres Alltages, während er passiert. Läuft Tess zum Kühlschrank, sage ich: «Sie/läuft/zum/Kühlschrank.» Es ist ein Spiel, eine Albernheit, von der niemand je hätte erfahren sollen. Doch ist es ein Spiel mit Wirkung. Wenden wir uns in dieser Art den Dingen zu, bekommt alles eine Bedeutung. Jede noch so kleine Bewegung wird gross. Als würden wir unseren Alltag durch ein Brennglas betrachten, als lebten wir in einem Film.
Wenn wir uns, liebe Lesende, unserer eigenen Lebensgeschichte zuwenden, kann etwas ganz Ähnliches passieren: Auf einmal führt alles zu etwas, auf einmal hängt alles zusammen. Lose Puzzleteile eines Lebens werden über Jahre zu einer Geschichte, dann zu Glaubenssätzen, die nicht nur unsere Vergangenheit ordnen, sondern auch unsere Zukunft mitbestimmen. Dabei müssen wir immer wieder aufs Neue mit uns selbst verhandeln, uns mit uns auf die gute Version der Geschichte einigen. Diesen Gedanken nehme ich mit aus meinem Gespräch mit Manuel. Der ehemalige Agronom, der heute als Psychologe arbeitet, wählt die Momente, die seine Geschichte ausmachen sollen, bewusster aus als früher. Und auch wenn eine Lebensgeschichte nicht einfach ein Baukasten ist: Wo wir an unserer Geschichte bauen, bauen wir an einem Zuhause. In der Schweiz arbeiten tagtäglich Zehntausende in therapeutischen Gesprächen an ihren Geschichten. Wir besuchen den Psychiater Ingo Büschel, der auch jenseits der Worte nach Splittern unserer Geschichte sucht. Mit Masken und anderen Listen lässt er das Unterbewusstsein begehen, lässt uns entdecken, was wir von uns nicht wussten. Geschichten gibt es immer dort, wo es Zuschauerinnen oder Zuhörer gibt. Anita Zulauf hat sich für ERNST auf die Parkbank gesetzt und gewartet, gewartet auf Menschen und ihre Geschichten. Entstanden ist eine Ode an die Zufälligkeit, ein wunderbarer Erzählreigen, ein Fest der Geschichten. Doch von wo kommt eigentlich unsere Sehnsucht unser Leben zu erzählen, von wo das Verlangen, es als eine zusammenhängende Biografie zu verstehen? «Unsere Angst, dass unser Leben nicht der Rede wert ist, treibt uns an», meint Ivo Knill in seinem Essay. Und neben der Angst keine Geschichte zu haben, gäbe es da auch noch die Angst in einer fertigen Geschichte leben zu müssen. Und das bringt mich zu einer anderen Frage: Endet unsere Geschichte mit dem Tod? Frank Keil besucht Bestatter und Trauerredner Stefan Stödter. Mit Bedacht wählt dieser das «letzte Wort» aus, schreibt von «Sehnsucht» statt von «Drogensucht». Ja, wo wir Menschen uns mit uns, mit unserer Biografie, mit unserer Identität befassen, gibt es viele Steigeisen, viele Fallstrike. Wir besuchen Familienforscher Klaus Riecken, der sagt, dass er sich sicherer fühle, wenn er sich in einem grossen Ganzen einbetten könne. Wir machen Station in einem Tattoostudio, wo die Geschichten unter die Haut gehen. Wir beschäftigen uns auch mit dem steten Neuanfang, gehen dorthin, wo wir nicht mehr Protagonist unserer eigenen Geschichte sind. Da ist Magi B., die jetzt in ihren Siebzigern ist und auf ihre Leben zurückschaut, das sind Männer, die sich erst nach Heirat und Kinder zu ihrem Schwulsein bekennen konnten. Auch beschäftigen wir uns mit eigenen Geschichten, die man anderen überstülpt, mit der Brautmutter zum Beispiel. Wir begehen mit Autorin Iris Wolf Lebensgeschichten im literarischen Echoraum. Und natürlich beschäftigen wir uns auch mit den Identitätskategorien, «Mann», «Frau», «Feminist», alles da. ERNST#16 ist also wieder da wo, Geschlechter-, Gesellschafts- und Sinnfragen zusammenfinden. |