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«Vielleicht gibt es keine Gerechtigkeit.»

Am späten Nachmittag des 24. Juli 2010 sterben bei der Loveparade in Duisburg 21 Menschen. Zur Verantwortung ist bis jetzt niemand dafür gezogen worden, nicht die Veranstalter, nicht die Aemter, nicht die Politik. Ist das gerecht? »
Text und Bild: Frank Keil

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Der Gerichtssaal ist kein Gerichtssaal. Er ist eine fensterlose Halle auf dem Messegelände der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, in die der Prozess gegen die verbleibenden Angeklagten aus dem dreissig Kilometer entfernten Duisburg verlegt worden ist. Der Weg ist sehr akribisch von der Hauptstrasse her ausgeschildert, uniformierte Justizbeamte säumen den Eingangsbereich, im Inneren empfängt einen wie gewohnt eine Sicherheitsschleuse, man muss seinen Gürtel ablegen, wenn die Schnalle aus Metall ist.
Heute ist der 118te Verhandlungstag. Von den ursprünglich zehn Angeklagten sind drei übriggeblieben, nachdem Gericht, Anklage und Verteidigung in einem so genannten Rechtsgespräch übereinkamen, dass eine Verurteilung der Angeklagten in der noch zur Verfügung stehenden Zeitspanne nicht zu erwarten sei und dass selbst wenn es vor der im nächsten Jahr anstehenden Verjährung zu einer Verurteilung kommen würde, dann das zu erwartende Strafmass in keinem Verhältnis zum Aufwand des Prozesses stehen würde.
Den drei verbliebenen Angeklagten stand es frei, gegen eine Geldzahlung und der Anerkennung einer vermeintlich mittleren Schuld das Verfahren zu beenden. Doch diese möchten mittels eines ordentlichen Freispruches den temporären Gerichtssaal verlassen, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass der Prozess insgesamt mit einem Urteil enden wird.
Gehört werden wird heute eine Zeugin, die beim Veranstalter der Loveparade als freiberufliche Organisatorin tätig und dort für verschiedene Bereiche im Feld der Logistik zuständig war. Von ihren Aussagen erhofft sich die Sechste Grosse Strafkammer später eine genauere Einschätzung des Geschehens auf dem damaligen Festivalgelände.
Jetzt, pünktlich um 9.30 Uhr, ertönt ein Signal, und die Türen werden von den Justizbeamten geschlossen. Im Zuschauerbereich, wo gut fünfhundert Stühle aufgestellt sind, verlieren sich neun Zuschauer. Im Pressebereich, in dem wenigstens fünfzig Pressevertreter Platz nehmen könnten, sind in der vorderen Reihe drei Plätze besetzt. Das Interesse war schon bei der Prozesseröffnung nicht so gewaltig wie erwartet, brach nach dem erwähnten Rechtsgespräch weitgehend ein. Dennoch wird der Prozess so dimensioniert fortgesetzt wie geplant. Ein Aushang listet die kommenden Verhandlungstermine bis zum 19. Dezember auf.


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Aber erst einmal erhebt sich das Gericht und alle Anwesenden erheben sich auch. Dann gibt der Richter das Zeichen, dass man sich setzen kann und alle setzen sich. Die Zeugin wird gefilmt und auf drei Leinwände links, rechts und hinter ihr projiziert. Vor ihr steht ein Wasserglas, daneben liegt eine Packung Papiertaschentücher. Auch die beiden Schöffen, ein Mann und eine Frau, sind schwarz gekleidet.
Eine Woche zuvor fahre ich nach Duisburg. Nehme mir für drei Tage ein Zimmer in einem kleinen Hotel gleich gegenüber dem Bahnhof, das ansonsten leer zu stehen scheint, kein anderer Gast wird mir begegnen, auch wenn mir am Ende der Online-Buchung gratuliert wurde, ich hätte gerade eben noch das letzte der günstigsten Zimmer bekommen. Ich bin mit Angelika Köhler verabredet, die das Büro der Stiftung „Duisburg 24.7.2010“ leitet, die die Hinterbliebenen, aber auch die Geschädigten betreut und mit der ich im Vorwege mehrmals telefoniert habe. Treffen wollen wir uns an der Gedenkstätte, die am damaligen Ort des Geschehens errichtet wurde.
