Was bleibt, was vergeht? |
Ob Philosoph, Schreiner oder Vater: Wir alle wollen nach unserem Tod in Erinnerungen bleiben.»
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Text: Adrian Soller, Bild: Kim Maurer
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Der Philosoph
Da sitzt er nun an seinem Schreibtisch: der Philosoph. Alles steht zum Philosophieren bereit. Hinter ihm Regale vollgestopft mit dicken Büchern von grossen Namen, Platon, Nietzsche, teilweise gestapelt, teilweise aneinandergereiht, sogar die Bibel sehe ich da liegen. Vor ihm ist ein schwarzes Notizbuch aufgeschlagen, Schreibwerkzeug wartet daneben. Markus hat Philosophie studiert, irgendetwas mit Wirtschaftsethik, glaube ich, John Rawls und so, Schleier des Nichtwissens, Sie wissen schon. Ab und zu organsiert er Philosophie-Cafés, der Markus, der Philosoph, bietet philosophische Coachings an, ansonsten verdient er wohl kaum Geld, muss er auch nicht, er hat geerbt, von seiner Mutter, Gott hab sie selig. Das Zimmer leuchtet in der Morgensonne. Markus öffnet das Fenster, vielleicht, weil Philosophen-Luft zumal etwas stickig ist. Draussen prallt rhythmisch ein Fussball auf den Asphalt. Vater und Sohn spielen sich zwischen Garagentoren Pässe zu. Und drinnen sagt Markus dann diesen Satz, der mich ihm sofort etwas näher bringt, den ich mag, den ich irgendwie gerne höre und der darum alles im Zimmer für mich in noch etwas hellerem Licht erscheinen lässt, er sagt: «Weisst du, eigentlich mache ich das alles nur», er macht eine ausladende Geste über den Schreibtisch, «weil ich nicht will, dass man mich mal vergisst.» So gerne würde er, sagt er noch weiter, (ich kenne ihn schon etwas länger, zwei Monate vielleicht, aber das ist eine andere Geschichte), so gerne würde er jedenfalls etwas schaffen, das bleibt. Ich nicke. Und dann sagt er noch, dann sagt er leider noch, dass das ja allen so ginge: Alle würden wir ein Leben lang gegen unseren eigenen Tod ankämpfen. «Die Essenz des Lebens ist der Wunsch nach Unsterblichkeit», meint er. «So ein Quatsch», denk ich. Draussen wirft der Junge gerade seinen Kopf in den Nacken, lacht und ruft seinem Vater etwas auf Arabisch zu. Der Schreiner Da gab es mal diesen einen Schreiner. Es muss ihn gegeben haben. In den Zwanzigern oder Dreissigern des vergangenen Jahrhunderts war er wohl tätig gewesen. Wir haben uns nicht gekannt, und doch bindet mich seit dreissig Jahren nun schon eine zärtliche Erinnerung an ihn. Denn da gab es diese Rillen, die die Beine des Esszimmertisches meiner Grossmutter zierten, je drei Rillen am oberen Ende der Tischbeine waren es, die er (ich nehme an, es war ein «er») dereinst von Hand da reingeschnitzt haben muss. Als Kind war für mich die Wohnung meiner Grossmutter einer der schönsten Orte überhaupt. Der Platz unter ihrem Esszimmertisch war mein Reich. Oft habe ich dort mit meinen Cowboyfiguren gespielt und so gesehen, was den meisten Erwachsenen damals wohl verborgen blieb: Auf der Innenseite des Tischbeines nahe der Tür war da neben der einen Rille diese Kerbe, die da nicht hätte sein sollen. Sie war ein Fehler, eine Unachtsamkeit. Dieser eine Schreiner muss an diesem einen Tag, vor rund neunzig Jahren, beim Anfertigen dieses einen Tischbeines ausgerutscht sein. Wir haben uns nicht gekannt, dieser eine Schreiner und ich, und doch bindet mich seit dreissig Jahren nun schon diese eine zärtliche Erinnerung an ihn. Der Vater «Man wird uns vergessen», sagt Eduard zu mir, ohne dabei den Blick von Monica abzuwenden. Und obwohl ich weiss, dass er recht hat, macht es mich traurig. «Erfolg…», sagt er dann, will er sagen, bricht mitten im Wort ab, denn die Kleine in seinen Armen hat zu schreien begonnen. «Moni, Moni, Moni was ist denn los?, Moni, Moni», höre ich ihn in ruhiger Sorge fragen und muss irgendwie kurz an meinen Vater denken, an den sich ausser mir heute wohl kaum jemand auf dieser Welt mehr erinnert; in ein paar Jahrzehnten wird es wohl so sein, als wäre er nie da gewesen, dann versucht Eduard den Faden wieder aufzunehmen: «Erfolg gibt es nicht», sagt er – oder so was in der Art, und wo es Erfolg gäbe, glaube ich jetzt zu hören, sei er bedeutungslos – und überhaupt Erfolg wäre …, «Mooooooooonii, Mooooooooonii», … Erfolg wäre halt von ..., Erfolg wäre …, seine Worte gehen nun vollends im Kindergeschrei unter. Die Kleine hat jetzt Hunger. Der Hüter Wahrscheinlich ist die Kiste dann auch irgendwann einfach mal weg. Spätestens nach seinem Tod. Schlimm wäre das für Paul nicht. Er kann ja selber nicht genau sagen, wieso er die Kiste mit der Quartette-Sammlung seiner Kindheit überhaupt so lange aufbewahrt hat. Aber sie in den Müllsack stopfen will Paul dann doch nicht. «Eine gewisse Zärtlichkeit dem Vergangenen gegenüber habe ich schon», sagt er und beginnt, die Kiste für uns geöffnet, durch die Autokarten zu blättern. Beim Blättern sagt Paul bald Dinge wie «verschärft» oder «schick» und beginnt recht schnell von Hubraum zu sprechen, «ein V8, was für ein Teil, schau her, ein V8 in einem europäischen Wagen!». Sein erstes Wort sei «Auto» gewesen, erinnert sich Paul im Dämmerlicht der Lampe. