Selbst unser Glück schieben wir auf.
Das Glück liegt immer in der Zukunft oder in der Vergangenheit, nie in der Gegenwart. Oder etwa doch?
Fehlt uns etwa einfach der Mut, das Glück des Augenblicks zu wagen? »
Fehlt uns etwa einfach der Mut, das Glück des Augenblicks zu wagen? »
Text: Ivo Knill
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Es ist heiss, die Nacht fällt früh in die ungeteerten Strassen im Kongo. In die Dunkelheit fallen die Rufe der Tiere, zwischen Wachen und Schlafen, wälzt sich das Bewusstsein irrlichternd im Bett. Einer trainiert beim schwachen Licht der Strassenlampen. Er joggt im Nachtschatten der Häuser. Sein massiger, dunkler Körper bewegt sich geschmeidig. Er will siegen. Er wird siegen. Er verspricht es, wenn er, von einem Bein aufs andere hüpfend, Interviews gibt. Er blufft. Der Kampf aller Kämpfe wurde aufgeschoben, die Kämpfer und ihre Teams müssen im Land bleiben. Sechs Wochen. Warten, Joggen, Bluffen. Dann endlich kommt die Nacht der Nächte. Die Nacht des Kampfes: Muhammad Ali gegen George Foreman. Es ist der grösste Boxkampf aller Zeiten. Im riesigen Stadion steht der Ring. Scheinwerfer folgen den Boxern. Zuerst schiessen Blicke aus der Deckung hervor. Dann fliegen die Fäuste. Die Schläge treffen. Die Schweisstropfen spritzen glitzernd im Scheinwerferlicht auf. Schlag auf Schlag. Schwer bewegen sich die Körper, die Blicke lauern. Deckung. Angriff. Schlag. Muhammad Ali hat den Sieg versprochen. Aber er tänzelt nicht, wie er immer getänzelt hat. Seine Leichtigkeit ist dahin. Er steckt Schlag um Schlag ein. Er lässt sich schlagen. Runde um Runde steckt er die Hiebe ein, die ihm Foreman versetzt. Seine Fans werden still.
Es ist Nacht über Zaire. Der Diktator Mobutu Sese Seko hat die Beteiligten des Kampfes für sechs Wochen im Land eingesperrt, weil er nicht wollte, dass der Match nach der Verschiebung anderswo durchgeführt würde. Jetzt findet der Match statt und Ali, der Träger der Hoffnung und Sympathien, lässt sich zusammenschlagen. Bis zur achten Runde. Bis zum Moment, als alles anders wird. Denn da, plötzlich, zeigt er, dass auch das nur eine seiner vielen Listen war: Foreman ist erschöpft von seiner Schlägerei, Ali löst sich blitzschnell aus den Seilen, er schlägt, drei, vier Mal pro Sekunde. Foreman geht zu Boden. Ali hat gewonnen. Der Film «When we were Kings», der den grossen Kampf zwischen Ali und Foreman schildert, erhielt einen Oskar für den besten Dokumentarfilm. Es ist ein grosser Film, der eine unglaubliche Intensität aufbaut. Das Bild, das er vermittelt ist, nur zum Teil korrekt: Ali war gar nicht so sehr in der Defensive, er lag schon vor seinem K.o.-Schlag in Führung, das lässt sich nachlesen. Trotzdem kommt mir der Film in den Sinn, als ich den Text eines jungen Mannes lese, der die Probleme schildert, die ihm sein Aufschieben macht. Ärger, schlechte Stimmung, verpatzte Arbeiten, durchwachte Nächte – bis zum Punkt, als er in einem irrlichternden Wochenende im Büro alles nachholt, was er in den Wochen zuvor verplempert hat. Er dreht den Kampf in der achten Runde. Wochenlang hat er eingesteckt, aufgeschoben –jetzt schlägt er zu. Das Projekt kann er retten. Aber der Chef entlässt ihn fristlos, als er davon erfährt. Zwischen den Jahren Beide kommt mir jetzt in den Sinn, auf der Heimreise im Auto, als