Die Gedenkstätte ist gar nicht so einfach zu finden. Sie ist weder auf dem kleinen Werbe-Faltplan eingezeichnet, der in vielen Cafés und Geschäften ausliegt und der Touristen wie mir eine erste Übersicht über den Innenstadtbereich bieten soll; noch findet sich ein entsprechender Wegweiser, während sonst überall auf die verschiedenen Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten hingewiesen wird und die Meterangaben folgen, die man zu gehen hat, um ans Ziel zu kommen. Ich weiss nur, dass der Ort, in dem sich das ereignet hat, das mal Unglück, mal Katastrophe genannt wird, in einem Tunnel war, der die Stadtteile Hochfeld und Duisburg-Mitte verbindet: im Karl-Lehr-Tunnel. Benannt nach einem früheren Duisburger Bürgermeister.
Die beiden Mitarbeiterinnen im Tourismusbüros nahe des Bahnhofsvorplatzes beugen sich für mich über einen Stadtplan und bemühen sich um eine möglichst einfache Wegbeschreibung. Oh ja, sie fahre da manchmal durch diesen Tunnel hindurch, dann komme sie genau an der Stelle vorbei, sagt die eine, und dann schüttelt sie sich, als hätte man einen Eimer eiskalten Wassers über sie ausgegossen.
Jedenfalls soll ich wieder auf die andere Seite des Bahnhofs wechseln, der Neudorfer Strasse folgen bis zu einem Kreisel, dann geradeaus gehen. Einer abknickenden Strasse anschliessend rechterhand folgen, am Aldi vorbei, am Postverteilungszentrum. Und dann würde ich schon sehen.
Den Kreisel finde ich, gehe entsprechend geradeaus. Aber dann weiss ich nicht weiter, weiss nicht, welche Strasse gemeint war, in die ich einbiegen soll, und ich frage mich durch. Gehe an Einzelhäusern vorbei, die weit bessere Tage gesehen haben, was sich vielleicht wieder ändert, wenn jemand das Erbe antritt und investiert. Und dann stehe ich vor dem Tunnel, halbrund angelegt, der leicht bergab ins Dämmerige führt; die Wände asphaltgrau und ungekachelt. Der Fussweg an beiden Seiten ist schmal, aus Neonröhren sickert ein fahles Licht auf die Fahrbahn.
Und dann der Schall: Fährt ein Auto in den Tunnel hinein, dröhnt es, als seien es zehn. Sind es zwei, hört es sich an wie zwanzig.
Hier sind sie also reingegangen, von zwei Seiten, von der Besucherstation Ost und der Besucherstation West: tausende, dann zehntausende von Ravern und Technofans, die noch nicht wissen, was passieren wird und dass es die letzte Loveparade werden wird, an jenem 24. Juli 2010.
„Wer den Gedenk-Ort finden will, findet ihn und Sie haben ihn ja auch gefunden“, sagt Frau Köhler, nachdem wir uns begrüsst haben. Es entspräche dem Wunsch der Angehörigen der Verstorbenen, erzählt sie, dass die Gedenkstätte nicht eigens ausgewiesen ist, dass sie nicht als eine weitere Touristenattraktion wahrgenommen wird, deren Besuch man abhakt wie den Brunnen mit der Vogelfigur von Nicki de St. Phalle in der Königstrasse, der Immanuel-Kant-Park mit dem Lehmbruck-Museum oder die neue, begrünte Uferpromenade entlang des Binnenhafens. Wir sitzen auf einer Bank in der Sonne.
Hier ist es passiert. Hier war der Hauptaufgang, eine Art langegestreckte Rampe, wo es zwischen zwei hohen Wänden leicht hinauf auf das Festivalgelände führte, so wie man auch über diese Rampe das Gelände wieder verlassen sollte.
Wir schauen linkerhand auf die steile, sehr schmale Treppe, über die damals so viele versucht haben, sich zu retten, als um sie herum das Chaos ausbrach. 21 Namen sind auf 21 Kreuzen vermerkt, die neben 21 Blumentöpfen aufgestellt sind, die auf den Treppenstufen aufsteigend abgestellt sind.
Es sei nicht einfach gewesen diesen Ort zu bewahren. Eigentlich sollte die heute bepflanzte, parkähnlich gestaltete Rampe bald zugeschüttet werden. Damit Platz für einen Parkplatz wird, für ein dann dort angesiedeltes Möbelhaus. „Hier ist“, sagt Frau Köhler, „von den Angehörigen um jeden Zentimeter gerungen wurden.“ Und dann war das Möbelhaus wieder vom Tisch und die Fläche, die damals unter dem Schlagwort ‚Duisburger Freiheit‘ als Festivalort genutzt worden war, blieb frei wie bisher, man hat von hier aus einen weiten Blick über die Stadt.
