Ernst - Magazin fuer Gesellschaft, Sinn und Gender
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«Sie wetzen
ihre Messer
​an
​meinen Fehlern.»

Wie ist es, der zu sein, auf den alle zeigen? Eine Betrachtung von Ivo Knill.»

​​​Alles Verstehen gründet auf Vertrauen. So kommt man miteinander aus. Man kommt ins Zimmer, man hört Bruchstücke eines Gesprächs, man fügt sie zusammen, weiss, worum es geht und steigt sofort ein. Jemand macht einen Fehler? Nicht so schlimm, im Ganzen versteht man sich. Wir sind ein Team. Klar – es gibt Missverständnisse. Wir regen uns auch einmal auf, aber gütlich, denn wir wissen, nicht an der Absicht liegt es, sondern an dieser Handlung oder jener, über die man streiten kann, aber wir lassen uns gelten, wir lassen einander die Fehler durchgehen, weil wir auf das Ganze vertrauen. So ist es, wenn die Arbeit im Team gut geht: Der Boden des Vertrauens trägt.

Der Tag ohne Boden
Dann kann ein Tag kommen, an dem der Boden nicht mehr trägt. Der Tag, an dem offensichtlich wird, dass die anderen einem nicht trauen.
Sie haben eine Liste aufgestellt mit allem, was ich nicht richtig mache. Es ist viel. Zwei überbringen mir die Liste. Ich muss nur verstehen und akzeptieren, was darauf steht, und dann ist alles gut. Ich sehe die Liste, aber lesen kann ich sie nicht. Eure Gesichter sehe ich, aber sie sind fremd und streng. Ihr seid zusammengesessen ohne mich. Ihr habt über das Problem in unserem Team gesprochen, und das Problem, das bin ich. Ihr habt euch getroffen, ihr habt über mich gerichtet, und jetzt bringt ihr das Urteil.
Ihr bringt eine Liste. Und die Liste ist lang.
Die Besprechung ist vorbei, ich stehe auf und ich gehe, aber in meinem Innern, da stürze ich in einen bodenlosen Raum. Ich stürze, und im Sturz sehe ich, wie anders alles schon lange gewesen sein muss. In der Luft drehe ich mich. Ich sehe die Landschaft unter mir, die sich langsam entrollt. Jetzt sehe ich, wie es still wird, wenn ich ins Zimmer komme. Ich stürze und fühle den Abstand, den eine einnimmt, als sie sich zu mir setzt, weil etwas zwischen uns ist. Jetzt merke ich, dass meine Fragen schon lange ins Leere gelaufen sind, und ich sehe, wie ihr mir am Tisch den Platz nicht freimacht. Ich stürze und sehe, dass euer Wegschauen nicht Zufall war. Ich stürze und sehe, wie ihr weggingt aus Gesprächen, die für euch nicht erledigt waren.
Ich nehme wieder und wieder das Papier, aber ich lese es nicht richtig, denn ich weiss, wenn ich mache, was ihr mir sagt, dann bin ich euer Gefangener auf immer. Ihr werdet mit neuen Zetteln kommen, und ich muss fürchten, was ihr mir als Nächstes auf den Leib schreibt. Denn der Mann auf euerm Zettel, dieser Mann bin ich nicht.
Ja: Ich entschied mich, nicht der zu sein, den die andern in mir sahen. Ich entschied mich für mich, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was das sei. Die Hose, die ich an der Besprechung mit euch getragen habe, die Hose und das Hemd: Zweimal habe ich sie noch anzuziehen versucht, dann habe ich sie weggeschmissen.

