Ein Fehler
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von Adrian Soller
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Gut möglich, dass sie an der Supermarktkasse mal hintereinandergestanden sind oder im selben Film sassen. Gut möglich, dass sie mal aneinander vorbeigelaufen sind, ohne sich zu beachten. Gut möglich, aber auch, dass sich ihre Wege gar nie kreuzten, dass sie sich nur jetzt und einzig und alleine in meinem Kopf zusammengesellen. Denn die Welt ist gross und nicht immer haben die Menschen viel gemein: Der eine ist jung, der andere alt. Der eine ist nett, der andere weniger. Der eine war Schüler, der andere Lehrer. Der Lehrer hat mir in den frühen Neunzigern meine Bastelarbeit auf den Boden geworfen, von wo ich sie aufzulesen hatte, weil sie zwölf Millimeter von der Vorlage abwich. Der Schüler liess mich auf sein Bett absitzen, obwohl er mich nicht kannte, als ich für eine Zeitung einen meiner ersten Portraittexte über seine Gamesucht schrieb, die eben nur für seine Eltern und den Psychologen eine Gamesucht war, nicht aber für ihn, für ihn war «World of Warcraft» einfach ein wunderbares Hobby. Auch wenn ich beim Spieler technisch und faktisch gesehen wohl alles richtig gemacht habe und beim anderen, bei meinem Lehrer, alles falsch, emotional gesehen verhält es sich genau umgekehrt: Die zwölf Millimeter Unterschied fühlten sich richtig wichtig an, weil dieses Gespenst auf der Papier-Laterne einfach einen grösseren Kopf haben musste. Beim Schüler hingegen spürte ich, dass das, was ich da so über ihn schieb, vielleicht nicht falsch war, aber es war zu wenig, es war zu eng, mein Blick war zu steif. Ich habe ihn für meinen Text zurechtgeschrieben, ihn in meine Sicht und in die Welt seiner Experten gezwängt. Gut möglich also, dass der Fehler viel mehr ist als eine blosse Abweichung. Gut möglich, dass ein Fehler zwar nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch ist. Für dieses Heft sind wir jedenfalls hingegangen, und haben versucht die Landschaft im Dazwischen zu kartographieren. Was macht man nicht jeden Tag falsch, sagt das falsche, denkt das falsche. Und ist es nicht gleichzeitig gut, dass man Fehler macht – um aus ihnen zu lernen? Und so sass der Beichtvater Stefan Staubli im Winterthurer Pfarramt auf einem Stuhl, lächelte nachsichtig und gab uns einen Tipp mit auf den Weg: Wir sollten die Landschaft der Fehler nicht allzu engmaschig vermessen. Es brauche eine gewisse Grosszügigkeit, mit sich und mit den anderen. Und man soll verzeihen können. Die Philosophin Susanne Boshammer findet das auch – aber wir bräuchten auch nicht alles zu verzeihen. Mit Tom Waits im Ohr und Michel Foucault im Gedächtnis versuchten wir herauszufinden, wieso wir so oft noch unsere Messer an den Fehlern der anderen wetzen. Und da ist Ivo Knill, der sich an einen Tag ohne Boden erinnert. Und da ist der Soziologe Martin Schoch, der beschreibt, wie uns Menschen, seitdem wir zu Wirtschaftsfaktoren geworden seien, unsere Angst vor den Fehlern diszipliniere. Auch gingen wir dorthin, wo Fehler nicht passieren dürfen, sprachen mit einem Medizinhistoriker und einem Fluglotsen. Und wir gingen nach Hause mit dem Gefühl, dass nicht der Fehler das Problem ist, sondern seine Unvorhersehbarkeit. Und ja, sowieso klar: Wir haben uns nicht nur den Fehlern, sondern auch den Ideen und ihren Geschlechterthemen gewidmet. Der Vaterschaftsurlaub ist wichtig und in Sicht und er fehlt im Heft nicht. Das Queersein im Alter und seine Geschichten auch nicht. Und auch die wunderbar-eindringlichen Kurzgeschichten von Simone Adams und Anna Pieger, die zarten Illustrationen und liebevoll-gesammelten Fotos, vom Berner Illustrator Simon Bretscher und vom niederländischen Künstler Erik Kessel fehlen nicht. Und so fehlt es in diesem ERNST wieder an fast nichts, und wo es doch noch an etwas fehlen sollte, ist es auch mein Fehler. Und das fehlte mir gerade noch. Denn: Fehler machen die Anderen. Film zum Heft Der siebensekündige Film zum Heft wird Dir präsentiert von der Burgdorfer Messerschmiede Klötzli. |