Auch wenn es mittlerweile eine wuchtige Metalltafel gibt, auf der die Fotos der hier Umgekommenen einheitlich präsentiert werden, sehr aufwändig hergestellt, mir gefällt, dass zu Füssen der Gedenktafel Raum geblieben ist, um einfach abzulegen, wonach einem ist, wenn man derer gedenken möchte, die hier ums Leben kamen, die hier in höchste Not gerieten: Ton-Herzen mit möglicherweise banalen Sinnsprüchen, Nippes, Krimskrams. Mir gefällt das Brüchige, auch das Hilflose. Dass ein Keramik-Engel, der zur Seite gekippt ist, ein Loch in seinem Leib aufweist, beispielsweise. Dass das die Schrift eines handgeschriebenen Gedichtes in einem Bilderrahmen verlaufen ist, vom Regen, vom Tau, so dass sich nur noch einzelne Worte ahnen lassen.
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Die Geschichte der Loveparade-Katastrophe beginnt im Herbst 2008. Lange war das Festival, das im Kern eine Art Umzug war, bei der von grossen Lkws herab das mitlaufende Publikum beschallt wurde, in Berlin verortet. Doch dann hatte sich der Veranstalter mit der Stadt überworfen und war 2006 weitergezogen ins Ruhrgebiet, das noch lange damit beschäftigt sein wird, den Strukturwandel von einer rustikalen Stahl- und Kohle-Region hin zu einer modernen Dienstleistungsgesellschaft mit Freizeitflair zu bewältigen, in der Arbeit also nicht mehr sichtbar und dennoch ausreichend vorhanden ist. Die Stadt Essen ist 2007 dabei, Dortmund 2008. Dann werden die nächsten Städte gesucht, die bereit sind das für die Besucher kostenlose Rave- und Techno-Festival auszurichten und dafür eine geeignete Fläche sowie die Anfahrts- und Abfahrtswege zur Verfügung zu stellen. Bochum sagt für 2009 erst zu, sagt wieder ab, aus Sicherheitsbedenken. Duisburg erklärt sich für 2010 bereit.
In der örtlichen Verwaltung, besonders im Bauamt, gibt es starke Vorbehalte. Hat man mit dem freien, aber unplanierten Areal des einstigen Güter- und Rangierbahnhofs entlang der Autobahn BAB 59 wirklich die geeignete Fläche, um die Sicherheit der eine Million Menschen zu garantieren, die erwartet wird? Für die hiesige Politik ist es die falsche Frage. Man wittert einen Imagegewinn, man verspricht sich, bei der jungen Generation zu punkten, die gerne aus der überalterten Stadt in die fernen Grossstädte abwandert und ist sich ansonsten gewiss an der Herausforderung zu wachsen. Es findet sich ein Gutachter, der ausrechnet, dass 60.000 Besucher pro Stunde auf das Gelände gelassen werden können, wenn die Personenströme zu und von den Zu- und Abgängen nur richtig gesteuert werden, wobei er später einräumen muss, diese Berechnungen an seinem Schreibtisch vorgenommen zu haben. Als der damalige Duisburger Polizeipräsident während der Planungsphase aus seiner Sicht von der Ausrichtung des Festivals abrät, wird er zum Rücktritt aufgefordert. Für den Kulturdezernenten entspricht das Festival nicht seinem Begriff von Kultur, und er erreicht, dass die Veranstaltung nicht in sein Ressort fällt. Am Ende wird der Dezernent des Bauamtes jede persönliche Verantwortung für die genehmigte und mit einem Ratsbeschluss abgesegnete Veranstaltung ablehnen. Er wird dies öffentlich in einem Schreiben bekunden, das auch im Eingangsbereich des Duisburger Rathauses aushängt. Er übernimmt sozusagen die Verantwortung nicht verantwortlich zu sein, allerdings nicht mit für die ihm unterstellte Abteilung mit ihren weisungsgebundenen Mitarbeitern. Nur für sich selbst, für das Amt.
