Selbst Nicht-Religiöse Menschen beten.
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«Nicht einmal meine Frau weiss, dass ich bete.» |
Bei vielen passiert es vor dem Einschlafen, ungesagt und ungesehen.»
Texte: Katharina Wuethrich, Stephanie Blankenstein und Adrian Soller
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«Man hat ein bisschen gebetet»
Als ich noch klein war, kam meine Mutter Abend für Abend vor dem Einschlafen zu mir ans Bett. Sie gab mir einen Gutenachtkuss und las mir manchmal sogar noch eine Geschichte vor. Und fast immer haben wir eben dann, irgendwo zwischen Geschichte und Kuss, noch zusammen gebetet. Schutzengelchen mein, lass mich dir empfohlen sein. Ich hatte damals nicht verstanden, dass wir beteten, dass das, was wir machten, beten war. «Schutzengelchen-mein» war für mich ein einziges zusammenhängendes Wort, das irgendwie lustig klang und keine weitere Bedeutung hatte. Das Gebet war für mich einfach ein angenehm-rhythmischer Vers, den meine Mutter mir nie erklärte und den ich auch nie erklärt haben wollte. Es war irgendwie schön. Vielleicht war meine Mutter, damals in den frühen Achtzigern, etwas unsicher, wie sie das mit dem Glauben handhaben sollte. Sie war wohl irgendwo zwischen Zweifeln und Glauben. Und so hat man einfach ein bisschen geglaubt. Und das auch nur vier, fünf Jahre lang. Naja, mein Glaube hat es dann auch nicht überlebt. Oder er hat sich gar nie erst richtig entwickelt. Aus der Kirche bin ich jedenfalls lange schon ausgetreten. Da sind keine Gebete. Da ist kein Gott. Fabienne, 36 «Ein Gesprächsfaden durch mein Leben» Ich bete, ich bete jeden Tag. Es gelingt mir selten, dabei wirklich an Gott zu glauben. Aber das ist vielleicht auch nicht das Wichtigste. Ein Ritual und Gesprächsfaden durch mein Leben ist es ohnehin. Lukas, 37 Dort oben Zwei Minuten dauerte es, maximal drei, mehr sicher nicht. Mein Ritual ist recht kurz und niemand weiss davon. Nicht einmal meine Frau. Seit zwanzig Jahren schaue ich nämlich Nacht für Nacht vor dem Einschlafen aus dem Fenster, suche den Nachthimmel nach Sternen ab und denke dabei an meine verstorbene Grossmutter. «Alles werde gut», hatte sie damals gesagt, als sie im Sterben lag. Ich solle jetzt bloss keine Angst haben um sie. Sie sei bald im Himmel. Sie war fromm. Katholisch war sie. Und ich, ich wäre, ganz egal, was eben passiere, nie allein. Denn sie wäre ja da. Sie wäre bald oben im Himmel und passe dort auf mich auf. Als Stern werde sie am Nachthimmel stehen – und zu mir schauen. Das hat sie gesagt. Das hat sie geglaubt. Das hat sie wirklich geglaubt. Zwei Tage später starb sie dann. Und seither, zwanzig Jahre sind nun doch schon vergangen, schaue ich Nacht für Nacht vor dem Einschlafen aus dem Fenster, suche den Nachthimmel nach Sternen ab und bedanke mich bei meiner Oma. Ich bedanke mich bei ihr, dass sie so gut auf mich schaut, ich bedanke mich bei ihr für alles, was gut ist in meinem Leben. Ich bedanke mich für meinen neuen Schreibtisch, den schönen Tag, den neuen Auftrag. Ich schaue dann genau hin, freue mich darüber, dass mein Nachbar den Müllsack heute für mich rausgetragen hat, oder erinnere mich an das Glace, das mir mein