Ernst - Magazin fuer Gesellschaft, Sinn und Gender
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gebt Eure
​Privilegien
auf!
​(Und PROFITIERt von der Emanzipation)

Alle Geschlechter haben ein Recht auf Emanzipation. Und alle sind ihr verpflichtet. Ein Interview mit der Geschlechterforscherin Patricia Purtschert. »
Interview: Adrian Soller, Foto: Luca Bricciotti
Bild

ERNST: Rollenbilder scheinen hierzulande immer mehr aufzuweichen, trotzdem fällt die Schweiz in den Gleichstellungsrankings zurück. Und die sogenannten «unerklärbaren Lohndifferenzen» zwischen Mann und Frau sind in den vergangenen sieben Jahren sogar noch angestiegen. Hast Du eine Erklärung dafür?
Patricia Purtschert: Ich denke, es gibt sehr viele unterschiedliche Entwicklungen in der Gleichstellungsfrage, durchaus auch widersprüchliche. Und es gibt Ungleichzeitigkeiten in ebendiesen Entwicklungen. Wir können also nicht pauschal von Rück- oder Fortschritt reden. Aber ein wesentlicher Einflussfaktor für Rückschritte dürfte der Neoliberalismus sein: Denn durch voranschreitenden Sozialabbau und durch den Rückzug des Staates hat sich die Care-Arbeit in jüngster Zeit wieder vermehrt in die Häuser verschoben. Care-Arbeit findet, je länger je mehr wieder, unter sehr prekären Bedingungen statt. Und darunter leiden besonders Frauen. Denn es ist schon so: Delegieren wir die Sorgearbeit wieder vermehrt in den privaten Bereich, sind es noch immer in erster Linie einheimische Frauen, die unbezahlte Care-Arbeit verrichten, die übermässig davon betroffen sind, ebenso wie migrantische Frauen und Männer in prekären Arbeitsverhältnissen. Gewisse Rückschritte sind in der Schweiz also nicht Zufall – sondern gewollt oder mindestens in Kauf genommen. Diese sich verändernden politischen Rahmenbedingungen wirken auf der einen Seite, auf der anderen Seite gibt es nicht einfach eine teleologische Entwicklung, also eine ständige Öffnung, was die Vervielfältigung der Rollenbilder anbelangt. Auch dort gibt es Widersprüche. Bei aller Modernisierung gibt es auch viele Verstärkungsmomente klassischer Rollenbilder. In diesem Zusammenhang finde ich «Gendermarketing» ein wichtiges Thema. In der Konsumwelt ist die angebliche Geschlechterdifferenz – die zwei «Pole», weiblich, männlich – noch mehr als früher ein Werkzeug der Profitmaximierung. Denke ich an meine Kindheit in den Siebzigern zurück, stelle ich fest, dass es damals eine deutlich weniger rigide Aufteilung zwischen Mädchen- und Jungen-Spielsachen und -Kleider gab. Im Laden kommt heute immer die Frage: «Ist es ein Mädchen oder ein Junge?» Die Spielzeuge sind zumeist stereotyp: Action-, Technik- und Kriegsspielzeug für Jungs, Haushaltsspiele und Puppen für Mädchen. Das ist für beide Seiten enorm einschränkend. Selbst wenn weibliche Legofiguren auch mal Ingenieurinnen sind, sind sie das im Deux-Pièce oder haben einen enorm normierten weiblichen Körper. Damit einher geht dann diese Doppelbotschaft: «Du kannst schon in einen Männerberuf – musst aber dabei sehr weiblich aussehen.» Und ja: Zwischen diesen beiden Entwicklungen gibt es auch sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkungen. Mädchen werden seit jeher durch Puppen-Spiele ermutigt, ihre soziale Kompetenz zu vergrössern, um später, als Frau dann, unbezahlte Sorgearbeit zu übernehmen. Für mich ist aus feministischer Warte klar: Die Trennung zwischen «Produktion» und «Reproduktion» ist ein schlechter Taschenspieltrick – der ökonomisch aber leider allzu gut funktioniert. Wir wirtschaften auf einer sehr unreflektierten Grundlage.