„Kommt man hier in Duisburg auf die Loveparade zu sprechen“, sagt Ulrike Stender, tätig im Vorstand der Stiftung, am zweiten Tag meines Besuchs in einem der Seminarräume des Hauses der Kirche in der Duisburger Innenstadt, wo die Stiftung ihren Sitz hat und wo wir uns treffen, „ist es wie bei Nine-Eleven: Die Leute erzählen einem sofort, wo sie an dem Tag waren, ob zuhause oder unterwegs; was sie genau gemacht haben, ob sie Angst um ihre Kinder hatten und wie sie von den vielen Toten erfuhren.“
Wir waren damals daheim, es ist ein schöner, warmer, fast heisser Tag im fernen Hamburg. Wir haben den Sonnabend-Einkauf hinter uns, wir lesen die Zeitungen, deren einzelne Teile sich im Wohnzimmer verteilen; gönnen uns einen zweiten Kaffee, unser Sohn sitzt in seinem Zimmer, hört Musik, chattet vermutlich oder spielt ein Computerspiel. Er ist 13 Jahre alt, bald 14. „Feiern gehen“ ist sein neues Credo. „Feiern gehen“ heisst, dass seine Kindheit zu Ende geht. Irgendwann später kommt er aus seinem Zimmer und erzählt, dass da in Duisburg etwas furchtbar schieflaufen muss. Er hat die Ereignisse per Video-Live-Stream des Veranstalters verfolgt, bis dieser erklärungslos abgebrochen wird. Es habe sich eine seltsame Stimmung vermittelt, erinnert er sich heute; es sei nicht so gewesen, dass etwas offensichtlich nicht in Ordnung war, dass man etwa plötzlich die Musik ausgeschaltet hätte oder Menschen panisch durcheinandergelaufen wären - es sei schwer zu fassen. Abends sehen wir damals in den Nachrichten, was passiert ist.
In Duisburg bemühen sich an diesem Abend die Verantwortlichen jede Verantwortung von sich zu weisen. Etwa: Es sei eine Panik ausgebrochen, unvermittelt, unvorhersehbar, tragisch, schlimm. Das Sicherheitskonzept habe dennoch gegriffen. Der Oberbürgermeister denkt nicht daran, zurückzutreten, wie bald gefordert wird, gilt er doch als ein entscheidender Förderer Duisburgs als Austragungsort. Er habe doch alles richtig gemacht. Und was falsch gelaufen sei, hätte nicht in seinem Zuständigkeitsbereich gelegen. Später werden Duisburger Bürger gegen ihn ein Amtsenthebungsverfahren initiieren, es wird eigens im Landtag von Nordrhein-Westfalen die dafür notwendige gesetzliche Grundlage geschaffen. Das Ergebnis im Februar 2012 ist am Ende eindeutig: Nahezu 86 Prozent derer, die zur Wahl gehen, votieren für dessen Abwahl.
„Als der Oberbürgermeister abgewählt wurde, war das schon ein kleines, politisches Erdbeben“, erzählt Jürgen Thiesbonenkamp, langjähriger Leiter der Kindernothilfe, Superintendent, Gemeindepfarrer, auch als Lkw-Fahrer war er unterwegs und Sprecher des  Kuratoriums der Stiftung: „Da brach sich ein Gerechtigkeitsempfinden deutlich Bahn; da zeigte sich: Wir können nicht viel tun, aber das können wir tun: das so einer nicht weiter unsere Stadt regiert.“
Die Angehörigen der ums Leben Gekommenen und die Menschen, die verletzt wurden, die gerade noch entkommen konnten, aus eigener Kraft oder viel sie Glück hatten, organisieren sich derweilen in verschiedenen Vereinen und Gruppen. Man ist sich durchaus nicht immer einig in dem, was man will. Es habe zum Teil absurde, aber für sich gesehen verständliche Diskussionen gegeben, erfahre ich: Was ist schlimmer – sein Kind verloren zu haben oder mit dem Erlebten, mit Todesangst und nur schwer oder nicht zu kontrollierenden Panikanfällen weiterleben zu müssen? Warum haben die einen überlebt und die anderen nicht? Und gemeinsam wartete man auf den Prozess.