Bürogspändli am Nachmittag geschenkt hat. Ich bin ihr sehr dankbar für alles, das sie dort oben so für mich macht. Andreas, 39 «Jesus war mir lange unsympathisch» Gebetet habe ich zwar immer, aber immer an Jesus vorbei, direkt zu Gott. Dass Jesus der Sohn Gottes sein sollte, hat ihn mir immer so richtig unsympathisch gemacht. Wer sollte ich denn dann sein? Etwa nur ein Stiefkind? Jesus habe ich immer versucht zu ignorieren, was natürlich nicht gelang, bei jemandem, der so überragend gute Taten vollbringt. Stephanie, 53 «Beschütze mich vor meinen Wünschen» Wenn ich eine Bitte loslasse, droht sie sich zu erfüllen. Deshalb bin ich vorsichtig geworden beim Beten. Meine kleinherzigen, egoistischen, kurzsichtigen Wünsche möchte ich lieber nicht durchsetzen, da bin ich gebrannt. Ich bete lieber: Dein Wille geschehe und übe mich im Vertrauen, dass es schon gut wird. Katharina, 55 «Ich las vom Zettel ab» Das letzte Mal gebetet oder wenigstens so getan, als ob ich beten würde, habe ich wohl nach dem Beichten. Ich war Kind, musste in den Religionsunterricht, und dort gab es diesen Beichtzwang. Ich hatte über Jahre immer den gleichen Zettel dabei. Man konnte wählen: mit oder ohne Licht, Vorhang offen oder zu. Und ich, ich wählte Licht – und Vorhang zu. So konnte ich in Ruhe von meinem Zettel ablesen, ohne dass mich der Pfarrer sehen konnte. Das ging solange gut, bis ich, es war im letzten Jahr meines Unterrichts, wohl für einmal etwas zu laut mit meinem Papier in der Hand raschelte und der Pfarrer merkte, dass ich alles nur abgelesen hatte. Er hat mir dann empfohlen, frei aus dem Herzen zu sprechen. Gott könne man alles anvertrauen. Das schon, dachte ich mir. Aber ihm? Diesem alten Mann in lustiger Verkleidung? Andrea, 36 Man weiss ja nie Ich hab’ jetzt nicht Angst, nicht wirklich. Vielleicht etwas in Sorge bin ich. Man muss wissen: Mein Vater ist an Krebs gestorben. Ich weiss halt, was es bedeutet, nicht gesund zu sein, wenn einem das Lebensfundament von einem Tag auf den anderen einfach so wegbricht. Und vielleicht kommt sie ja daher, meine, ja, wie soll ich sagen, manchmal vielleicht etwas übermässige Sorge um meine Gesundheit. Wenigstens erzähle ich mir meine eigene Geschichte so. Man hat ja so ein Bild von sich. Diesen März jedenfalls liege ich dann schon manchmal nachts im Bett, meine Frau schläft neben mir, und ich liege einfach da, unterdrücke den Hustenreiz und versuche das Keine-Luft-Bekommen zur Seite zu schieben, bis es wieder geht. Ich sage mir dann, ganz ruhig, Andrea, ganz ruhig. Es ist nichts. Du hast kein Fieber. Du bist kein Risikopatient, du nicht. Und dann ja, dann bete ich vorsorglich doch noch, ich, die mit Zwanzig schon, aus der Kirche ausgetreten ist, bete dann. Ich sage dann Sachen wie «Lieber Gott» und «beschütze mich.» Zur Sicherheit einfach, man weiss ja nie. Fabian, 39 Erst Dinosaurier, dann Gott Es war für mich so etwas wie James Bond. Als ich Kind war, blätterten wir zuhause manchmal durch ein Bilderbuch mit biblischen Geschichten. Kain und Abel. David und Goliath. Diese Männer haben mich schon fasziniert. Vielleicht nicht ganz so arg wie die Dinosaurier. Aber doch fasziniert. Adrian, 39 Einfach