Lehrer Seeli spuckte Salatreste,
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Ivo Knill erinnert sich. Ein Relief.»
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Der Säntis ist schon von Gossau her sichtbar. Ich fahre die steile Strasse hoch, ich bin es, es könnte auch ein anderer sein, es ist nur ein Bild, eine Erinnerung, die noch im Wind des Vergessens schwebt. Wie man hier wohnen kann, frage ich mich, die Strasse geht so steil aufwärts, mit dem Velo ist es fast nicht zu machen. Knapp vor dem Ortseingang von Herisau, nach den letzten Häusern von Gossau, quert die Strasse eine kleine Wiese, ein kleines Tal. Es könnte Tal der Hoffnung heissen, ein Tal der Demut gibt es ja, in Sankt Gallen. Es heisst Hueb. Ich kenne die Orte, die Täler, die Namen, denn hier bin ich ja in der Heimat meiner Sprache, Kolumbanshöhle, Ramsenburg, Rosenburg, Robert-Walser-Weg: Ich kenne die Namen, die Geschichten, die Gerüche. Sie beginnen, jetzt, wo die Strasse flach wird mit dem ersten Haus, mit dem das Dorf beginnt, in dem ich aufgewachsen bin.
Ich könnte es sein, vielleicht ist es auch ein anderer, der mit dem Auto die Strasse nach Herisau hochfährt. Ich schaue genauer und sehe: Der Mann in meiner Vorstellung ist massiger als ich, behäbiger, körperlicher. Er ist einer, der sich Gedanken über Gott und die Welt macht. Vielleicht ist es der Mann mit Hut, dem ich in meinen Geschichten immer wieder begegne, einer, der das Leben ernst nimmt, in einer Art, die sich nichts anmasst. In seinem Herzen bewegt er Dinge. Der Mann fährt in einem kleinen, weissen Auto. Jedes Mal stellt er sich die Frage, und jedes Mal ist er verblüfft, wenn die Häuser aufhören und die Strasse sich kurz senkt, eine Wiese durchquert und nach der letzten Steigung in einer Kurve ins Dorf führt. Dann sieht der Mann, was ich in meiner unverhofften Erinnerung vor mir gesehen habe: Das Ortsschild, die Steinbrocken und Betonelemente beim Baugeschäft Slongo, der Zahnarzt im ersten Haus links. Ein Mann schlägt seine Hacke in den steinigen Acker, regelmässig, ruhig und gezielt. Ein Schlag nach dem andern. Er hält inne, blickt auf und reckt die Faust in den Himmel. Im Hadern spürt er den Gott, den er sich erfunden hat. In seiner Hand wohnte er einst. Jetzt ist er aufs Feld gefallen. Er hält die Hand vor die blendende Sonne. Er stösst die Ferse auf den Boden, dass es blitzt. Er schüttelt sein Haar. Disteln fallen heraus. Hier komme ich her. Es ist komplizierter und schwieriger, als die Vereinfacher sagen. Alles wäre gelöst und allen wäre geholfen, wenn die Faulen arbeiten würden, wenn die Traurigen fröhlich wären und die Dicken mehr Bewegung hätten. Die Trinker müssten aufhören zu trinken, die Choleriker bräuchten nur etwas ruhiger zu werden, die Mutlosen sollten sich trösten lassen, dann wäre allen geholfen. Aber so einfach ist das nicht. So einfach gehen unsere Wege nicht. Du denkst zu viel. Du spintisierst. Das sagte Lehrer Seeli, wenn meine Gedanken sprudelten. Er riecht nach Kreide und Nikotin. Du denkst zu viel, denkt nicht, fragt nicht, schafft jetzt und schweigt, das könnte er gesagt haben. Aber ein Kind muss fragen, ich muss fragen, ich oder Andreas Schenkel oder ein Thomas Müller oder ein anderer: Man muss fragen, wenn es draussen nasser November ist und die Scheiben der Schulhausfenster zittern, wenn Lastwagen Ivo Knill erinnert sich. Ein Relief. Illustration: Simon Bretschervorbeifahren. Man muss fragen, wenn der Schulhausflur finster ist wie ein Walfischbauch, man muss fragen, wenn Abwart Jäger in blauem Schurz und Gummistiefeln im Vorraum des Schulhauses Landhaus steht und die Pause überwacht. Es ist kompliziert, denn man muss hochspringen, sich um 180° drehen und wieder auf beiden Schnüren des Gummitwists landen, die in der Kniekehle von Kathrin Hanselmann und Claudia Reifler spannen, und deren Gesichter ich nach dem Sprung erblicke. Aber es gibt nichts zu fragen, nicht bei Lehrer Seeli, jetzt sowieso nicht, da wir um das Relief von Herisau stehen. Sein Rohrstock zeigt auf eine bestimmte Stelle auf dem Relief. Es ist die Stelle, auf der das kleine, weisse Auto Richtung Dorfeingang fährt. Der Fahrer, ich oder ein anderer, quert das kleine Tal, die Senke vor dem letzten Anstieg. Wir riechen die Kleisterfarbe, ich betrachte die mit Gips oder Holzmasse überstrichenen Rillen der übereinandergeschichteten Höhenstufen. Gebüsch aus Moos, Bäume, ein Wald. Lehrer Seeli spuckt Salatreste, wenn er wütend ist. Jetzt zeigt er mit dem Rohrstock und erklärt uns, dass von hier immer die Räuber kamen. Die Köhler und Salpetersieder. Das kleine, weisse Auto fährt in Richtung Rohrstock. Dieser zeigt auf das kleine Quertal vor der letzten Steigung und wandert zur Kolumbanshöhle und zurück. Von hier kamen die irischen Missionare, sagt Lehrer Seeli, zu einer Zeit, als noch alles wild und unbewohnt war. Rot flammten ihre Haarschöpfe, unter dem Arm trugen sie die Bibel. Die Wege des weissen Autos und die der Missionare kreuzen sich. Zwischen den Räubern und Missionaren fährt es an den zum Verkauf ausgestellten Amerikanerautos vorbei und weiter Richtung Dorf, das ich über mir sehe, Haus über Haus, nah und drängend. Der Gott der Zeitlosigkeit tanzt im Föhnwind, der alles nah und drängend und aufsteigend lässt. Hier beginnt alles, und alles geht hier unter. Das Relief mit den Räubern: Längst ist es weggeräumt. Wer weiss noch darum! Die Eiferer von heute, die die Welt glattstreichen, um ihr Entweder-Oder darauf zu schreiben, werden nichts wissen, nichts sehen und nichts ahnen von der Kleisterfarbe auf dem Relief, das einmal lebendig und ganz da war. Aber mich, Manser und Andreas Schenkel, uns gibt es noch, unsere Körper sind durch die Jahre gewandert, haben die Zeit aufgesogen, abgelagert und in Fleisch und Haut verwandelt, die faltig wird. Wir wandern durch die Zeit. Erzähle uns einer, wie die Dinge sind, wie sie gewesen sind: Wir müssen widersprechen, weil alles anders, dichter, unbestimmter und bedeutender war. Wir strecken dem Säntis unsere Brust hin, uns gibt es noch. Vielleicht sind wir überflüssig und eigensinnig, wenn wir darauf beharren, dass es kompliziert schon früher war, vielfältig, komplex, olfaktorisch, taktil, sinnlich, dinglich: Wir beharren darauf, auch wenn die Gegenstände, zwischen denen wir aufgewachsen sind, verloren gegangen sind. |