Thiesbonenkamp sagt: „Wir haben eine lange Phase hinter uns, in der völlig unklar war, ob und wie überhaupt gerichtlich danach gesucht werden kann, ob den Menschen Gerechtigkeit widerfahren kann.“
„Ich habe ein Kind verloren, gibt es da überhaupt Gerechtigkeit? Aber ich will sie – irgendwie“, beschreibt Ulrike Stender, 37 Jahre hat sie in Duisburg die dortige Familienberatungsstelle geleitet, aus ihren Erfahrungen heraus die Gefühlslage manch zurückgebliebener Eltern. Sie sagt: „Wie erfahre ich Gerechtigkeit? Finde ich einen gerechten Ausgleich für mein Leiden, für meinen Verlust, für meine Schmerzen, meine Einschränkungen auch, die ich habe durch Traumatisierungen, durch körperliche und psychische Verletzungen?“ Das Gericht und der Prozess schauten da ganz anders darauf: „Nämlich: Was haben sich die Angeklagten an Fahrlässigkeiten grösserer oder kleinerer Art zu Schulden kommen lassen und was ist da die gerechte Strafe? Das sind ganz verschiedene Annäherungen an das grosse Thema Gerechtigkeit.“
Und Thiesbonenkamp ergänzt: „Werde ich überhaupt genügend wahrgenommen mit meinem Leiden, auch das ist ein Gerechtigkeitsaspekt. Oder denke ich: Nee, das kommt nicht so richtig rüber, nicht in dem Ausmass, in dem ich es erlebt und wie es mich unvermittelt getroffen hat - wie ich es habe. Und das hängt ganz viel hier mit Duisburg zusammen; das keiner von der Stadtspitze die moralische und ethische Verantwortung übernommen hat. Die Menschen haben sich sehr sich selbst überlassen gefühlt.“ Er sagt: „Es ruft niemand nach Rache, nach Vergeltung. Die Menschen ringen um Verstehen; um sachliches, juristisches, auch moralisches Verstehen.“
Rechtsanwalt Julius Reiter, der zusammen mit dem ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum einen Teil der Angehörigen und der Geschädigten vertritt, sagt mir am Telefon: „Das Wichtigste für uns ist die Wahrheit; also herauszufinden, was an dem Tag passiert ist. An zweiter Stelle steht für uns die Entschädigung für die Opfer. Und an dritter Stelle steht die Bestrafung der Verantwortlichen. Aber am Wichtigsten ist uns die Wahrheit.“
Dabei hat es seine quälend lange Zeit gedauert, verstreichen fast neuneinhalb Jahre, bis es überhaupt zu einem Prozess kommt, der seit dem Dezember 2017 unter dem Stichwort „Loveparade-Prozess“ in der schon skizzierten Düsseldorfer Messehalle stattfindet. Denn das zunächst zuständige Landgericht Duisburg lehnt im März 2016 eine Eröffnung eines Verfahrens ab. Es wertet die Ergebnisse der staatsanwaltlichen Ermittlungen, die noch am Abend des 24.7.2010 begonnen hatten, vielmehr so, dass kein hinreichender Tatverdacht gegen die Beschuldigten gegeben sei.
Das Oberlandesgericht kippt ein Jahr später diesen Beschluss und macht so den Weg frei für ein prozessuales Verfahren. Das von ihm in Auftrag gegebene zweite juristische Gutachten, das Grundlage des Prozesses werden wird, stellt zwar fest, dass erhebliche Planungsmängel im Vorfeld zu der Katastrophe geführt haben dürften, formuliert aber, dass am Tag selbst bis 16.30 Uhr die Katastrophe hätte verhindert werden können, wären vor Ort und im laufenden Geschehen noch die richtigen Entscheidungen getroffen worden. Anwalt Julius Reiter erklärt die Folgen: „Damit sind nach Festlegung des Gerichts, die, die nur geplant haben und an der eigentlichen Durchführung gar nicht teilgenommen haben, sozusagen aus dem Schneider.“ Etwa das Bauamt, das am Tag des Festivals, einem Sonnabend, ja geschlossen hatte.
Am Abend nach meinem ersten Besuch der Gedenkstätte gehe ich noch mal los, verlasse mein leeres Hotel, langsam wird mir die Stadt vertraut. Diesmal nehme ich die andere Route, die von der die Innenstadt dominierenden Fussgängerzone her, dann die Düsseldorfer Strasse südwärts, vorbei am Duisburger Polizeipräsidium, bis ich diesmal von Westseite her in den grauen Tunnel einbiege. Ich setze mich wieder auf die Bank.
Ich schaue auf die Fotos, die in die Stahlplatte eingelassen sind; schaue auf die jungen Gesichter. Mal hängt eine Handsträhne ins Gesicht, mal verdeckt eine Sonnenbrille die Augen. Sie könnten jetzt Familie haben; kleine Kinder, die ihnen den Nerv rauben und für die sie alles tun, wenn es darauf ankommt. Sie hätten ihr Studium oder ihre Ausbildung abgeschlossen, sie hätten vielleicht gemerkt, dass es die falsche Entscheidung war und nun sind sie längst dabei sich in einem ganz anderen Beruf einzurichten, an den sie bisher nicht gedacht haben. Vielleicht waren sie zwischendurch auf Europareise, wie die junge Frau aus Australien, die es damals nach Duisburg verschlagen hat. Für manche wäre es vielleicht einfach nur ein Festival gewesen, heute bedeutungslos, kaum noch einer Erinnerung wert, weil man so etwas ebenso macht, wenn man jung ist: gemeinsam in ein Auto steigen, zwischendurch an einem Supermarkt halten, Getränke in Dosen kaufen, weil Glasflaschen wegen der möglichen Schnittverletzungen nicht erlaubt sind, dann weiterfahren, mit den anderen, zu denen man längst keinen Kontakt mehr hat, denn das Leben geht weiter und es geht seinen eigenen Weg, und nicht immer findet man das, was man in seiner Jugend macht, später noch sinnvoll und würde es wieder tun.
