«WIR BRAUCHEN NEUE RITUALE FÜRS VERZEIHEN.»Ein Gespräch mit der Philosophin Susanne Boshammer über Fehlerkultur, die Wutfalle, «Cancel culture» und darüber, wie man verzeiht statt Nachsicht übt. »
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Interview: Frank Keil
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ERNST: Haben Sie eine Idee, warum ‚Verzeihen‘ in den vergangenen Jahren so stark Thema geworden ist?
Susanne Boshammer: Es könnte unter anderem damit zusammenhängen, dass das Verzeihen lange fraglos war; dass es lange Zeit kein Thema war, weil man gerade in religiös und christlich angehauchten Gesellschaften das Verzeihen nicht in Frage gestellt hat. Jetzt hat man da einen etwas anderen Blick darauf: dass es nämlich durchaus Gründe gibt, nicht immer gleich zu verzeihen. Nachdem es Jahrzehnte so aussah, als würde das Leben immer freier und selbstbestimmter werden, sehen wir nun eine Wiederkehr des Autoritären und Rigiden und nichts scheint zu helfen. Mein Verdacht: Auch das hat das Verzeihen vermehrt zum Thema gemacht. Ich glaube in der Tat auch, dass Verzeihen eine Form des Umgangs mit Ohnmachtserfahrungen ist. Und die grundlegende Ohnmachtserfahrung ist erstens: viele Dinge geschehen, auf die wir keinen Einfluss haben; und zweitens können wir nichts an dem ändern, was geschehen ist. Das gehört zur Conditio Humana, wie dass wir sterben müssen. Dieser Gedanke ‚Du kannst das nicht ändern‘ appelliert an die Frage: ‚Was kannst du vielleicht trotzdem damit machen?‘ Und frage ich mich, wie gehe ich mit Empörung und auch mit Wut um, ist Verzeihen eine Option? Mir ist heute Morgen eine Liedzeile von Wolf Biermann in den Kopf gerutscht: „Die allzu hart sind brechen/ die allzu spitz sind, stechen/ und brechen ab sogleich.“ Das ist ja eine Art Aufforderung zum Innehalten, auch zum Vergeben und Verzeihen und sich nicht in blosse Härte und Wut zu flüchten. Es gibt ein vergleichbares Gedicht von Bert Brecht, seine „Morgendliche Rede an den Baum Griehn“, es ist weniger bekannt, aber es ist ganz toll, und da gibt es folgende, interessante Zeile, in der er [AS2] einen Baum anspricht, der eine Nacht des Sturms überlebt hat: „Und ich weiß jetzt, einzig durch Ihre unerbittliche Nachgiebigkeit stehen Sie heute morgen noch gerade.“ Ihr Gedanke, dass wir in stürmischen Zeiten sind, scheint mir interessant zu sein: Vergangene Woche habe ich den Begriff der „Cancel culture“ kennengelernt. Die Idee ist wohl, dass wir in Zeiten leben, wo Leute bei den geringsten Vergehen gleich Beziehungen beenden und wir die Idee, wir geben uns jeweils eine zweite oder auch dritte Chance, wir fangen noch mal von vorne an, wir integrieren Differenzen und versuchen davon ausgehend weiterzumachen, dass diese Idee im Moment einen schweren Stand hat. Auch weil die Leute, anders als man das früher kannte, sozial so mobil sind. Heute können sie eine Ehe beenden, wenn sie nicht funktioniert. Oder sie können einen Ort verlassen, den Arbeitsplatz wechseln, wenn es da schwierig ist. Die Zeiten, wo das Verzeihen so richtig hoch im Kurs stand, und das ist lange her, waren auch Zeiten, in denen das Entkommen nicht möglich war. Und da brauchte man eine andere Kultur des Umgangs mit Fehlern oder auch mit Unrecht. Wir wollen doch einfach nur, dass es aufhört, was uns bedrückt, was uns wehtut? Man möchte nicht ständig mit dieser Wut wachwerden, man möchte wieder ein anderes Verhältnis zur Welt bekommen. Allerdings bin ich der Meinung, dass Verzeihen weit mehr und im Wesentlichen noch etwas anderes ist, als nur den Groll zu überwinden. Das ist die geläufige Meinung und ich finde die auch richtig: Wenn man verzeiht, dann