ERNST liest
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Die Stunde, in der Europa erwachte |
Statt den Ersten Weltkrieg in einer vereinfachten Nationalperspektive zu sehen, sucht Kurt Oesterle das europäische Wir.»
Buchrezension und Autoren-Interview: Gallus Frei-Tomic
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Vor einem Jahr lief in den Kinos «1917». Der Kriegsfilm von Sam Mendes zeigt in 110 Minuten Echtzeit die Mission zweier Soldaten, zweier Helden. Sie sollen verhindern, dass eine Einheit in einen Hinterhalt des Feindes gerät. Das übliche Muster; Helden kämpfen für das Gute. Das Gute hier, das Böse dort und alles «zum Gedenken an die Opfer einer verlorenen Generation».
Der Mensch denkt in Kategorien. Kurt Oesterle tut das nicht, nicht in «die Stunde, in der Europa erwachte» jedenfalls. Keine Guten, keine Bösen, nur Menschen, einst Feinde, die sich auf der Suche nach einer Zukunft finden. Oesterle zeigt einen vom Krieg verwüsteten Landstrich in Frankreich, wo kein Stein mehr auf dem andern steht, das Land von Bomben umgepflügt ist und unter jedem Stein eine Mine droht, wo der Geruch des Todes über den offenen Wunden wabert und es eine Unendlichkeit dauern muss, bis die Gegend an das erinnert, was sie einmal war. Nur eine Hütte steht noch, ein kleines Haus, dahinter ein mobiler Backofen, ein «Gasthaus» mit Namen «À l’héroine des ruins» – «Zur Heldin der Ruinen». Führen tut das Gasthaus der 16-jährige Minot, der eigentlich im Auftrag seiner vor dem Krieg geflüchteten Familie hätte nachsehen sollen, was vom Hof geblieben ist, auf dem die Familie einst lebte. Minot bleibt aber am Haus hängen, weil die einstige Wirtin verschwand und irgendjemand den streunenden Seelen an diesem Ort eine Oase sein muss. Der erste Teil des Romans gibt sich wie ein Erzählband mit Kapiteln, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Oesterle erzählt vom jungen Minot, der einst in dieser Gegend auf einem Einödhof geboren wurde. Vom Ehepaar Max und Magda Krüger, dessen Sohn Felix kein Feigling sein sollte. Und der sich dann mehr oder weniger freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, wie alle um ihn, die an einen schnellen und glorreichen Sieg glaubten. Von der Engländerin Elsie Norton, die einen traumatisierten Mann aus dem Krieg zurückbekommt, sich selbst und den Mann zu hassen beginnt, weil sie nicht verstehen kann, was geschah und geschieht. Von Franz, dem Kriegsgefangenen Nummer 2341, der den Krieg als Freiwilliger einst als Labor für den Fortschritt sah. Und vom Gorm, dem Hund, den sein kinderloser Besitzer als Beitrag im Dienste des Vaterlands in einer Kaserne abliefern muss, als Sanitäts- und Meldehund. Im zweiten Teil des Romans treffen sich all diese Gestalten, nachdem Oesterle ihren Weg bis «Zur Heldin der Ruinen» erzählt. Minot wird zu einem Helden der Herzlichkeit, Max und Magda Krüger wollen die sterblichen Überreste ihres Sohnes zurück nach Hause holen, Elsie sucht das verlorene Leben ihres stumm gewordenen Ehemannes, Franz fristet das Dasein eines Kriegsgefangenen im nahen Lager, und der Hund Gorm stromert einsam, vergessen und verwahrlost in der schrundigen Endzeitlandschaft herum. Sie suchen alle, ernüchtert, desillusioniert. Genauso die Männer, die in der Heldin vom Suchen nach Metall in den Schlachtfeldern ausruhen. Oesterle erzählt, wie der Krieg nicht vorbei ist mit dem Schweigen der Waffen. Der Ursprung allen Schmerzes ist nicht der ehemalige Feind, sondern der Verlust, der Verlust von Leben, Liebe und Vertrauen. Die Idee Europa entspringt der Angst. Und der November 1918, das Ende des Krieges und die darauffolgenden Jahre der Ernüchterung, das kollektive Trauma, das auch einen weiteren weltweiten Krieg nicht verhindern konnte und die Angst von Generation zu Generation weiterfüttert, weckte Europa kurz, um gleich danach in den Versailler Verträgen den Grundstein zum nächsten grossen Schlachten zu legen. Kurt Oesterle schrieb ein gewichtiges Buch, das sich ins Bewusstsein einfrisst. Keine actiongeladene Heldengeschichte, sondern einen Roman mit epischer Tiefe über das, was übrigbleibt, wenn die Waffen schweigen. Grossartig geschrieben und inszeniert, Papier gewordenes Welttheater. Gallus Frei-Tomic ist Literaturvermittler, Veranstalter und Betreiber verschiedener Literaturwebseiten. Seit fast einem Jahrzehnt erschafft er selbstgestaltete Literaturblätter, die abonniert werden können, und seit drei Jahren betreibt er die Literaturplattform literaturblatt.ch. Und ab Sommer 2020 amtet er zudem als Programmleiter des Literaturhauses Thurgau. Interview mit Kurt Oesterle «Vor allem der Wohlstand hält Europa heute zusammen» ERNST: Sie geben Ihrem Roman einen durchaus positiven Titel. Doch erwacht Europa im Jahr 1919 wirklich? Kurt Oesterle: Ja, Europa