Geschichten Da gab es ein Büchlein mit einem Kinderkopf darauf, aus dem mir meine Mutter vor dem Schlafengehen vorlas. Es muss so eine Art Gebetsbuch gewesen sein. Vater-unser war wohl drin. Aber mit Beten hatte das alles nichts zu tun. Es waren einfach Geschichten. André, 39 «Hast du heute deine Viertelstunde schon gemacht?» Vor allem bete ich in der Stille. Vor allem, bevor ich mich der Welt aussetze und der Welt mich zumute. Jeden Morgen ungefähr zwanzig Minuten lang, ohne Worte oder genauer mit einem inwendigen Gebetswort, das ich immer wiederhole. Meinen Kindern als «meine Viertelstunde» bekannt. «Hast du heute deine Viertelstunde schon gemacht?», fragten sie mich mal, als ich besonders unleidlich war. Und tatsächlich, seit drei Tagen hatte ich sie nicht gemacht. Dieser Moment ist nun zehn Jahre her. Seitdem habe ich mein Gebet fast nie mehr versäumt. Stephanie, 53 «In mir die alten Lieder» Wenn ich auf dem Fahrrad sitze und zur Arbeit pedale, singt’s in mir manchmal die alten Lieder. Katharina, 55 Glaubenssatz I Nein, da ist nichts, gar nichts. Ich bete nicht, nein, nie, naja, wart', vielleicht, vielleicht passt am ehesten noch dieser quantenphysische Ansatz. So ganz genau erklären kann ich’s nicht. Ich habe es aus einem Buch. Das heisst, mein Mann hat es gelesen, und wir haben mal darüber gesprochen. Es ging irgendwie um Parallelwelten, darum, dass jede Entscheidung, die ich fälle, Einfluss auf mein Leben hat und zwar in dem Sinn eben, dass alle möglichen Lebenswege parallel existieren. Alles passiert. Alles passiert zeitgleich. Alles ist real. Du lebst zur selben Zeit mehr als nur ein Leben. Crazy, ich weiss. Die Idee im Buch war jedenfalls, so wie ich’s verstand, dass man sich immer für einen dieser Wege entscheidet, die alle nebeneinander existieren. Denn Zeit sei ja nichts Lineares und so. Wie auch immer: Was ich für mich daraus nehme ist, dass ich mein Leben selber in der Hand habe. Meine Entscheidung zählt. Vielleicht, mag sein, kann man dem Zufall manchmal etwas nachhelfen, in dem man einen Lebensweg vor dem geistigen Auge manifestiert. Wie damals beim Hauskauf, als wir gewartet, auf den Zufall gehofft – und ein Inserat aufgegeben haben. Man muss schon immer auch etwas machen, um etwas zu kriegen. Beten und warten alleine reicht nicht. Hätten wir damals nicht ein Inserat aufgegeben, es wäre uns nie…, wir hätten es nie geschafft. Und wenn ich etwas schaffe, versuche ich mich zu freuen. Ein Glas Wein. Oft feiert man das Erreichte ja zu wenig, das ist schon so. Und das wäre ja eigentlich schon wichtig. Sowieso die kleinen Sachen, wenn ich Geld finde auf der Strasse oder wenn mir etwas Kleines zufällt, ein Tag mit Sonnenschein am Fluss oder so. Es käm’ mir nicht in den Sinn, mich zu bedanken, nicht bei Gott, nicht beim Universum. Ich habe das Gefühl, also ich glaub’, ich freu mich einfach so darüber. Auch wenn ich Angst habe oder mir etwas Sorgen macht, wie kürzlich meine Nieren-OP, bete ich nicht, ich lenke mich ab. Ich höre dann Musik, ruhige Songs von Agnes Obel, Hosier oder Patrick Watson. Beten tu’ ich jedenfalls nie. Fabienne, 36 Glaubenssatz II Wer aufgehört hat zu beten, hat aufgehört zu hoffen. Stefan, 64 |