muss man diese Gefühle tatsächlich überwinden. Wenn man will, dass es aufhört, ist verzeihen ein Weg. Aber man muss sich klar machen, dass wenn man verzeiht, man viel mehr macht als das: Man sendet auch eine Botschaft an die andere Person, die lautet ‚Du musst dir das, was du mir angetan hast, nicht mehr zum Vorwurf machen‘. Insbesondere, wenn man das in den politischen Kontext stellt, ist man natürlich versucht zu sagen: Immer schön vorsichtig mit der Botschaft, denn ich etwa möchte, dass sich etwa Herr Trump gewisse Dinge sehr wohl zum Vorwurf macht. Beim Verzeihen scheint mir die Schwere des zu Verzeihenden und der Zeitpunkt des Verzeihens wichtig zu sein. Die Frage, soll ich verzeihen oder nicht, wird in vielen Momenten eher die Frage: Wann soll ich das tun? Und: Unter welchen Bedingungen soll ich verzeihen? Viel von dem, was gegen das Verzeihen spricht, erübrigt sich mit der Zeit. Dann wieder muss man schauen: Sehen die Leute das überhaupt ein, was sie da gemacht haben? Wenn ich mal auf ihr Heftthema mit den Fehlern zurückgehen darf: Der Gedanke der Fehlerkultur ist ja der, dass man sagt ‚Komm, wir gucken uns deine Fehler mal an, weil wir dann etwas daraus lernen können.‘ Der Gründer von IBM, Thomas Watson, hat gesagt: ‚Wenn du Erfolg haben willst, verdoppele deine Fehlerquote.‘ Das denken wir aber im Bereich des moralischen Unrechts, bei dem es um das Verzeihen geht, so gar nicht. Wir sagen interessanterweise nicht: ‚Wenn du dich moralisch weiterentwickeln willst, dann tue ein paar Leuten Unrecht und guck, wie sich das anfühlt.‘ Oder: ‚Was kannst du aus deinem schlechten Gewissen lernen?‘ Moralisch Unrechtes zu tun ist etwas Schwerwiegendes, das wir nach Möglichkeit vermeiden sollten. Wäre nicht manchmal etwas Nachsicht hilfreich, ein saloppes ‚Schwamm drüber!‘? Im Unterschied zur Nachsicht ist das Verzeihen ein Vorgang, der ausdrücklich thematisiert, dass das, was hier passiert ist, nicht in Ordnung ist. Und das hat viel mit Fehlerkultur zu tun. Ich glaube, der Vorteil im Verzeihen ist, dass wir eben nicht darüber hinwegsehen, dass wir nicht einfach versuchen, das Gefühl loszuwerden, in dem wir vergessen. Oder in dem wir das entschuldigen nach dem Motto: ‚Der konnte ja gar nichts dafür …‘ - ‚Der wusste das gar nicht, das mich das so verletzen würde …‘ - ‚Das war nicht bös gemeint‘. Das sind Umgangsweisen mit Unrecht, aus denen wir viel weniger lernen können als aus dem Akt der Vergebung. Dass es zuweilen so schwierig ist mit dem Verzeihen, könnte auch daran liegen, dass wir keine Form, keine Rituale haben, wie man verzeiht? Das habe ich auch schon überlegt. Schon das Wort ‚verzeihen‘ kommt einem so antiquiert vor. Dazu noch das Wort ‚vergeben‘, das ist zusätzlich religiös konnotiert und es hat immer so etwas Dramatisches. Ich glaube, dass wir in unserer Alltagskommunikation für die Dramaturgie des Entschuldigens und des Verzeihens und auch für die Geste selbst tatsächlich keine Form haben. Wenn ich mich als kleiner Junge auf dem Schulhof mit einem anderen Jungen geschubst oder geprügelt hatte, dann musste ich mich öffentlich entschuldigen: Wir standen zu zweit vor dem Lehrerpult, die Klasse schaute zu, die Lehrerin war eine Art Priesterin und dirigierte das Entschuldigen. Mit Hand-schütteln und sich anschauen. Heute lacht man über solche Form. Und haben Sie das als entwürdigend empfunden oder erscheint Ihnen das eher sinnvoll? Beides – es war schwierig, weil es damals sozusagen kein Gespräch gab, ob ich den anderen vielleicht mit Grund geschubst hatte oder ob der mich schon immer geärgert hatte; allein die Lehrerin entschied, wer der Schuldige war, der sich zu entschuldigen