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, fragt er sich, ob sie diesen Opel damals nicht auch als «Bitter» gebaut hätten. Vor ihm auf dem Tisch liegen sieben Jahre Kindheitserinnerungen in Form von rund tausend Quartettkarten. Schiffe, Flugzeuge, Autos. Erst vage und unscharf nur, bald immer klarer kommen Erinnerungen. Vor allem mit Dominik, dem ein Jahr älteren Nachbarsjungen, habe er damals gespielt. Es waren die Siebziger. Die Quartett-Karten kamen, mit einem Gümmeli zusammengeheftet, fast überall hin mit, in den Wald, in die Schule. Wobei: «An die Spielorte kann ich mich gar nicht mehr so genau erinnern, auch nicht, ob es dabei ums Gewinnen ging.» Aber an das Gefühl, wenn er jeweils mit den Karten im Hosensack das Haus verlassen hatte, kann sich Paul sehr gut noch erinnern. «Trug ich die Karten auf mir, fühlte ich mich frei oder bereit.» Ein Gefühl des Aufbruches sei es gewesen, erinnert sich Paul. Das Spiel war für ihn und seinen Freund ein Eintrittsort in eine eigene Welt. Mit jeder Karte, die sie ausgespielt hatten, waren sie Teil der grossen Geschichte. Die Autos-Karten seien eine Vorlage für die Fantasie gewesen. Mit jedem seien sie schon auf- und davongefahren. Die Erinnerungen an diese Kopfreisen fühlen sich heute manchmal echter an als mancher Wochenendausflug mit der Familie. «Schau her, der Iso Grifo, das war einer meiner Lieblinge», sagt Paul dann. Er schaut die Karten an und erzählt bald darauf, dass in ihm, wenn er heute spät nachts alleine auf der leeren Autobahn nach Hause fahre, wieder dieses Gefühl seiner Kindheit hochkomme, dieses Gefühl des Aufbruchs eben. «Und hier, schau, ein Duesenberg J Torpedo! Der totale Bolide! Greta Garbo ist ihn damals gefahren.» Der Friedhofsgärtner «Jahr für Jahr bekommen sie weniger Besuch», sagt er, Friedhof Rosenberg, Feld 207, zwei Sekunden Stille. Dann meint Friedhofsgärtner Hans-Ruedi Wittwer noch: «Bei diesen ist wohl längst niemand mehr gekommen.» Wittwers Kollege Samuel Fröhlich steigt derweil ins Cockpit des Friedhofsbaggers. Die beiden nicken sich zu. Während Wittwer mit dem Erklären kurz Pause macht, lässt Fröhlich die Schaufel zugreifen und um ihre eigene Achse drehen. Geräuschlos dreht Kollege Fröhlich Grabstein für Grabstein aus der lehmigen Erde. Einmal im Jahr lösen die beiden erfahrenen Gärtner so Gräber auf. Immer im Februar bauen sie während fünf, sechs Tagen Gräber von Menschen ab, die vor 25 Jahren oder länger schon verstorben sind. Meistens sechs, manchmal auch acht Steine schichtet Fröhlich in die Schaufel des Radladers, so dass Wittwer sie später wegbringen kann. «Früher haben wir sie noch gestellt», erklärt Wittwer nun wieder weiter. Das Legen aber sei effizienter. Überhaupt sei die Grabauflösung mit dem Lanz 3000 in den vergangenen Jahren viel effizienter geworden. Auch die Erfassung im Friedhofverwaltungssystem «Hades» funktioniert gut. Und dass man jetzt ganze Felder auf einmal auflösen kann, macht die Arbeit sowieso leichter. Vor dem Abbau fragen Mitarbeitende der Friedhofsverwaltung jeweils bei den Angehörigen der Toten nach, ob sie den Grabstein behalten wollen. Die meisten wollen nicht. Und so fährt Wittwer eben bald wieder tonnenweise alte Grabsteine den Hang hinunter, um sie dort in eine Mulde zu kippen. Der LKW-Fahrer wird die Mulde mit den Steinen an einen Ort bringen, wo man die Gedenksteine mit einem Schredder zu Kies verarbeiten wird, zu Kies für den Gehweg. «150 Grabsteine kommen heute weg», erklärt Wittwer nun weiter. Und die Grabmäler, die wegkommen, haben sie gestern mit einer Spraydose grün markiert, der Wittwer und der Fröhlich. Dreissig Jahre arbeiten sie schon zusammen auf dem grössten der Winterthurer Friedhöfe. «Wir zwei, das passt einfach», sagt Wittwer. Was? Wir? Ein Foto? Na klar. Beide auf einem? Aber umarmen tun wir uns nicht, gell! Leises Schmunzeln. Man ist fröhlich. Man zieht sich gegenseitig auf. (Schaue nicht so ernst. Blick Du nicht immer in die Kamera!) So jetzt. Komm. Man muss schliesslich weiterarbeiten. Wittwer hat schon wieder sechs in der Schaufel. Er ist also am Zug. Da gibt es keinen Zweifel. Und so fährt Wittwer mit den Abbruchsteinen bald wieder leise an Trauergästen vorbei. Die Trauernden halten weisse Blumen in den Händen, manche von ihnen weinen. Der Lastwagen, der die alten Gedenksteine abholt, wartet schon an der Schranke des Lieferanteneinganges. |