WO WIR LIEBEN,
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Texte: Anna Pieger, Giulia Bernardi und Adrian Soller
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Ich wollte immer, dass du bleibst
Ich bin zehn, mein Vater schreit, meine Mutter weint. Und ich weine auch, weil es laut ist und ich nicht weiterweiss. «Mir reicht’s», sagt er. «Ich hab die Nase voll von euch, von eurem ewigen Gejammer. Ich hab euch lange genug ausgehalten. Ich komme klar ohne euch. Aber ihr, ihr kommt nicht klar, ihr werdet schon sehen. Ohne mich seid ihr nichts.» Ich wusste nicht, woher dieses Gefühl in ihm kam. Plötzlich war es da und er drückte es auf mich drauf. Und ich fing es auf, hielt es aus. Wenn ich es aushalte, dann bleibt er vielleicht. Ich wollte immer, dass er bleibt. Ohne ihn – was würden wir nur ohne ihn tun? Schmerz und Liebe, das eine ging wohl nicht ohne das andere. Und ich wusste, dass ich stark sein muss, aushalten muss. Ich wusste, ich muss mir Liebe verdienen. Und bei ihm war sie immer teuer. «Geht er jetzt?», fragte mein Bruder. «Ich weiss nicht», antwortete ich, wurde wütend. «Ich weiss es nicht, okay?», musste weinen. Und ich war wütend, dass mir nach Weinen zumute war, dass ich schwach war, nicht so sein konnte, wie er es wollte. Ich weinte, hasste mich, bis es Morgen war. Ich wollte nicht aufstehen. Was, wenn er nicht mehr da ist? Doch er war noch da. Das war er immer. Und ich war immer erleichtert. Ein Neuanfang, dachte ich mir. Ich kann es nochmal versuchen, kann ihm beweisen, dass ich gut genug bin und er nicht gehen soll. Dass alles gut wird, dass wir eine Familie sind und zusammengehören. Ist es nicht das, was Familien tun? Ich gab mir Mühe, machte Spiegeleier. Alles wird gut, alles wird gut, währenddessen die Eier verbrannten. «Sag mal, kriegst du nicht mal das auf die Reihe?» Nein, es tut mir leid, du hast recht. Ich verdiene deine Liebe nicht. Deine seltsame Liebe, die mich erdrückt, mich kaputt macht; und ich lasse sie, damit du mich nicht verlässt. Bitte – geh nicht. Bitte – gib mich nicht auf. Heute will ich nur noch, dass du gehst. Zwanzig Jahre später sitze ich in meinem Schlafzimmer und weine, weil ich wieder zehn bin und dieses Gefühl noch immer mit mir herumtrage. Nimm es zurück, ich will es nicht! Doch du nimmst es nicht, denn du weisst nicht und ich weiss nicht wohin damit. Also bleibt es bei mir, umschlingt mich, nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Erinnert mich daran, wie es früher war und dass ich nicht vergessen kann; erinnert mich daran, dass es vielleicht für immer bleiben wird, dass ich immer Angst haben werde; nicht gut genug zu sein, verlassen zu werden. Also gehe ich zuerst. Schmerz und Liebe, das gehört wohl zusammen. Das hast du mir beigebracht, erinnerst du dich? Und nun erkenne ich Liebe nur noch wenn sie weh tut, nicht wenn sie leicht oder zärtlich ist, sondern wenn sie schwer und schmerzvoll ist. Das hast du mir beigebracht, erinnerst du dich? Ich wollte immer, dass du bleibst. Und jetzt willst du es auch, sagst, du bist stolz auf mich. Wie gerne hätte ich das früher gehört. Wie oft habe ich mich nach diesen Worten gesehnt, nach «ich hab dich lieb» und «du machst das schon richtig», nach «du bist gut, so wie du bist». Doch die Worte kamen nie. Nun sind sie endlich ausgesprochen, endlich angekommen, schauen mich fragend an. Ich will sie nicht mehr. Bitte nimm sie und geh. Ich wollte immer, dass du bleibst. Und jetzt willst du es auch, klammerst an mir, weil du alt, ängstlich und allein bist. Ich kann nicht bei dir bleiben, kann dir nicht verzeihen. Und ich bin traurig, dass ich es nicht kann. Und wütend, dass es mich traurig macht und traurig, weil ich mich kalt und herzlos fühle und vielleicht kurz davor, so zu werden wie du. Doch ich bin nicht so – ich bin nicht so wie du. Bin ich? Ich wollte immer, dass du bleibst. Doch jetzt kann ich nicht bleiben. Es tut mir leid, deine Liebe ist zu schwer. Ich kann sie nicht mehr tragen, nicht mehr ertragen. Du hattest recht – ich verdiene sie nicht. Text: Giulia Bernardi Mein bester Fehler Ich war fünf. Und muss irgendwie geahnt haben, dass gewisse Dinge besser im Verborgenen getan werden. Also verzog ich mich im Kinderzimmer mit meiner besten Kindergartenfreundin unter die Bettdecke. Vorher hatten wir uns unserer Kleidung entledigt. Da sassen wir wie in einer Höhle einander nackt gegenüber, gerade genug Licht fiel durch das Gewebe der Bettwäsche und die Daunen, als dass wir uns im Wiederschein des taghellen Kinderzimmers schemenhaft erkennen konnten. Mit Filzstiften fuhren wir uns konzentriert in Linien über die entblössten Körper, beginnend bei den Fingern, den Arm entlang, über den harten Ellbogen, zu den Schultern, an den Flanken