Sie lieben das riskante Denken: Svenja Flaßpöhler im Interview mit ERNST-Autorin Anna Pieger. »
Interview: Anna Pieger
ERNST: Frau Flaßpöhler, bei der Vorbereitung unseres Interviews habe ich darüber nachgedacht, wann und wo mir das Thema Gerechtigkeit im Alltag begegnet. Meine erste Assoziation war ein Satz meines elfjährigen Sohnes, der meist fällt, wenn es um Regeln für Mediennutzung bei uns zuhause geht: „Das ist ungerecht.“ Dies äussert er oft, wenn seine knapp drei Jahre ältere Schwester länger am Handy sein darf als er. Wie reagiere ich aus Sicht einer Philosophin am besten auf diesen Vorwurf? Svenja Flaßpöhler: Was Gerechtigkeit überhaupt ist, ist gar nicht so leicht zu bestimmen. Es kommt darauf an, welchen Ansatz man zugrunde legt. Also ob man einen Egalitarismus propagiert: ‘Jeder bekommt genau das Gleiche unabhängig davon, wie alt er ist‘ etc. Oder ob man sagt: ‘Nein, man muss schon genauer hinsehen, die Menschen sind nicht gleich. Und deshalb ist das, was jedem zuteil wird, auch nicht das Gleiche.’
Also in meinem Beispiel gibt es nicht Gleiches für Gleiche, weil mein Sohn jünger ist. Genau.
In diesem Kontext habe ich mich gefragt, wie sich Gerechtigkeitsempfinden entwickelt. Ist das angeboren oder erlerne ich es, ist es kulturell verschieden? Dazu gibt es ganz unterschiedliche Theorien. Es gibt viele Philosophen oder auch Evolutionsbiologen, die sagen, dass Kooperation angeboren ist und der Mensch und auch Tiere qua Geburt ein gewisses Interesse an Fairness haben. Ich wiederum muss vor dem Hintergrund meiner Erfahrung als Mutter sagen, dass ich das so nicht sehe. Gerechtigkeit ist eine Kulturleistung. Zumal ja, wie gesagt, die Frage, was überhaupt Gerechtigkeit ist, eine sehr schwierige ist. Es gibt in der Philosophie beispielsweise die Theorie von John Rawls, die wirkmächtigste Gerechtigkeitstheorie des 20. Jahrhunderts. Rawls sagt, wir müssen ein Gedankenspiel machen: Nämlich uns allen einen «Schleier des Nichtwissens» auferlegen. Stellen wir uns vor: Wir wissen nicht, welche Position wir gerade einnehmen in der Gesellschaft. Ob ich Chefredakteurin, freie Mitarbeiterin, Putzfrau, Migrantin oder wer auch immer bin: Von jeder einzelnen dieser möglichen Positionen aus muss ich die Gesellschaft bejahen können, muss ich sagen: „Ja, das ist so gerecht, das empfinde ich so als fair.“ Das ist natürlich hochkomplex. Das zu denken und dann eben tatsächlich auch eine Gesellschaft so aufzubauen, der jeder zustimmen kann, egal aus welcher Perspektive er schaut. Wenn es um Gerechtigkeit geht, spielt neben der Gesellschaft, in der man lebt, die Identität eine Rolle. Diejenige, die man sich selbst zuschreibt und diejenige die einem von aussen zugeschrieben wird. Sagen wir in Ihrem konkreten Fall: Sie sind Philosophin, Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, Autorin sowie Mutter von zwei Kindern und Ehefrau. Und da würde mich hinsichtlich «Identität» und «Rollenverteilungen» interessieren: Haben Sie für sich den Eindruck, Sie leben in einer gleichberechtigten Partnerschaft? Ja, ich würde sagen, ich lebe in einer gleichberechtigten Partnerschaft insofern, als dass mein Mann sich grundsätzlich zu gleichen Teilen an der Familienarbeit beteiligt. Aber natürlich weiss ich, dass das oft nicht so ist. Und da stellt sich die Frage: Warum eigentlich nicht? Ist das die Schuld der Männer, der Frauen, der Gesellschaft im Allgemeinen? Klar ist für mich, dass zu einem aufgeklärten Feminismus auch gehört, sich selbst kritisch zu hinterfragen – und nicht nur den Mann oder die Gesellschaft anzuklagen. Die