hatte. Aber der Moment des sichtbaren Entschuldigens, so im Nachhinein hat der was. Ich finde das absolut richtig, was Sie sagen: Wenn Dinge eine Form haben, dann haben sie immer einen Rahmen und damit auch eine Grenze. Sie wissen dann, wo sie hingehören. Und man weiss dann auch, wann etwas zu Ende ist. Und man kann wieder neu anfangen? In all unseren Beziehungen, in der Art, wie Menschen einander begegnen, passieren permanent Dinge, die das Zeug dazu hätten, Gegenstand einer Entschuldigung und einer Bitte um Verzeihung zu sein. Der Gedanke steckt also schon auch hinter dem Verzeihen, dass wir miteinander weitermachen müssen. Von daher denke ich, dass es in allen Weltreligionen ein Verzeihungsgebot gibt, hat damit zu tun, dass man Verzeihen viel mehr brauchte, weil man eben nicht weggehen konnte. Das Beispiel, dass Sie eben gebracht haben, zeigt es ja deutlich: In einer Schulklasse sitzt man den Rest des Jahres zusammen. Und im nächsten Schuljahr vermutlich auch. Sie beginnen Ihr Buch nicht zufällig mit dem Beispiel der Scheidung, oder? Sich-scheiden-lassen ist ein verbreitetes Phänomen, es hat wirtschaftliche Folgen und ausserdem leiden viele Leute lange unter einer solchen Trennung. Was ich diesbezüglich wichtig finde: dass wir verstehen, dass Verzeihen etwas anderes ist, als sich mit jemanden zu versöhnen. Und dass man sich von Leuten wirklich leichter trennen kann, wenn man ihnen verzeiht. Es gibt zwei Hindernisse: das eine ist, ich kann das nicht aufrichtig machen, weil ich jetzt schon weiss, das vergesse ich eh nie. Und da ist es wichtig zu verstehen: Du musst nicht vergessen, um verzeihen zu können. Verzeihen und Erinnerungskultur passt prima zusammen. Genaugenommen ist es sogar so, dass ich mich vielleicht endlich befreit erinnern darf, wenn ich verziehen habe; ich muss das Geschehene dann nicht mehr verdrängen. Und das andere, zweite ist, was mir Menschen erzählen: ‚Ich verzeihe dem nicht, weil ich will mit dem nichts mehr zu tun haben.‘ Wo ich denke: Ja, geht auch beides. Du kannst verzeihen, und du musst dich nicht versöhnen. Du kannst das, was vorgefallen ist, mit der Botschaft verbinden, das musst du mir nicht mehr zum Vorwurf machen – und was jetzt aus uns beiden wird, das ist eine komplett andere Geschichte. Und sei es, dass wir uns nie wiedersehen. Verzeihen ist immer wieder eine Chance, das etwas anderes passiert? Ich kann nach der Arbeit an meinem Buch nicht mehr sagen, dass ich ein uneingeschränkter Fan des Verzeihens bin, aber ich glaube, dass es viele Gründe gibt, die dafür sprechen, das Verzeihen etwas Segensreiches haben kann. Was ich schade finde, ist, wenn Leute nicht verzeihen möchten und es deswegen nicht tun, weil sie denken, sie unterschreiben damit irgendwelche Fortsetzungsromane. Oder sie denken: Ich muss dann versucht sein, da nicht mehr dran zu denken. Ich habe ja einige Bücher gelesen, in denen Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen wie das Buch des Schweizers Daniel Pittet, der jahrelang von einem Priester missbraucht wurde: „Pater, ich vergebe Euch.“ Was ich erstaunlich fand, war: Der Täter wird in dem Buch namentlich genannt. Man könnte denken, dass das eine extreme Form der Rache ist, dass ich, in dem ich dieses Buch schreibe, prinzipiell der ganzen Welt mitteile, diese Person mit diesem bürgerlichen Klarnamen hat das mit mir gemacht. Neulich hatte ich mit einem Männerberater zu tun, der erzählte: Vor mir sitzen Männer, die jede Sitzung erneut ihre Ex-Frau symbolisch niederringen und die das auch immer wieder belebt. Aber irgendwann wird ihnen klar: Das führt zu nichts – ich muss raus aus dieser Wutfalle. Empörung und