Die Steine auf dem Stein
Dann haben wir eine Mediation und jeder darf sagen, was das Problem ist. Ich hoffe auf eine Lösung, aber die Gesichter sind hart, denn ich mache meine Sache nicht richtig, und man muss es mir sagen, und zwar klar. Denn wenn ich meine Sache richtig machen würde, müsstet ihr euch nicht aufregen, aber ihr müsst euch aufregen und ich bin der Grund. Ich bin zu nachlässig und greife nicht durch und habe jemand nicht gründlich eingeführt und einem andern alles vorgegeben. Ich möchte etwas sagen zu dem, was ihr sagt, aber die Mediatorin sagt, dass jeder gleich viel sagen darf und ich nicht mehr. Also tritt jeder vor und legt seinen Stein auf den Stein, auf dem mein Name steht, und die Liste auf der Tafel wird länger mit jedem Mal.
Einer sagt, dass ich dominant bin und mich aufdränge und mir zu viel Platz nehme. Jetzt sehe ich sein Gesicht und bin erstaunt, denn habe ich ihm nicht oft geholfen? Aber in seinem Gesicht brennt die Wut, und ich bin der Mann, den ihr ausgesucht habt, um ihn in eure Mitte zu stellen. Ich spüre eure Schläge und spüre sie nicht, nur das Taube, denn ich bin nicht der Mann, den ihr meint, ich bin ein anderer, aber das lasst ihr nicht zu.
In der Pause gibt es Häppchen. Sie bleiben mir im Hals stecken. Ihr lasst mich leben, nur stehen muss ich allein. Dann nehmt ihr wieder eure Messer hervor und wetzt sie und richtet sie gegen mich, denn ihr müsst klarstellen, wie alles war.
Einmal ging ich ins Kino. Im Dunkeln vergass ich alles, draussen am Licht traf mich die Scham wie ein Schlag.
​
Es ist vorbei
Und nun ist alles vorbei. Seit Jahren ist es vorbei. Jetzt ist es Sand, verwehtes Gemäuer. Ich kann daran denken. Manchmal verwickle ich mich darin und bin wieder in der Mühle der Gedanken. Aber nur selten. Ich bin wieder ganz. Was gewesen ist, liegt hinter mir. Ich trage den Gurt wieder, den ich anhatte, als die anderen mit ihrer Liste kamen. Ich traue mir wieder, ich traue den anderen wieder. Die Sache hat sich eingerenkt. Sand, Schnee von gestern. Vorbei.
Aber ich weiss, dass ich im Auto sass und versuchte, zwischen dem Schalten vom ersten in den zweiten Gang nicht daran zu denken. Ich versuchte es, denn ich trug einen Kopf durch die Zeit, in dem sich alles unaufhörlich drehte. Mein Schmerz war unermesslich, denn die andern hatten aufgehört, den in mir zu sehen, der ein Mensch ist. Sie hatten aufgehört, Geduld mit mir zu haben, sie hatten aufgehört, meinen Schmerz und meine Verletzung zu akzeptieren.
Ich ging weg für ein ganzes Jahr. Ich kam zurück. Wieder kam jemand und hatte eine Liste dabei, einen Vorwurf und eine Folie, auf der alles geschrieben stand. Und dann geschah das Wunder: Die andern machten nicht mehr mit. Die Vorwürfe auf der Liste zündeten nicht mehr. Die Lust war vorbei oder auch die Geduld. Die Eifernden blieben allein. Von den vielen, die einmal alle waren, wollte niemand mehr mitmachen, und die wenigen, die noch einmal alle aufbringen wollten, verstummten.
Und dann begann ich, zusammenzusammeln, was Mensch an mir ist. Stück für Stück. Zwischen den Stücken fand ich Scherben von Spiegeln. Die Scherben zeigten mein Gesicht. Ich erschrak, denn mein Gesicht war hart und ohne Gnade. In den Scherben des Spiegels sah ich mich, wie ich mich ereiferte und wie ich mein Messer wetzte und von den Fehlern nicht absehen konnte, die ich in einem anderen Menschen sah. Ertappt legte ich die Scherben beiseite, die Scherben und das Messer, denn ich sah, wie oft ich selber einer war, der anderen nichts vergab. Dieses Stück Mensch, das ich fand, als ich über mich erschrak, war die Scham. Ich sammelte weiter und fand Freude und sammelte weiter und lernte, den Schmerz loszulassen und sammelte weiter und begriff, dass uns ein Leben gegeben ist, und sammelte weiter und vergass es und sammelte weiter und fand die alten Gemäuer des Streites verlassen und gab sie auf.
Und jetzt ist noch mehr Zeit vergangen, und ich habe begonnen, mich wieder sicher zu fühlen und mich zu trauen. Wenn ich an alles zurückdenke, denke ich an Liebe, die sich verrennt, an Scham, die glüht, an Gedanken, die sich drehen. Ich bin froh um den einen Moment, in dem ich beschloss, der nicht zu sein, den sie in mir sahen. Was daraus folgte, war peinlich, denn wir verrannten uns alle. Wenn ich meinem Schmerz einen Namen geben soll, dann war es die Bestürzung darüber, dass mir die Gnade, die Gunst oder auch nur die Selbstverständlichkeit des Verstehens entzogen war. Wenn immer ich etwas tat, über mehr als ein Jahr, dann war die Deutung dazu die schlechtestmögliche: Wenn ich etwas einsah, tat ich nur so, wenn ich beharrte, war ich stur, wenn ich das Zimmer wechseln wollte, wollte ich fliehen, wenn ich bleiben wollte, drängte ich mich auf. Ich war einer, und sie waren viele – das war schwer auszuhalten.
Und jetzt ist es vorbei.

 ernst.ruht@ernstmagazin.com