Neben der zweifellos fatalen Wirtschaftsgläubigkeit der hiesigen Bevölkerung gibt es aber wohl schon auch noch andere Erklärungen: Offenbar gibt es auch so etwas wie ein «Gleichstellungs­-Paradox». Eine internationale Studie, die amerikanische Wissenschaftler im Fachmagazin «Psychological Science» vor zwei Jahren veröffentlicht haben, zeigt: Je gleichberechtigter ein Land ist, desto weniger Frauen studieren «Männer­Berufe». Finnland, Norwegen und Schweden bilden so mit rund 25 Prozent offenbar das Schlusslicht der Mint­-Rangliste.
Nun ja, da wäre ich jetzt vorsichtig. Ich kenne die Studien nicht, und ich will den Forschenden nichts unterstellen. Aber: Es gibt ein öffentliches Interesse solche «Paradoxe» heraufzubeschwören. Gewisse politische Kreise verkürzen die Diskussion gerne auf Aussagen wie: «Wir haben es versucht, aber die Frauen wollen ja gar nicht.» Und da kehrt unter der Hand gerne das Natur-Argument wieder: Es ist einfach natürlicher, heisst es dann, dass Frauen die Sorgearbeit machen und Männer sich in der weiten Welt bewähren. Unter dem Stichwort «Gleichmacherei» fordert die Rechte ja immer wieder die Abschaffung von Gleichstellungsbüros. Was ich historisch interessant finde, ist, dass es in den sozialistischen, respektive ehemalig sozialistischen Ländern einen hohen Frauenanteil in MINT-Fächern gab und auch Frauen, die in diesen Berufsfeldern arbeiteten. Es wäre spannend, da genauer hinzuschauen, und sich zu fragen, unter welchen Bedingungen das möglich wurde. Das sage ich übrigens, ohne das Gesellschaftssystem in diesen Ländern idealisieren zu wollen; viele Frauen waren in sozialistischen Ländern mit einer Doppelbelastung von bezahlter und Care-Arbeit konfrontiert. Aber: Das Bespiel zeigt, dass es problematisch ist, einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Frauenanteil in Männerberufen und Gleichstellung zu behaupten.

Klar, die Forderung Gleichstellungsbüros abzuschaffen ist, betrachtet man die jüngsten Entwicklungen, kontraproduktiv, mehr noch: sie ist schlicht lächerlich. Aber wir können uns doch schon relativierende Fragen stellen, beispielsweise: Wann sollen wir die Befreiung der Frauen (und der Männer) fordern – und wann eben einfach nur Gleichstellung?
Wir müssen uns in diesem Zusammenhang immer wieder fragen: «Was heisst Gleichstellung überhaupt, um was soll es dabei gehen?» Geht es beispielsweise darum, die wirtschaftlichen Bedingungen so zu belassen, wie sie sind, und nur dafür zu sorgen, dass es mehr Frauen in den Chefetagen gibt – oder muss es vermehrt auch darum gehen, gesellschaftliche Transformationen anzustos sen? Für mich ist klar, eine echte feministische Bewegung muss sich auch und gerade mit Letzterem befassen. Wir müssen uns fragen, wie wir leben, wie wir zusammenleben wollen. Entscheidend ist somit, in Bezug auf was wir «Gleichstellung» herstellen wollen. Wenn beispielsweise nicht wenige Frauen sagen, dass sie nicht 150-Prozent arbeiten wollen, dass sie ihre Kinder nicht verpassen, nicht nur Karriere machen wollen, kann das durchaus als Kritik am gängigen System verstanden werden. Dann ist es ein grosses Missverständnis, ihre Entscheidung auf die «Natur der Frau» zurückzuführen. In dieser Haltung liegt vielmehr eine Systemkritik, die mehr als berechtigt ist: «Will ich wirklich nur arbeiten, was will ich mit meinem Leben tun?» Das sind entscheidende Fragen. Dort setzt auch jener Teil der Männerbewegung an, der zeigt, dass die gängigen Vorstellungen von Erfolg auch für viele Männer sehr einschränkend sind. Daran setzt eine postkoloniale Kritik an, die zeigt, dass der Reichtum moderner westlicher Gesellschaften auf dem Rücken von Menschen im Süden generiert wird. Auch die jüngste Ökologiebewegung konfrontiert uns mit den zerstörerischen Folgen dieser Lebensform. Der utilitaristische Zugriff auf Menschen und Natur verbindet Patriarchats-, Rassismus- und Oekologiekritik. Das finde ich spannend. Und ein Ansatzpunkt für umfassende alternative Visionen des Zusammenlebens.