entscheidende Frage ist: Wie wurden wir, was wir sind? Warum stecken Frauen so oft auch freiwillig zurück, verhalten sich passiv, sind eher defensiv als offensiv – und zwar in sexueller, existenzieller und professioneller Hinsicht? Was mich an dem gegenwärtigen Hashtag-Feminismus und vor allem an Metoo stört, ist die Selbstgefälligkeit. Also dass man eben nicht dahin kommt, die eigene Identität auch mal analytisch zu betrachten: Wie wurde ich die, die ich bin? Was trage ich an kulturellem Erbe in mir? Wo bin ich möglicherweise diesem Erbe noch ausgeliefert? Inwiefern stütze ich durch mein Verhalten eine männliche Macht – und genieße es bisweilen sogar? Es gibt übrigens auch in anderen diskursiven Feldern eine gewisse Selbstgefälligkeit dahingehend, dass man nur noch als Betroffene hochemotional reagiert, wenn man das Gefühl hat, dass die eigene Grenze tangiert wurde. Das finde ich wenig zielführend. Bei der Frage ‘Was heisst Frau sein?’ fällt mir auf: Wenn Frauen Mütter werden, spielen ganz viele Mechanismen, die Rollenmodelle verfestigen sich wieder. Obwohl junge Paare von sich dachten, sie hätten sie eigentlich schon abgelegt. Also das Kind ist noch nicht auf der Welt und beide stellen sich vor: Wir kümmern uns beide und verdienen Geld. Wenn man dann ein paar Jahre später schaut, ist die Frau ganz oft in Teilzeit beschäftigt oder arbeitet sogar Vollzeit, stemmt aber den Löwenanteil an Hausarbeit und Betreuungsarbeit. Und dann frage ich mich: Was ist da passiert? An dieser Stelle muss man die Frage stellen: Wie gleich sind Männer und Frauen? Und dann kommt man ziemlich schnell zu der Antwort: Wir sind nicht gleich. Frauen werden schwanger, Frauen tragen neun Monate die Kinder in sich, sie bringen sie zur Welt, sie stillen möglicherweise, sind körperlich viel mehr eingebunden in der ersten Zeit, und das erzeugt schon mal eine Unwucht, eine Ungleichheit, die man weder wegreden noch jemandem anlasten kann. Die grosse Herausforderung an die Gesellschaft ist nun, trotz dieser Ungleichheit gleiche Chancen zu ermöglichen. Und zwar im Idealfall auch dann, wenn die Frau aufgrund der engen leiblichen Bindung auch nach einem Jahr noch nicht in ihren Beruf zurückkehren möchte. Für den Mann ist vielleicht nicht so wichtig, länger beim Kind zu bleiben, ihm fällt die Rückkehr ins Berufsleben aufgrund seiner geringeren leiblichen Einbindung sicher leichter. Das darf der Frau nicht zum Nachteil gereichen; womit auch klar wäre, dass Arbeits- und Betriebsstrukturen sich gravierend verändern müssten. Dennoch gibt es natürlich auch kulturelle Gründe dafür, dass Frauen nach der Geburt des ersten Kindes oft wie von Zauberhand ganz und gar im Privatraum verschwinden. Aufgrund einer jahrhundertealten Kulturgeschichte, die Frauen in die „Immanenz“ verbannt hat, wie Simone de Beauvoir es ausgedrückt hat, haben wir das Gefühl, nicht offensiv in den öffentlichen Raum streben zu dürfen. Diese unbewusst immer noch wirkmächtige Grenze kann Frauen daran hindern, ihre Wünsche und Träume zu verwirklichen und führt oft zu tiefem Frust. Und es gibt auch noch eine dritte Erklärung für die weibliche Zurückhaltung, wenn es um die so genannte Karriereleiter und die Besetzung von Chefposten angeht: Manche Frauen haben schlicht keine Lust auf 60-Stunden-Wochen. Und in der Tat müssen wir uns fragen, ob wir die Gesetze der männlich geprägten Arbeitswelt einfach so übernehmen – oder verändern wollen. Was mir in der Metoo-Debatte aufgefallen ist: Es wird immer von männlichem Begehren gesprochen und die Frau wird als das Passive und Empfangende dargestellt. Über