kitzelte die Filzstiftspitze auf der Haut und wir zuckten und lachten. Weiter über die Oberschenkel, die Knie bis zu den Zehen. Wir zogen Linien in Gelb, Blau, Rot, Grün, die Farben waren im Halbdunkel nur zu erahnen. Ab und an kicherten wir, dann wurden wir wieder konzentriert und still. Es war schön, den Filzstift über den Körper der Freundin zu führen und es machte ebenso viel Freude, bemalt zu werden. Aber dann öffnete die Mutter die Tür und fragte in angespanntem Tonfall, was wir da machten. Noch hatte ich ihr nicht ins Gesicht geschaut und so antwortete ich frank und frei: «Wir malen uns an.» Dann zog ich die Decke vom Kopf und gab den Blick frei auf unser Werk. Das Gelb sah enttäuschend blass aus, selbst auf unserer bleichen Winterhaut, aber das Rot und das Grün und das Blau hatten wunderbar deutliche Spuren ergeben, ein Netz aus wackeligen Linien, die sich über den ganzen Leib zogen. Die Gesichtszüge meiner sonst so liberal eingestellten und allem kreativen Ausdruck wohlwollend gesinnten Mutter entgleisten. «Was habt ihr euch bloss dabei gedacht?». Mit harten Händen packte sie mich und beorderte uns beide ins Badezimmer, wo sie uns mit viel Seife und einem rauen Waschlappen schrubbte, bis die Linien verblassten. Zum Verschwinden zu bringen waren sie nicht. Ich spürte, dass ich über eine Grenze gegangen war und dass die Verärgerung meiner Mutter weniger mit dem kreativen Akt der Körperbemalung zu tun hatte als mit der Scham darüber, was die Eltern meiner Freundin beim Abholen denken und sagen würden, wenn sie ein von Kopf bis Fuss mit Filzstiftlinien verziertes Kind zurückbekommen würden. Die stille Freude über das Erlebte und die davon kündenden Male auf meinen Armen und Beinen, meinem Bauch blieben. Text: Anna Pieger Sofia und der Werwolf Sie steht vom Sofa auf, geht zwei, drei Schritte durchs Wohnzimmer, um sich dann sogleich wieder hinzusetzen. Die Einsamkeit bricht über sie hinein. Er ist zu spät. Er ist schon wieder zu spät. Viertelnach. Sofia spürt, wie ihr die Tränen herunterlaufen, für die sie sich so schämt. Klar, ja, ihr Freund ist super-unzuverlässig. Klar, ja, sie darf sich nerven, darf enttäuscht sein. Aber nicht so, nicht schon wieder weinen, nicht schon wieder diese Wut. Heute will sie ihn nicht anschreien, wenn er nach Hause kommt. Das hatten wir doch alles schon, denkt sie sich. Zwanzignach. Sie steht wieder auf. Am liebsten würde sie jetzt ihr Handy an die Wand knallen. Sie muss es beiseitelegen, etwas machen, irgendetwas machen. Sie schaltet die Nähmaschine ein. 22 Minuten. So ein Arsch! Ihre Wut auf Reto war geboren, lange schon bevor sie Reto kannte. Sofia weiss das und das macht sie nur noch wütender. Sofia wurde als Jugendliche gemobbt. Sie war anders. Das heisst, nicht mal unbedingt sie war es, ihre Familie war es, Hippies im bürgerlichen Umfeld halt. Da waren allerlei Gerüchte, Sektenfamilie, hiess es, oder: Geht Deine Mutter in die Psychi? Nichts davon stimmte, nichts war wahr, doch Sofia war in den Geschichten der anderen gefangen, in jenen Wahrheiten verstrickt, die eigentlich keine waren. Immer war da dieses Gelächter. Immer war da diese Ausgrenzung. Sie, Sofia, nein, sie gehörte einfach nicht dazu. Sie hatte keine Freunde. Sie konnte kaum je mitmachen. Sofia, nein, du nicht. Sofia, geh’ doch nach Hause! Sofia, ja, Sofia hatte das Gefühl: Niemand liebt mich! Und wenn Reto jetzt eben schon wieder zu spät nach Hause kommt, das weiss sie doch, heisst das nicht gleich, dass er sie nicht liebt. 27 Minuten. Er ist halt so. So oft hat sie das mit Vondrak besprochen. Einmal die Woche, seit Jahren schon. Klar, ja, Reto ist etwas unfair, etwas rücksichtslos, u-n-s-e-n-s-i-b-e-l! Aber eigentlich, das weiss sie ja, sollte sie ihm deswegen jetzt auch nicht gleich ihr ganzes Verlassenheitsgefühl ungefiltert an den Kopf knallen. Ein bisschen wollte sie das alles ja auch, sie wollte so einen Künstlertypen, der ihr die Freiheit lehren sollte. Und auch wenn das Gefühl in ihrer Brust gerechtfertigt sein sollte, (nein: gerechtfertigt ist!!!), so anschwellen müsste es ja nicht gleich. Ihre Wut ist, und das weiss sie, das weiss sie eigentlich, in ihrem Ausmass übertrieben. Sie will sie ja auch nicht. Sie kommt wie ein ungebetener Gast. Sie passiert. Sie übernimmt Besitz. Ich bin ein Vampir. Oder ein Werwolf. So hatte sie es ihrem netten Psychologen, diesem Vondrak, mit seiner Katze auf dem Schoss, einmal erklärt: Ich bin gebissen worden und muss nun weiterbeissen. Sonst hält sie’s nicht aus, nicht in dieser Wohnung, nicht an der Nähmaschine, nicht in ihr. Die Türe geht. Er kommt. Reto kommt. Atmen, sagt sich sie jetzt, in den Bauch hinein atmen, atmen. Sofia wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Text: Adrian Soller |