Wenn es darum geht verschiedene Perspektiven zu verbinden: Offenbar ist es so, dass die Lohndifferenz zwischen Frauen und Männer kleiner ist, als die Lohndifferenz zwischen Teilzeitarbeitenden und Vollzeitarbeitenden. Ist die Geschlechterperspektive eine oberflächliche, gar oft eine falsche? 
Nun ja, es sind letztlich die Frauen, die deutlich mehr Teilzeit arbeiten. Und damit landen wir – egal welchen Weg wir nehmen – immer auch beim Thema der «Geschlechterdifferenz». Geschlecht ist eine wichtige Perspektive, die wir nicht ausblenden dürfen, aber es ist nie die einzige. Ein anderes Thema in diesem Zusammenhang wäre die enorme Lohnspanne ganz im Allgemeinen, und da verschränkt sich Geschlecht und soziale Klasse mit Herkunft, Rassifizierung und anderen Differenzen. Kurzum: Ich denke, es ist wichtig, die einzelnen Themen wirklich zu verbinden, nicht nur miteinander zu ergänzen. In der Forschung versuchen wir dies unter dem Stichwort «Intersektionalität» zu tun. Denn Geschlechterdifferenz ist per se eine leere analytische Kategorie. Sie macht erst Sinn, wenn sie kontextualisiert wird, in Zusammenhang mit anderen Machtverhältnissen gesetzt wird. Man kann da auch zur Kritik an bestimmten Frauen- und Männerbewegungen ansetzen. Oft setzen diese Bewegungen spezifische Erfahrungen voraus, aus denen heraus sie politisieren und agieren. Diese Überlegungen betreffen dann aber oft nur einen – meistens sehr privilegierten – Teil der Bevölkerung. Und da setzen wir mit unserer Forschung unter dem Stichwort «Intersektionalität» an.

Was bedeutet Intersektionalität?
Der Begriff geht unter anderem auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw zurück, die Ende der Achtziger analysierte, wieso schwarze Frauen mit ihren Forderungen vor Gericht abblitzten. Sie untersuchte unter anderem den mittlerweile berühmten «GM-Fall». So hat das Gericht damals General Motors vom Vorwurf der Diskriminierung freigesprochen, obwohl die Firma bis dahin keine einzige schwarze Frau angestellt hatte. Das Gericht folgte der Argumentation, dass GM weder rassistisch noch sexistisch agiere, weil GM ja sehr wohl zum einen schwarze und weisse Menschen, zum anderen eben auch Frauen und Männer anstellte. Die Firma stellte tatsächlich schwarze Männer als Mechaniker und weisse Frauen als Sekretärinnen an. Sie hätte aber nie eine schwarze Sekretärin oder Mechanikerin angestellt. Die schwarzen Klägerinnen hatten also recht: ihre Bewerbungen wurden systematisch nicht berücksichtigt. Dennoch kamen sie vor Gericht nicht durch. Crenshaw zeigt, dass man ihre Diskriminierungserfahrung nur dann anerkennen kann, wenn man das Zusammenwirken von Rassismus und Sexismus untersucht.