weibliches Begehren spricht meist keiner. Ja, letzten Endes wurde durch Metoo, auch wenn das ganz sicher nicht die Intention war, eine althergebrachte Begehrensökonomie reproduziert und gestützt. Sie lautet: Es gibt den allmächtigen Phallus, dem die Frau ganz und gar ausgeliefert ist und dem sie nichts entgegensetzen kann. Damit fängt das Problem ja schon an, dass wir als aufgeklärte und moderne Frauen und Feministinnen über unser eigenes Begehren viel stärker nachdenken müssen. Darüber, wie unsere Sexualität geprägt wurde durch jahrhundertealte Diskurse, die der Frau eine eigene Lust abgesprochen haben. So wurde die Frau in eine Position der Zurückhaltung und der Scham hineingezwungen, in eine Position des Gefallens, in eine Position, die die männliche Macht zu spiegeln hat. Die Macht dieser Dynamiken hat sich bei #metoo klar gezeigt. Wenn beispielsweise Frauen sagen: „Ja, dann wurde ich eingeladen aufs Hotelzimmer für ein Bewerbungsgespräch und da konnte ich ja gar nicht anders als mitzugehen“, ist das so ja schlicht nicht zutreffend. Natürlich hätte man anders handeln können, natürlich hätte man auch einfach Nein sagen können, aber man tut es nicht, weil man in dieser weiblichen Spiegelfunktion ist und den Mann nicht enttäuschen will. Das wurde uns lange antrainiert. Ein anderer Grund, der auch oft zur Sprache kam, ist viel schlichter: Man will sich den Job nicht entgehen lassen. Das ist verständlich, aber hat mit Autonomie klarerweise nicht das Geringste zu tun. Autonomie meint, dass ich bestimmte Widerstände überwinden muss, dass ich eben auch mit Hindernissen umgehen und Risiken in Kauf nehmen muss. Also ich muss sozusagen etwas in die Waagschale werfen und es kann sein, dass ich, wenn ich mich wirklich autonom verhalte, vielleicht eine ganz bestimmte Stelle nicht bekomme. Das ist nicht fair und auch nicht hinzunehmen, aber es ist auch klar, dass sich die Menschheitsgeschichte keinen Zentimeter voran bewegt hätte, wenn sich Menschen immer nur dann autonom verhalten hätten, wenn es gerade passt. Wie präge ich denn einen neuen Diskurs? Als Mann, als Frau im 21. Jahrhundert? Sicher ist für Veränderungen ausschlaggebend, dass ich Ungerechtigkeiten anprangere. Aber für mich ist der antike Imperativ „Erkenne dich selbst“ mindestens ebenso handlungsleitend. Es gibt aus meiner Sicht keine wirkliche Veränderung, wenn man die eigene Position völlig unbetrachtet lässt und einfach nur die andere Position anklagt, wie im Fall der Metoo-Debatte. Das führt zu einer Verhärtung des Geschlechterverhältnisses, zu einer reinen Anklage von der Seite der Frauen und zu einer Vergeltungslogik, einer Politik der Abschreckung. Nach dem Motto: „Wenn du nicht aufpasst, dann kann dir genau dasselbe passieren wie Dieter Wedel“. Und ich hab oft von Feministinnen gehört: „Ja, es kann schon sein, dass es vielleicht auch mal den Falschen trifft, und ja, das sind vielleicht nur anonyme Anschuldigungen, und ja, das ist vielleicht ein bisschen subjektiv, was man als Belästigung empfindet, aber: Selbst wenn es die Falschen trifft, führt das doch immerhin dazu, dass die Männer mal endlich aufpassen und sich zurückhalten.