Selbst
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Den Lead, den ERNST hier schreiben wollte, ist ihm entfallen.
Eine Ode ans Vergessen.» |
von Anna Pieger
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«Wer Erfahrungen und die daraus gezogenen Schlüsse auch wieder vergessen kann, ist frei.»
«Könnten wir nicht vergessen, wir würden nie ein zweites Kind bekommen.»
«Wer würde sich nach einem Liebeskummer neu verlieben, wenn das Gefühl des Verlassen-Werdens alle Tage als Stechen in der Brust spürbar bliebe?»
«Vergessen ist ein Mechanismus, der das Weiterleben ermöglicht.»
«Könnten wir uns nicht erinnern, wir hätten keine Identität, unser Leben wäre ein chaotisches Durcheinander von Wahrnehmungen.»
«Doch sich zu erinnern heisst eben immer auch zu vergessen.»
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Wir schreiben Einkaufszettel, machen uns Notizen, während wir telefonieren, füttern den digitalen Kalender und richten Erinnerungssignale ein oder bauen uns Eselsbrücken. Im Alltag ist das Vergessen etwas, das wir überwinden möchten. Man könnte fast sagen: Wir führen einen permanenten Kampf gegen das Vergessen. Versäumt, verlegt, nicht im Gedächtnis behalten, verschusselt: Vergessen hat keinen guten Ruf. Zu Recht. Und auch nicht.
Natürlich ist «Vergessen» ärgerlich, macht Wissen, das wir brauchen, unverfügbar, behindert den Lernprozess, führt uns unsere allzu menschliche Unzulänglichkeit vor Augen. Wenn wir etwas vergessen fühlen wir uns fehlbar, oft gestresst, manchmal sogar schuldig oder dumm. Das Vergessen passt nicht in unsere gut organisierte Leistungsgesellschaft und steht dem Selbstoptimierungsimperativ unserer Zeit quer im Weg. Doch trotz allem ist Vergessen genauso nötig wie das Erinnern. Wir können das Vergessen auch als Chance denken. «Es verhindert die Selbstblockierung des Systems», schreibt beispielsweise der Soziologe Niklas Luhmann in seinem Werk «Die Gesellschaft der Gesellschaft» über das Vergessen. Vergessen sei gar die Hauptfunktion unseres Gedächtnisses. So ist nach ihm das Gedächtnis nicht als Speicher zu fassen, in dem die Spuren der Vergangenheit wie in Stein gemeisselt lagern und immer wieder möglichst störungsfrei abrufbar zu sein haben. Eher geht es beim Erinnern und Vergessen um dynamische Prozesse. Aus biologischer Perspektive vergisst das Gehirn, um besser zu funktionieren und Energie zu sparen. Auch gilt: Nur wer vergangene Erfahrungen und die daraus gezogenen Schlüsse wieder vergessen kann, ist frei dafür, neugierig und fragend immer wieder auszuziehen, um nicht das Fürchten, sondern das Vergessen zu lernen. Wenn ich vergesse, schaffe ich Kapazitäten für andere, vielleicht unerwartete Lernerfahrungen und begegne der Welt immer wieder neu. Wer würde ein zweites Kind bekommen, wenn der Schmerz der Geburt stets als lebendige Erinnerung in voller Intensität das innere Erleben dominierte? Wer würde sich nach einem Liebeskummer neu verlieben, wenn das Gefühl des Verlassen-Werdens alle Tage als Stechen in der Brust spürbar bliebe bis ans Lebensende? Vergessen kann also auch heilsam sein. Seit Aufkommen der Psychoanalyse hatte das Verdrängen zwar eine schlechte Presse und stand im Verdacht, für psychische Störungen verantwortlich zu sein. Im psychotherapeutischen Prozess wird versucht, Verdrängtes wieder an die Oberfläche des Bewusstseins zu holen. Aber so problematisch das Verdrängen manchmal auch sein kann – zuallererst ist es ein Mechanismus, der das Weiterleben ermöglicht, der uns erlaubt, nicht konstant um unsere Verletzungen, Frustrationen und Traumata zu kreisen. Könnten wir uns so gar nicht erinnern, hätten wir keine Identität, unser Leben wäre ein chaotisches Durcheinander von Wahrnehmungen, die in keinem Zusammenhang miteinander stünden. Aber es gilt eben auch: Könnten wir nicht vergessen, würden wir in Endlosschleife in einmal erkannten Mustern kreisen, wären überwältigt von Sinneseindrücken und Gefühlen aus der Vergangenheit. Wir brauchen das Erinnern – und das Vergessen. Und beides ist eine Kunst. Das auch wortwörtlich. Denn wenn wir Kunst schaffen, schaffen wir Erinnerungen. Wir schreiben Romane und Autobiografien, giessen Büsten in Bronze, malen Portraits, bauen Museen, notieren Kompositionen als Noten, machen Fotos und verschieben sie von einem digitalen Speichermedium ins andere. So ist vielleicht jedes Kunstwerk ein Aufbegehren gegen die Vergänglichkeit und das Versinken im Vergessen. Doch wenn wir ein Werk schaffen, lassen wir auch aus, bewusst oder unbewusst. Wenn wir ein Werk schaffen, schaffen wir Lücken. Und so ist jedes Kunstwerk vielleicht auch eine Ode an die Unvollständigkeit. Die berühmte Sentenz aus dem Tagebuch des Philosophen Sören Kierkegaard «Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden» weist darauf hin, dass die Zusammenhänge einer Biografie nur in der Rückschau sinnhaft erscheinen. Vieles, was uns im Hier und Jetzt bedeutsam oder schlimm erscheint, werden wir in ein paar Monaten oder Jahren vergessen haben. Und vielleicht werden wir uns an Dinge erinnern, die uns heute als Nebensächlichkeit erscheinen. Die Geschichte erzählt uns davon, wer wir sind und wie wir geworden sind, was und wer wir sind. Dabei geht eine Menge vergessen, manchmal unwiderruflich, manchmal wird verloren Geglaubtes von anderen Epochen, aus neuen Perspektiven wieder ans Licht gehoben. Geschichte schreibt sich immer wieder neu. Dabei können bisher unbeachtet gebliebene Perspektiven vor dem Vergessen bewahrt bleiben und Stimmen zu Wort kommen, die in der jeweiligen Zeit marginalisiert wurden. Welche historischen Persönlichkeiten und Ereignisse wollen wir mit kollektiven Erinnerungskult ehren und wen oder was wollen wir lieber vergessen? Neu erinnern heisst eben auch vergessen! Bei den alten Griechen gab es jedenfalls die Vorstellung, dass wer vor dem Eintritt ins Totenreich vom Fluss Lethe trinkt, seine Erinnerungen verliert. Und diese Vorstellung war vielleicht damals schon Fluch und Segen zugleich. |