Müssen wir also mehr noch eine Politik für Minderheiten machen?
Es ist wichtig, Minderheiten mitzudenken. Da verwenden Politik und Medien oft Abspaltungstechniken, so ganz nach dem Motto: «Wir vergessen die Mehrheit, weil wir immer nur auf die Minderheiten blicken.» Das ist eine lächerliche Umkehrung der realen Machtverhältnisse. Zudem geht es nicht darum, auf die Ränder einer Gesellschaft zu blicken. Vielmehr geht es darum, von den angeblichen Rändern her auf die ganze Gesellschaft zu blicken. Geht es beispielsweise um Familienmodelle können wir von sogenannten Regenbogenfamilien viel lernen: ein Grossteil der lesbischen und schwulen Eltern teilen sich die Erwerbs- und Care-Arbeit egalitär auf, viel egalitärer als heterosexuelle Paare. Warum nehmen wir das nicht zum Anlass, von diesen Paaren zu lernen? Für mich geht es grundsätzlich darum, zusammenzudenken, statt abzuspalten. Auch bei den Recherchen zu meinem neuen Buch über die postkoloniale Geschlechtergeschichte der Schweiz zeigte sich: Man kann das Geschlechterarrangement in der Schweiz nicht verstehen, wenn man nicht untersucht, dass es dabei auch um Weisssein geht. Die Schweiz hat sich im kolonialen Kontext als weisser Raum, als weisse Nation in Abgrenzung zu nichtweissen Anderen konstituiert. Die Vorstellung, dass wer zur Schweiz gehört, weiss ist, verfolgt uns bis heute und prägt die aktuellen Aushandlungen von nationaler Zugehörigkeit.

Nochmals zurück zu den Geschlechterrollen: Sollte es nicht vermehrt darum gehen, Identitäten und Geschlechterrollen hinter sich zu lassen – statt sie einfach nur um neue Verhaltensmuster zu erweitern?
Es braucht beides. Ohne auf Geschlechter zu referieren, können Veränderungen heute schwerlich funktionieren. Es ist uraltes Argument, um sich einer Auseinandersetzung zu widersetzen: «Wir sind doch alles Menschen, wieso sprechen wir überhaupt noch vom Geschlecht.» Die hierarchische und binäre «Geschlechterdifferenz» hat unsere Gesellschaft, unser Verhalten, unsere Persönlichkeit aber so durchdrungen, dass wir sie oft gar nicht mehr wahrnehmen. Bei der Diskussion um eine geschlechtergerechte Sprache beispielsweise, heisst es oft, Frauen seien ja mitgemeint, wenn das generische Maskulinum verwendet wird. Wenn man das aber wissenschaftlich untersucht, stellt man fest, dass kognitiv andere Mechanismen ablaufen, wenn wir eine gendergerechte Sprache anwenden. Es entstehen andere Bilder im Kopf, der Mensch wird nicht mehr nur als Mann vorgestellt, sondern eben auch als Frau oder Trans*. Ebenso wichtig ist es, in Kinder- und Schulbüchern eine breitere, auch ethnisch unterschiedliche Palette an Familien- und Geschlechterbildern zu zeigen. Auch da lässt sich übrigens das Verhältnis von Zentrum und Rand umkehren: Lesben, Schwule und Transgender werden oftmals als Abweichung von der Norm dargestellt und als Randphänomene behandelt. Dabei lässt sich viel lernen von ihnen über einen selbstbestimmten und kreativen Umgang mit Geschlechternormen. Kurzum: Vielfältigere Rollenbilder ermöglichen mehr Freiheit. Wir haben die Möglichkeit, freier und spielerischer mit Geschlechterbildern umzugehen. Also: Nutzen wir doch diesen Spielraum.

Klar, differenziertere, breitere Rollenbilder sind eine Befreiung. Ich finde aber auch: Wir könnten teilweise schon vermehrt wieder das «politische Ich» benutzen, statt von «Frauen», «Trans» oder «Männern» zu sprechen …
Geschlecht strukturiert unsere Existenz, ob wir wollen oder nicht. Denn wir haben keinen neutralen Ausgangspunkt, sind immer vergeschlechtlicht. Sogar non-binäre Menschen müssen sich gegen geschlechtliche Zuschreibungen verhalten und oft genug wehren. Es gibt keine geschlechtsneutrale Ich-Perspektive.