“ Das ist wirklich genau die Art von Abschreckungslogik, die ich verachte: Warum müssen jetzt Frauen genau in dieselbe Kerbe schlagen wie Männer seit jeher? Die Frauen fangen plötzlich an, von toxischer Männlichkeit zu sprechen, also den Mann zu verdinglichen. Dabei haben die Frauen selber jahrhundertelang Verdinglichung und Objektivierung gelitten. Sie fangen an, sich an den Männern zu rächen, sie fangen an, genau dieselben Fehler zu begehen. In meinem Buch ‘Die potente Frau’ versuche ich zu zeigen, dass eine potente Weiblichkeit das nicht nötig hat, sondern das es darum geht, ganz andere Logiken zu etablieren - und eine ganz andere Begehrensökonomie: Anstatt Männer zu kastrieren sollten Frauen selbst in die Lust kommen. Eine potente Frau wertet die männliche Sexualität nicht ab, sondern die weibliche auf. Noch eine Frage zum allgemeinen Thema «soziale Gerechtigkeit»: Es ist in unserer Gesellschaft immer noch so, dass Betreuungsarbeit nicht oder sehr schlecht finanziell entlohnt wird, wenn sie innerhalb der Familie stattfindet. Also wenn die Frau zuhause bleibt oder der Mann und sich um die Kinder kümmert, werden dadurch keine oder sehr wenige Brötchen verdient, ebenso mit der Pflege von Alten und Kranken. Wäre es ein sinnvoller Gedanke, Betreuungsarbeit auch zuhause zu entlohnen? Das ist jetzt natürlich eine sehr interessante Frage, die auch feministisch sehr widersprüchlich diskutiert wird. Was von Feministinnen einhellig und zu Recht festgestellt wurde, ist zunächst mal die ganz einfache Diagnose, dass in unserer Gesellschaft die Produktion entlohnt wird und nicht die Reproduktion. Und dass der Denkfehler eigentlich schon bei Marx anfängt, der nicht gesehen hat, dass der Arbeiter zur Regeneration seiner Produktivkraft nicht nur Waren braucht, sondern eben auch jemanden, der das Essen kocht, der fürsorglich ist, der sich kümmert, der pflegt, der liebt. Deshalb hat schon Marx die reproduktiven Tätigkeiten abgewertet, beziehungsweise überhaupt nicht als Arbeit betrachtet. Auch für Hannah Arendt war das reproduktive Tun minderwertig, weit höher hat sie das Herstellen bewertet, also die Produktion. Und diese Sichtweise führt zu Ungerechtigkeiten. Dazu, dass diejenigen, die sich im Fürsorgesektor bewegen, sei es, dass sie in der Kita arbeiten oder sich zuhause um die Kinder kümmern, einfach grandios schlecht oder überhaupt nicht entlohnt werden. Deshalb gibt es, finde ich, innerhalb des Feminismus durchaus zu Recht die Forderung: Wir brauchen ein Umdenken, eine Care-Revolution! Wir müssen die Reproduktion aufwerten, wir müssen die Reproduktion der Produktion gleichwertig an die Seite stellen. Man kann sogar sagen, dass gerade in den Zeiten der fortschreitenden Automatisierung und der fortschreitenden künstlichen Intelligenz Fürsorgetätigkeiten immer wichtiger werden, weil das Tätigkeiten sind, die wirklich nur Menschen auf diese Weise erledigen können. Natürlich kann man ein Auto auch mit Maschinen und höchster Technologie herstellen. Aber meine Kinder möchte ich nicht von einem Roboter betreut wissen. Und deshalb spielen die Zeit und die technische Entwicklung da vielleicht sogar dem Feminismus in die Hände, was begrüssenswert wäre. Denn wenn wir die reproduktiven Tätigkeiten aufwerten, monetär und ideell, würde das möglicherweise auch dazu führen, dass Männer sich ganz von allein mehr engagieren. Gleichzeitig, und jetzt kommt die Kehrseite, müssen wir uns fragen, ob ein «skandinavisches» Modell auch dazu führen kann, dass vor allem Familien aus den unteren Lagen der Gesellschaft dieses Angebot nutzen. Und das wiederum hätte zur Konsequenz, dass genau die Kinder, die eigentlich rein müssten in die öffentlichen Bildungseinrichtungen, um die Sprache zu lernen, um Bildungsmöglichkeiten wahrzunehmen, um Bildungschancen zu haben, dass genau die zuhause bleiben. Dazu kommt, dass der Schuss auch ganz einfach nach hinten los gehen könnte und Frauen sich aus dem öffentlichen Leben wieder zurückziehen, wenn Hausarbeit bezahlt