Sie sind ja wirklich hier gestorben, denke ich, hier, wo ich sitze, auf dieser Fläche vor mir, wo es leicht bergauf zum Festivalgelände ging, wenn man dort hinwollte. Und wo einem die entgegenkamen, die warum auch immer das Festival wieder verlassen wollten. Beide Gruppen trafen sich, vermischten sich, verhakten sich. Es ging nicht vorwärts, es ging nicht zurück und seitlich gab es erst recht kein Ausweichen. Und von beiden Seiten, von oben und unten, drückten die Nachrückenden auf die, die nicht weiterkamen, die nicht mehr wussten wohin, die zu ahnen begannen dürften, dass das hier kein Spass mehr ist, dass es ernst wird, während um sie herum die Musik dröhnte, und dann fielen die ersten zu Boden und die nächsten konnten sich nicht mehr halten. Sechs Menschen wären es damals auf einem Quadratmeter gewesen, hat man später anhand von Video- und Handyaufnahmen errechnet, habe ich gelesen, wie mir jetzt einfällt, während ich mir den Reissverschluss meiner Jacke hochziehe, weil es nun langsam doch kalt wird.
Ist da etwas? Ist etwas an diesem Ort? Ist etwas geblieben, von damals, als irgendwann die ersten Sanitäter vor Ort waren, als endlich weitläufig die Zugänge gesperrt wurden, keine Besucher mehr nachkamen, sich herumsprach, was passiert war und die Krankenwagen abfuhren und die Rettungshubschrauber in die Luft hoben und dann die Kriminalpolizei anrückte und Fotos machte, Markierungen setzte und alles vermass, bis alles vermessen und dokumentiert war und dann alle wieder gingen und niemand mehr blieb.
„Die, die das Projekt ausführen sollten, angefangen bei denen, die planerisch dazu verdonnert waren, haben Angst gehabt bis zum geht-nicht-mehr“, hatte mir Ulrike Stender, die bisher fast jeden Prozesstag in Düsseldorf besucht hat, bei unserem Treffen noch erzählt. „Sie haben in der allerersten Planungsphase versucht Gegenargumente zu liefern, haben gehofft, es lässt sich noch abwenden.“ Sie hätten Rechnungen vorgelegt, wie teuer alles werden wird, in der Hoffnung, vielleicht platze die Sache aus finanziellen Gründen, denn die Stadt stand seinerzeit unter Haushaltssicherungskonzept. „Sie haben dann, als der Beschluss stand, die Loveparade findet statt, mit einem mulmigen Gefühl, ganz grosser Angst und viel Akribie gearbeitet, um das Schlimmste zu verhindern – die stehen unter Gerechtigkeitsaspekten betrachtet vor einem Scherbenhaufen; weil ihr ganzes Bemühen nichts genutzt hat, weil es trotzdem in diese Katastrophe geführt hat“, unterschlägt sie die Lage der Angeklagten, der Beschuldigten, derer, die sich verantwortlich fühlen, nicht.
Herrn Thiesbonenkamp war es noch wichtig gewesen, auf die Rolle der Kirche hinzuweisen, die Rolle der Religion, in unserem Gespräch, im fünften Stock, mit Blick auf die Stadt. Und er hatte ein klein wenig unsicher gewirkt, also könne ich diesen Hinweis als unpassend empfinden, was nicht der Fall ist: „Interessanterweise ist es ja so, dass wir das Gedenken und das Erinnern sehr stark in religiösen Formen wahrnehmen – was sicherlich daran liegt, das der Staat sich wegduckte und die Kirche sozusagen übernahm, so wie als allererstes nach der Katastrophe ein Gottesdienst stattfand.“
Er setzte eine kleine Pause: „Man könnte fragen: Wenn es irdische Gerechtigkeit nicht gibt, gibt es vielleicht eine höhere Gerechtigkeit?“ Wies darauf hin, dass jeder Erinnerungsjahrestag exklusiv nur für die Angehörigen und Überlebenden mit einem Gottesdienst in der zentral gelegenen Salvatorkirche in der Duisburger Altstadt begangen und auch das zuvor stattfindende Treffen an der Gedenkstätte durchaus in einem religiösen Interpretament gestaltet werde. „Wenn wir also dafür Formen wählen, die liturgische Grundierungen haben, dann lebt das davon, dass die irdische Gerechtigkeit zwar Jesus ans Kreuz brachte, aber die höhere Gerechtigkeit, die liegt nicht in unserer Hand“, sagte er noch.