Ja, aber wir könnten doch schon versuchen weniger auf die Kategorie «Geschlecht» zu referenzieren. Begriffe wie «toxische Männlichkeit» sind zwar gut, bringen wichtige Zusammenhänge zwischen Männerrollen und eben gewissen «toxischen» Verhaltensmuster auf den Punkt. Allerdings gibt es ja auch da andere Zusammenhänge. Ich denke nicht, dass ich schlechter über Gefühle reden kann als meine Nachbarin – obwohl ich ein Mann bin, sie eine Frau. Meine These: Geschlechterzusammenhänge werden oft ungewollt verstärkt mit solchen Schlagwörtern.
Darum eben ist mir der intersektionale Ansatz wichtig. Wir sollten das Geschlecht mitdenken, aber uns nicht auf diese Kategorie reduzieren lassen. Ausserdem geht es um das Verstehen von strukturellen Zusammenhängen, nicht um die Behauptung, jede individuelle Erfahrung sei auf eine einzige Formel reduzierbar. Mit anderen Worten: Die Vorstellung, dass es eine hegemoniale Männlichkeit gibt, erklärt nicht jeden Aspekt deiner Erfahrungen. Aber sie hilft, viele deiner Erlebnisse in einem gesellschaftlichen Gesamtkontext zu verorten. Die Realität ist immer komplexer als das Modell. Aber das Modell hilft uns, die Realität zu verstehen.

Was hältst Du von «toxischer Männlichkeit» – als Denkmodell?
Ich weiss nicht, ob «toxisch» so viel erklärt. Der Begriff hat etwas Eingängiges. Er bringt aber auch problematische historische Referenzen mit sich: Es ist ein klassischer Topos des Antisemitismus, dass Juden Vergiftung unterstellt wird. An solche Traditionen würde ich nicht anschliessen wollen. Problematisch am Begriff ist zudem, dass das Gift agiert, nicht die Person. Damit kommt den Männern eine passive Rolle zu. Ich würde eher mit dem Begriff der «hegemonialen Männlichkeit» operieren, also der Vorstellung, dass soziale Strukturen eine gewisse, und keineswegs jede Männlichkeit mit viel Macht ausstatten. Aber gleichzeitig gibt es individuelle Handlungsmöglichkeiten in diesen Strukturen. Sie sind wirkmächtig, aber nicht deterministisch. Wenn ich als Mann in einer Gesprächssituation die Macht verspüre, mein weibliches Gegenüber zu belehren und drei Viertel der Redezeit für mich in Anspruch zu nehmen, kann ich mich dazu entscheiden, genau das nicht zu tun, mich zurückzuhalten, gezielt zuzuhören, und mich dem verführerischen Gedanken zu widersetzen, meine Ideen seien wichtiger und interessanter als ihre.

In diesem Zusammenhang spannend finde ich, die Emanzipation auch als Pflicht zu verstehen. Und nicht nur als Recht.
Ja, das gefällt mir auch. Wir scheuen uns allzu oft vor der Schuld- und Verantwortungsfrage. Ich kann dem der Dreh zwar etwas abgewinnen: Männer profitieren von der Emanzipation, weil sie auch unter dem Patriarchat leiden, und sie liegt deshalb im Eigeninteresse der Männer. Aber: Das ist nie die ganze Geschichte. Denn Männer müssen Macht und Privilegien abgeben – und andere Formen der Verantwortung übernehmen. Solche, die weniger soziale und ökonomische Anerkennung mit sich bringen als diejenige, mit denen sie oftmals vertraut sind. Wenn wir Gleichstellung nur als Win-Win verstehen, droht sie zu einem neoliberalen «Freiheitsversprechen» zu werden. Wobei Freiheit in diesem Zusammenhang durchaus als Regierungstechnik zu verstehen ist, wie die Neoliberalismuskritik zeigt. Wir landen mit der Gleichstellungsargumentation in einem neoliberalen Ermöglichungsdiskurs, ohne Pflichten oder Umverteilung zu thematisieren: Männer müssen ihr Verhalten nur dann ändern, wenn ihnen im Gegenzug etwas geboten wird, heisst es dann, alles andere sei Zwängerei. Aus dieser Logik gilt es auszusteigen, indem Verantwortung von den Menschen eingefordert wird, gerade auch für historisches und gegenwärtiges Unrecht.