wird. Immerhin ist das die Rolle, die sie eh schon immer hatten – und jetzt wird sie auch noch bezahlt? Wunderbar, warum dann noch die Anstrengung von Konkurrenzkämpfen und anderem übernehmen? Insofern ist die Care-Revolution – Stichwort Herdprämie – eine sehr zweischneidige Sache. Bei der Mutterschaft zeigt sich das unterschiedliche leibliche Erfahren des eigenen Körpers und der Welt von Männern und Frauen besonders intensiv. Trotzdem habe ich Hemmungen, diese Unterschiede zu formulieren, weil feministische Theorien oft behaupten: Gender ist reine Konstruktion. Man muss einen Weg finden, Geschlecht und Geschlechtlichkeit jenseits von Essentialisierung auf der einen Seite und Konstruktion auf der anderen Seite zu denken. Denn: Beides genügt nicht. Natürlich ist es falsch, Frauen und Männer auf ein Wesen zu reduzieren und biologistisch zu argumentieren, aber es ist genauso falsch, zu sagen, Geschlecht ist eine reine Konstruktion und Leiblichkeit spielt überhaupt keine Rolle. Nach zwei Geburten ist mir völlig klar: Selbstverständlich gibt es einen bedeutenden Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Körpern. Ich werde als Frau nie wissen, wie es ist zu penetrieren, ich werde nie wissen, wie es ist einen Penis zu haben, das ist eine Erfahrung, die ist mir fremd. Das kann ich nicht wissen. Und Männer können nicht wissen, wie es ist eine Vulva zu haben, wie es ist Brüste zu haben. Natürlich überlappen sich die Erfahrungen von Männern und Frauen in ganz vielen Bereichen. Aber es gibt leiblich gebundene Erfahrungen, die jeweils nur dem einen Geschlecht zugänglich sind. Da kommt man eben mit Konstruktion und Diskurs nicht weiter. Mein Mann und ich haben gerade ein Buch geschrieben, „Zur Welt kommen: Elternschaft als philosophisches Abenteuer“, das wir sehr bewusst zu zweit geschrieben haben. Man sieht in dem Buch, wer schreibt, Mann oder Frau, immer durch das Weiblichkeits- und Männlichkeitszeichen markiert. Es wird sehr klar, dass die Wahrnehmung meines Mannes, was Kinderhaben angeht, was Elternsein angeht, was Vatersein angeht, sich in vielen Punkten sehr unterscheidet von der Art und Weise, wie ich die Dinge wahrnehme. Und das hat klar und sehr zentral damit zu tun, dass er leiblich nicht oder in bestimmten Zeiten eben gar nicht eingebunden ist. In der Schwangerschaft, da kann er mir die Hand halten, und er kann mir irgendwelche Kissen in den Rücken stecken bei der Geburt, aber er ist da nicht auf dieselbe Art involviert. Diese Ausschliesslichkeit von Erfahrung zu benennen ist möglich, ohne sie als Nachteil zu sehen. Sondern umgekehrt als eine wertvolle Exklusivität und Potenz, die geschlechtlich gebunden ist. Ob man diese Potenz, diese Möglichkeit dann auch verwirklicht, ist eine ganz andere Frage. Ich kann auch bestimmte Möglichkeiten ganz bewusst links liegen lassen und in eine andere Richtung abbiegen. Das wichtigste ist, dass ich die werde, die ich sein will. Svenja Flaßpöhler ist Philosophin, Autorin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“. Die aktuelle Ausgabe widmet sich der Titelfrage: „Was ist eine gerechte Gesellschaft?“ und ist im Handel erhältlich. Flaßpöhlers Streitschrift „Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit“ (Ullstein 2018) hat die Metoo-Debatte nachhaltig beeinflusst und wurde ein Bestseller. Zusammen mit ihrem Mann, dem Literaturwissenschaftler Florian Werner, hat sie zum Thema Elternschaft das Buch „Zur Welt kommen. Elternschaft als philosophisches Abenteuer“ (Blessing 2019) geschrieben. Das Paar wohnt mit den beiden gemeinsamen Kindern in Berlin.