Mir fällt Julius Reiter ein, der Anwalt und wie er mir von einer Mandantin erzählte, die damals unter den gestürzten Menschen lag, mittendrin und andere über ihr. Die mit dem Leben abgeschlossen hatte, die sich nun zu ihrem Kind legte, das gestorben war, als es drei Jahre alt war und das sie seitdem nicht mehr gesehen hatte. Bis ihr einfiel, dass sie zuhause doch noch ihren Sohn hat. Und irgendwie habe sie es geschafft sich zu befreien, sich freizustrampeln, einen Ausweg zu finden und davonzukommen. Kilometer sei sie durch die Stadt nach Hause gelaufen, durch all das Chaos. Mit gerissenen Kreuzbändern, wie sich später im Krankenhaus herausstellte, als sie vor Schmerzen nicht mehr stehen konnte, als das Adrenalin weniger wurde.
Und im Juli nächsten Jahres ist es dann zehn Jahre her. Das Stadtmuseum, das bisher manches verwahrt, das an der Gedenkstätte niedergelegt wurde, überlegt die Katastrophe thematisch langfristig in seine Dauerausstellung aufzunehmen und dafür einige der aufgesammelten Exponate zu verwenden. Die Angehörigen sähen dem mit gemischten Gefühlen entgegen, erzählt Frau Köhler. Ihr Schicksal würde dann Allgemeingut, würde sich einfügen in die Abfolge von der ersten schriftlichen Erwähnung der Ansiedlung im Jahr 883 nach Christus, über Duisburg als Brückenkopf der Römer ins nebulöse Reich der Germanen, dann als wichtige Stadt im Reich der Franken, später als Hort der Industrialisierung, dem Aufstieg als „Brotkorb des Ruhrgebietes“ Anfang des 20. Jahrhunderts dank seiner leistungsstarken Getreidemühlen, den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, zuvor die Verfolgung der Duisburger Juden, dann der Zuwanderung der Gastarbeiter in den 1960er-Jahren, die blieben, bis schliesslich zur Schliessung der Stahlhütte Rheinhausen 1993 als dem vorletzten, grossen Einschnitt in der Geschichte der Stadt.
Ob auch der Prozess dokumentiert wird? Ob man darauf hinweisen wird, dass es trotz des Drängens der Angehörigen und der damals Verletzten und all derer, die bis heute unter den Folgen des Erlebten leiden, keinen Untersuchungsausschuss gegeben hat, der noch mal ganz anders das Geschehene hätte beurteilen können?
„Ich glaube, danach überschlugen sich einfach die Ereignisse“, sagt die Zeugin jetzt in der Messhalle, als die Befragung sich den Minuten nähert, als es auf der Rampe zu der Katastrophe kommt; als einer ihrer Mitarbeiter angerannt kommt, dringend Wasser braucht, sich Wasserflaschen greift, weil dort unten würden Menschen auf dem Boden liegen. Und dann habe sie erfahren, ja, es habe Tote gegeben.
Kurz habe sie sich zurückgezogen, sie habe geweint, sie sagt: „Aber dann habe ich mich zusammengerissen und weitergemacht.“
Fünf Tage habe es gedauert, alles auf dem Festivalgelände wieder abzubauen. Sie sagt: „Eigentlich war es ein ganz normales Ende einer Veranstaltung, nur mit einem bitteren Beigeschmack.“ Und dass sie zurück in Berlin, Sitz des Veranstalters, Bildmaterial gesichtet habe, drei, vier Wochen lang, aus dem Internet, von Handys, von den Kameras, die auf dem Gelände standen, von morgens bis abends.
Über die Zaunelemente will das Gericht mehr wissen, die im Wege standen, wer die aufgebaut habe; wo genau Müllcontainer gestanden hätten, will das Gericht wissen, und eine Skizze wird an die Wand projiziert, mit Markierungen, wo die Container standen, die nur einfache Boxen gewesen seien, wie die Zeugin sagt, die manchmal so wirkt, als müsse sie an sich halten, um nicht zu erkennbar gereizt zu sein, dass diese Menschen hier im Gericht tatsächlich so wenig von ihrem Job als Veranstalterin verstehen: dass man etwa schwere Kopfhörer trägt, weil die Musik drumherum ja so laut ist auf so einem Festival und nein: Man setzt sie nicht ab, den ganzen Tag nicht, man hat ja ein Headset und ist so per Funk mit den Kollegen verbunden, einerseits geduldig, andererseits mit leicht erhobener Stimme erklärt sie das.