ist nach dem Ersten Weltkrieg durchaus erwacht. Aber es hat sich nur kurz die Augen gerieben, um gleich wieder einzuschlafen – so tief, als wäre es tot. Niemand ahnte damals, dass die nicht genutzte Chance sich zu einer Katastrophe übelster Art auswachsen würde. Doch wichtiger scheint mir: Der Augenblick des Erwachens steht uns immer noch und immer wieder bevor – darum ist mein Roman auch kein historischer Roman, sondern ein ganz und gar gegenwärtiger. Auch und gerade heute sucht er eine Antwort auf die Frage, wie wir, die Europäer, «wir» sagen könnten, oder anders: was uns eigentlich verbindet. Bisher ist es doch überwiegend der Wohlstand, der den Kontinent zusammenhält – doch wehe, dieser Wohlstand schwindet. Auch hundert Jahre später gibt es noch Grenzen in Europa. Werden wir sie je niederreissen? Die Grenzen in Europa sind inzwischen zum Glück nahezu bedeutungslos geworden – dass ich ohne Passkontrolle nach Frankreich fahren, ja, mich dort sogar wie ein Inländer niederlassen kann, ist ein unerhörter Fortschritt, der noch in meiner Jugend undenkbar war. Ich vergesse nie, dass sowohl mein Vater als auch mein Grossvater gegen Frankreich Krieg geführt haben! Was jedoch auch ohne Grenzziehung weiterlebt, das ist der Egoismus der einzelnen Nationen und Personen. Darum erprobe ich in meinem Roman ja in zarten Ansätzen so etwas wie eine Wir-Erzählung, die es in Europa nach wie vor nicht gibt. Sie sollte basieren auf dem gefühlsgesättigten Wissen, dass wir als Menschen in grösseren Einheiten existieren als bloss in Familie, engerer Heimat oder Nation. Dafür habe ich mit meinem Buch einen ersten Entwurf geliefert – andere müssen fortfahren mit dieser Wir-Erzählung, solange, bis man ihre Stimme hört. Nationalstaaten gibt es immer noch. Einer der Gäste in der Heldin nennt den Nationalstaat die «Ursache allen Kriegs». Brauchen wir eine Art apokalyptische Not, um das zu ändern? Die «apokalyptische Not», von der Sie sprechen, war der Krieg, der 1918 endete. Dringlicher als je zuvor konnte man damals sehen, dass eine europäische Lebensform nötig ist, wenn der Kontinent überleben will. Ich möchte ja gerade zeigen, dass das heutige Europa, die EU, eine Kriegs- und Notgeburt ist. Was selbst in Deutschland inzwischen wieder in Vergessenheit gerät, mitsamt der Rolle, die mein Land in beiden Weltkriegen gespielt hat. Ich halte es mit Paul Valéry, der schon nach dem Ersten, nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Einsicht besass: «Wir Kulturvölker wissen jetzt, dass wir sterblich sind. Wir fühlen, dass eine Kultur genauso hinfällig ist wie ein einzelnes Leben.» Als Symbol steht dafür in meinem Buch insbesondere die geschändete und verstümmelte Natur, die Valéry zu seiner Zeit noch nicht auf der Rechnung hatte. Wo lag der Ursprung Ihres Romans? Der Ursprung meines Romans lag in mir, in meiner Seele, wie ich gern sage. Und wie in einer europäischen Familienaufstellung hat sich die Konstellation ergeben, die ich dann in diesem verwüsteten französischen Landstrich zwischen Reims und Laon angesiedelt habe. Mein Roman ist keine Gedankenkonstruktion, sondern eine Schau, ein Traum, ein Film im Kopf, der unaufhaltsam ablief (und sich hoffentlich in Leserin und Leser wiederholt). Ich habe mich beim Schreiben oft gewundert, dass zuvor noch kein Autor auf die Idee gekommen ist, einen Nachkriegsroman mit gesamteuropäischem Personal zu verfassen – fast alle Bücher, die ich dazu gelesen habe, handeln nur aus der nationalen Innenperspektive, die anderen bleiben eher Schatten. Sie nennen den 16-jährigen Minot einen aus der Zeit gefallenen Philanthropen, der sich vorgenommen hatte, in diesen Zeiten um jeden Preis gut zu sein. Ist Ihr Roman nicht auch eine Aufforderung, die Jugend ernst zu nehmen? Die Figur des Minot in meinem Roman ist sozusagen mein Alter Ego, auch ich konnte mit 16 oder 17 Jahren nach zwei Weltkriegen als nachgeborener Deutscher keine andere Rolle für mich entdecken, als die, gut zu sein und den Neubeginn in der eigenen Güte, in Bescheidenheit und Weltoffenheit zu suchen. Dabei war es mir nicht wichtig, ernst genommen zu werden, sondern mein Leben aus innerer Überzeugung zu führen. In der Hoffnung, dass diese Überzeugung wirkt, dass sie auf andere ausstrahlt. Und genau so ist es doch auch mit der Literatur: Sie folgt nicht einem politischen Programm, sondern generiert Energien, die in anderen weiterwirken. Das ist die Eigenart des Ästhetischen. Übrigens, bei Lesungen muss ich meinen Minot stets verteidigen, eben weil er versucht, gut zu sein. Im Literaturbetrieb ist es offenkundig nach wie vor so, dass man fünf Schurken weitaus weniger verteidigen muss als einen einzigen Guten. Woher mag diese Vorliebe für die Bösen wohl kommen? Das Gute beunruhigt uns anscheinend viel mehr als das Böse. |