Verantwortung zu übernehmen, wird im MeToo­Diskurs von den Männern gefordert, völlig zurecht. Die Deutsche Philosophin Svenja Flassböhler aber appelliert  zudem schon auch an die Verantwortung der Frau:  Sie findet der MeToo­Diskurs zementiert den Opferstatus der Frau.
«Opferstatus», «Diskurs», «Frau»: Bei jedem dieser Begriffe müsste man jetzt stärker differenzieren. Ich finde es unnötig, eine solche Bewegung mit einer pauschalen Kritik auszuhebeln. Es ist eine neue Form einer neuen Generation über Themen zu reden, die viel zu wenig zur Sprache kommen. Bei Sexismus, Rassismus oder Homophobie wird der Viktimisierungsvorwurf oft zu schnell gemacht. Es müsste erst einmal darum gehen, den Betroffenen zuzuhören. Der Bewegung ist es immerhin auf neue Weise gelungen, persönliche Erfahrungen politisch relevant zu machen. Und das ist gut. Klar gibt es da ganz verschiedene Voten, die man unterschiedlich bewerten kann. Die Bewegung als Ganzes aber schafft es, das System hinter den vielen individuellen Erfahrungen aufzuzeigen.

Beim Sexismus gibt es klare Täter­Opfer­Momente. Meistens sind dies Momente, in denen die Frau das Opfer, der Mann der Täter ist. Aber gerade um das System hinter den Alltagssexismsen zu verstehen, muss man wahrscheinlich auch jene Momente davor und danach verstehen: Da gibt es durchaus widersprüchliche Momente, bei allen Geschlechtern, bei allen Menschen. Es ist eben wohl nicht nur Klischee, sondern leider noch immer oft Realität, dass sich Männer als Eroberer sehen wollen – und Frauen erobert werden wollen.
Klar, wir müssen auch feministische Diskussionen über das Begehren führen, darüber sprechen, dass und wie Frauen aktivere Formen des Begehrens leben können. Aber muss das wirklich alles Teil von MeToo sein? Überladen wir die MeToo-Diskussion nicht? MeToo hilft in erster Linie die Vielfältigkeit der Übergriffe zu verstehen, die Mikropolitiken von Sexismus zu erkennen. Es bietet einen unfassbareren Reichtum an Informationen an, den wir nutzen können. Und es ist eine Aufforderung an die Männer zuzuhören. Denn viele Männer verstehen noch immer nicht, dass es nicht O.K. ist, wenn ein Chef seine Mitarbeiterin tätschelt, und ihr anzügliche Komplimente macht. MeToo ist ein Angebot an Männer und an uns alle, die verletzende Wirkung sexualisierter Macht zu verstehen. Schieben wir MeToo also nicht einmal mehr auf die Seite nach dem Motto: Frauen haben ja auch Fehler gemacht. Meine Haltung ist eher: Da gibt es Millionen von Tweets - die wir nutzen, aus denen wir lernen können.
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Gibt es eine Perspektive im öffentlichen Genderdiskurs, die derzeit fehlt?
Wie schon gesagt: Wir sollten mehr noch von den Rändern her auf die Gesellschaft blicken, etwa mit Hilfe queer-feministischer oder postkolonialer Perspektiven. Meine neue Forschung legt dar, dass Schweizer Frauen ihre Rolle als Hausvorsteherin in den Dreissiger Jahren im Kontext von Zivilisation und Kolonisation schmackhaft gemacht wurde. Damals kamen Waschmaschinen und Staubsauger auf den Markt. Es galt darum nicht als altbacken Hausfrau zu sein, weil es mit der Anwendung moderner Technik einherging. Man gab den Frauen zu verstehen: «Ihr weissen Frauen seid die Vorhut der Zivi li sation im Gegensatz zu den Frauen im Süden, in Afrika oder Asien.» Dieses koloniale «Othering» war grundlegend für das Schweizer Selbstverständnis – und ist es auch heute noch. Es gibt heute beispielsweise eine ganz starke Vorstellung davon, dass die muslimische Bevölkerung punkto Geschlechtergleichstellung zu erziehen sei, während die christlich sozialisierte Bevölkerung sich selbst als weitgehend gleichgestellt versteht. Damit findet eine problematische Verlagerung der Diskussion statt, eine Ethnisierung der Geschlechterfrage, die plötzlich nichts mehr mit «uns» zu tun hat, sondern nur noch mit «denen». Es gibt eine Tendenz, Gleichstellungsfragen für rassistisch motivierte Zwecke zu nutzen. Und das halte ich für falsch und gefährlich.


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