Emails werden vorgelesen, mit Kennung und allem. Und es ist schwer zu sagen, was im Detail wichtig ist, was sich erledigt, was Stoff für Nachfragen an weitere Zeugen ergeben könnte, an vieles auch kann sich die Zeugin nicht erinnern, so lange her wie das ist – und eine Rolle spielt kurz auch, dass sie mit zweien der Angeklagten befreundet sei, so könne man das schon sagen, man arbeite schliesslich schon lange zusammen, wann genau sie sich das letzte Mal getroffen haben, will das Gericht wissen, erfährt es, aber abgesprochen habe sie ihre Aussagen hier heute nicht, mit niemanden, sich auch nicht auf diese Befragung irgendwie vorbereitet, nur wie das hier so sei im Gericht, das Abgefilmt-werden etwa, dass man sich zugleich so gross sieht auf den Leinwänden, darüber hätte sie gesprochen, über mehr nicht, sie habe sich nicht gut gefühlt, als sie die Befragung erhielt, das sagt sie noch.
Und dann gibt es kurzen Moment, zum Ende hin, die Befragung neigt sich dem Ende zu, da werden ihre Sätze kurz unvollständig, fallen fast auseinander: Sie ist noch mal bei den Minuten angelangt, als sie wusste, dass es etwas passiert ist, wenn auch noch nicht, was passiert ist.
Aber dieser Moment ist schnell wieder vorbei. Es gibt keine weiteren Fragen. Vom Gericht nicht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung und der Nebenanklage nicht, vom Gutachter und dessen Assistentin nicht, die direkt hinter ihr sitzen. Die Zeugin ist somit entlassen, sie kann die Auslagen für Fahrtkosten und Übernachtungen geltend machen, die ihr entstanden sind, der Richter reicht ihr die entsprechenden Formulare, die sie nun ausfüllen und unterschrieben einreichen muss, und dann verlässt sie den Saal und nimmt die Rolltreppe ins Erdgeschoss.
Ulrike Stender, die auch an diesem Tag vor Ort ist, sagt: „Der Prozess hat eine begrenzte, aber durchaus positive Wirkung, und viele Betroffene sagen sich ‚Ich warte man ab, was zum Schluss dabei herauskommt, aber ich wende mich anderen Themen meines Lebens zu‘. Andere hielten verbissen an ihrer Opfer-sein-Rolle verbissen fest und dieses Festhalten sei ein Stück ihrer Identität geworden: „Das ist bei einigen der Traumatisierten und Verletzten besonders stark. Sie sind durch so in eine aktive Rolle gekommen, haben viel Bestätigung und Aufwertung bekommen, und sie versuchen diese Rolle zu halten, obwohl sie kaum zu halten ist. Wer sind sie, wenn sie nicht anerkanntes, gefragtes, auch von den Medien hofiertes Opfer sind?“ Sie schnippt mit den Fingern in der Luft: „Sie mussten nur so machen und die Medien kamen angerannt; heute kommt vielleicht noch eine Zeitung.“ Der Fall ins Unbedeutsame mache ihnen sehr zu schaffen.
Jürgen Thiesbonenkamp ergänzt: „Auch wenn das grosse Thema Gerechtigkeit nicht beantwortet wird, die Leute fangen an, sich ihrem Leben wieder anders zuzuwenden.“
Auf der Rückfahrt von Düsseldorf nach Hamburg passiert der Zug Duisburg. Die Stadt wird als nächste Station angesagt, alle Anschlusszüge würden erreicht, die Lok bremst ab und das leere Güterbahngelände kommt linkerhand in Sicht. Ich sehe kurz die Umrandung des oberen Teils der Gedenkstätte, weil ich weiss wohin ich schauen muss. Ich sehe den gepflanzten Lebensbaum, es ist der zweite, der erste war nicht richtig angewachsen, er verkümmerte, wurde entfernt. Der Zug fährt in den Bahnhof ein, und ich erinnere mich an den älteren Mann, der am zweiten Abend meines Besuches an der Gedenkstätte aufgetaucht war. Er war mit dem Fahrrad gekommen, hatte die Hosenbeine mit Klammern gesichert. Er war schwungvoll abgestiegen, hatte sein Fahrrad abgestellt, hatte mit den rechten Fuss ein wenig den Kies glattgestrichen, damit er wieder plan liegt.
Dann stellt er sich aufrecht hin, verharrt einen Moment, er bekreuzigt sich, steigt auf sein Fahrrad und fährt davon.
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