Wut haben etwas sehr Vitalisierendes. Aber diese Emotionen sind anstrengend, und das mit der Falle ist nicht schlecht: Wenn man nicht aufpasst, dann ist es wirklich so, dass man wie gefangen darin ist. Man kann ja vieles nicht so einfach durch Beschluss ändern. Aber man kann sehr viel dafür tun, dass man es nicht weiter kultiviert. Mich wundert immer wieder, wie oft Menschen davon ausgehen, sie selbst seien so machtlos gegenüber der eigenen Emotionalität. Wie können wir mit erlebtem, schwerem Unrecht umgehen? Das Schwierige mit dem Unrecht ist: Es hat eine äussere Form, wir können diese beschreiben, aber in seiner Wirkung auf die Person ist es ja so unglaublich subjektiv. Was weiss ich schon vom anderen? Was weiss ich, wie oft er schon gekränkt worden ist, so dass er auf meine Nebenbei-Bemerkung ganz anders reagiert, als Menschen das sonst tun würden? Wir sind einander ja extrem verborgen. Das Ausmass des Unrechts, das glaube ich tatsächlich, lässt sich nicht am Inhalt der Handlung ablesen. Wie oft denkt man: Na, der hat jetzt ja völlig übertrieben reagiert! Und irgendwann erfährt man: Die erlebt das jetzt schon zum zehnten Mal. Bei Beziehungsgeschichten ist es ja extrem so, dass man nicht weiss, was ist der Hintergrund der Menschen, was ist ihre Geschichte. Sie nennen oft Beispiele aus der Welt der Familie. Etwa: Die Geschwister kümmern sich nicht um die alten Eltern, während man selbst diese ständig besucht. Wenn man zum Verzeihen Vorträge hält, wie ich das tue, stellen die Menschen hinterher Fragen oder sie erzählen etwas, und ich bin erstens immer wieder überrascht, wie persönlich die Menschen sprechen, und da geht es zweitens fast ausnahmslos um Familie und sehr viel geht es um Geschwister. Oder nehmen Sie das Gleichnis in der Bibel vom verlorenen Sohn: Der Vater verzeiht dem Sohn, aber wer grollt? Es ist der Bruder. Die Herkunftsfamilie ist der einzig verbliebene Kontext, in dem immer noch das gilt: Wir kommen da nicht raus! Wir können den Kontakt zu unseren Eltern abbrechen, aber sie bleiben unsere Eltern. Ich kann sagen, ich habe mit meiner Schwester nichts mehr zu tun, die mich bei der Pflege unserer Eltern so hat hängenlassen – sie bleibt meine Schwester, ich kann mir keine neue suchen. Verzeihen oder nicht verzeihen – das wird die Frage bleiben? Wir müssen lernen, und da finde ich Ihren Gedanken mit den Ritualen sehr hilfreich, einen kultivierten und konstruktiven Umgang mit den Schwierigkeiten des menschlichen Zusammenlebens zu finden. Und dazu gehört, dass wir einander Unrecht tun und einander verletzen. Der Umgang kann genauso darin liegen, dass man sich trennt, wie dass man zusammenbleibt – und er kann darin liegen, dass man bestimmte Dinge nicht verzeiht. Und wenn man das nicht tut oder wenn man sich dazu nicht in Stande sieht, dann müssen wir eine Form finden, wie es ein Morgen geben kann. Ansonsten treten wir permanent auf der Stelle. Hannah Arendt, ich zitiere sie in meinem Buch ja öfters, hat gesagt: ‚Könnten wir einander nicht vergeben, beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln auf eine einzige Tat.‘ Und das ist genau der Gedanke: dass wir nicht weiterkommen, wenn wir nicht zu einem Umgang mit dem Geschehenen finden. Denn ändern können wir es nicht. Und Verzeihen ist eine Möglichkeit, damit wir auch morgen noch etwas miteinander zu tun haben können. Susanne Boshammer: „Die zweite Chance. Warum wir einander (nicht alles) verzeihen sollten“; Rowohlt, Hamburg, 2020; 240 Seiten, 25 Euro. Susanne Boshammer ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Osnabrück; sie ist regelmässig in der Sendung „Philosophisches Radio“ auf WDR 5 zu hören. |