ich zwischen den Jahren ins Trudeln komme. Guetzli und Ratlosigkeit vor dem Leben, das, bevor es ins neue Jahr taucht, kurz Halt macht. Wieso das alles. Eine Grippe, zu wenig Schlaf, zu viel, das liegen bleibt. Mit dem Fieber und der Müdigkeit verliert das Leben seinen Geschmack. Ich schiebe es vor mir her. Das Leben. Das Glück, das es bereithalten könnte, jeden Augenblick. Ich kann nicht an das Glück glauben. Ich bin gefangen im Dazwischen, im Irgendwo und Nicht-Jetzt. Eben gerade war ich bei guten Freunden zu Besuch. Wir sassen im Hotpot und sprachen über das Leben. Stell’ dir einen Brunnen vor, sagte Thea, das Wasser strömt Schale um Schale, Becken um Becken nach unten. So wie beim grossen Brunnen im Zentrum von Rom. So fliesst das Leben von Genration zu Generation! Stell dir vor: Wir müssen nichts aufhalten, nichts zurückgeben. Das Leben fliesst. Im warmen Wasser des Hotpots glaube ich es ihr. Einge Stunden lang ist es wahr. Aber meine Grundstimmung ist anders. Ich zweifle und hadere. Ich bin nicht richtig da. Ich fahre in die Nacht hinein, sehe die Lichter der Stadt im Dunkel schwimmen. Die Landschaft für ein grosses Abenteuer. Ich sehe das Bild, aber ich glaube nicht ans Abenteuer. Ich schiebe Zeit vor mir her. Die Welt ist leer. Dann erwache ich mit Kopfschmerzen und denke an das Orange von Mönchsgewändern. Ich erinnere mich an den Jahreswechsel in Luang Prabang, der Tempelstadt in Laos. In der Nacht lärmt hässliche Musik. So müssen die Dämonen des alten Jahres in die Flucht geschlagen werden. Am nächsten Tag besuchen wir die Tempel, wo die Mönchsknaben in ihren orangen Kleidern spielen und sich in der Sonne die Zeit vertreiben. Wir sehen sie im Schatten eines Baumes mit einer schönen Frau Englisch lernen. Das Sonnenlicht funkelt durch die Blätter. Die Lehrerin streicht das Haar zurück und beugt sich vor, schreibt einen Satz aufs Papier. Ich muss lächeln, wenn ich an dieses Bild denke, jetzt gerade. Auf meinem Tisch liegt das Buch von Thích Nhất Hạnh: «Das Leben ist, was jetzt passiert» - «Das Geheimnis der Achtsamkeit», so lautet der Untertitel. Ich will das Buch weglegen. Ich bin nicht achtsam. Nicht jetzt. Glück ist eine Täuschung Seit der Kindheit misstraue ich dem Glück. Wie oft habe ich mir nicht in den allerschönsten Farben eine Zukunft ausgemalt – nur um dann früher oder später enttäuscht zu werden? Mir wurden Ferien in Spanien versprochen. Meer, Strand, Wellen. Ich sah mich schon im glitzernden Licht des Südens in einem Boot übers Meer rudern. Wir gingen nicht hin. Da hörte ich auf, ans Glück zu glauben. Völlig zurecht, denn noch jeder spätere Versuch, in Spanien jenes erträumte Paradies aus Meer und Strand zu finden, zerschlug sich. Ich fand nur unglaublich viele Menschen, schlechtes Essen, Hotelklötze. Der psychische Zahnschmelz ist angegriffen, das Leben schmerzt bei jedem Biss in den Apfel der Gegenwart. Schopenhauer hatte recht, als er im Jahr 1819, in „die Welt als Wille und Vorstellung“, von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens schrieb: «Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen, kleinen, grössern und grossen Widerwärtigkeiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deutlich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, dass es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu seyn.» Ja, Glück ist eine Illusion. Das Leben ist eine Verleiderei. Vor mir liegt die To-do-Liste. Jeder Punkt in der Liste ist ein Boxhieb, den ich einstecken muss. Die Liste liegt da, aber mein Leben wäre anderswo. Vielleicht draussen, vielleicht in Luang Prabang. Ich bin ein Boxer der Nacht. Aber das Buch von Thích Nhất Hạnh liegt auch noch da. Ich brauche es nur zu öffnen. «Wir ignorieren die Wunder des gegenwärtigen Augenblicks in dem Glauben, der Himmel und das letztendliche seien erst einmal in der Zukunft erreichbar und nicht jetzt. Meditation zu praktizieren bedeutet, Zeit zu haben, tief zu schauen und diese Zusammenhänge zu sehen.» Das Wunder des gegenwärtigen Augenblicks. Das sind nur Wörter. Ich kann sie verstehen, aber sie bleiben mir fremd. Ich sperre mich. Vielleicht wirkt der Film nach, den wir angeschaut haben. Er zeigte Stefan Zweigs letzte Lebensjahre, sein Ende in Brasilien. Zweig war einer der international erfolgreichsten Schriftsteller überhaupt. Die Nazis verboten seine Bücher. Da, wo seine Sprache gesprochen wurde, brachte man ihn zum Verstummen. Zweig scheiterte an der Fremde, verzweifelte am Krieg, der einen Ozean entfernt von ihm tobte. Seine junge Frau, Charlotte Zweig, hustete Nacht für Nacht. Er ärgerte sich über den Verriss seines Buches, das Brasilien als wahrgewordene Utopie des Zusammenlebens verschiedenster Menschen lobte. Zweig war gescheitert im Versuch, ein neues Land zu lieben. Die Hunde in der Nacht. Seine Frau hustet. Die Hunde bellen zurück. Er setzt sich hin und schreibt einen pathetischen Abschiedsbrief. Dann nehmen sie sich beide das Leben. Als ich durch die Nacht in die Stadt fahre, hallt der Film über Stefan Zweig nach. Der Film und die Verstörung nach dem Schluss. Der Film und die Frage des Hoffens. Ich sehe die Lichter der Stadt, die in der Dunkelheit schwimmen und fühle mich allein. Ich weiss, dass es andere Stimmungen gibt, bessere, aber jetzt ist es mir nicht danach zu Mute. Vielleicht hat alles Zögern einen Grund Auf dem Schreibtisch liegt das Buch dieses Mönchs mit der geduldigen Stimme immer noch. Ich scanne die erste Seite aus Ruth Klügers «Weiterleben» ein. «Der Tod, nicht Sex war das Geheimnis, worüber die Erwachsenen tuschelten, wovon man gern mehr gehört hätte.» So beginnt ihr Roman über das Aufwachsen als jüdisches Mädchen in Wien. Er handelt von Diskriminierung, von Ghettos, von den Lagern. Ruth Klüger schildert ein Überleben, das aller Wahrscheinlichkeit widersprach. Sie beschreibt das Weiterleben nach dem Krieg – mit dem Gefühl der Schuld und einer nie verstummenden Wachsamkeit gegenüber allem Vergessen, Verbiegen und Umdeuten des Grauens. Und daneben liegt das Buch des Mönchs, Thích Nhất Hạnh. Ich will es nicht weglegen. Es stimmt, die studentische Jugend, die Schüler von heute, gerade die Begabtesten prokrastinieren. Verplempern ihre Zeit. Glauben nicht an Erfolg. Ich auch, ich bin nicht anders. Vielleicht ist ein Grund unter vielen: Der Strich, den wir unter die Geschichte dieser Welt ziehen, mündet in eine Negativbilanz. Hinter uns liegt ein Jahrhundert der Weltkriege, der Ideologien, des unvorstellbaren Hasses. Im Spiegel der Gegenwart sehen wir uns als Teil einer Gesellschaft, die alle Ressourcen, das Erbe einer langen Vergangenheit, in einem einzigen Moment restlos aufbraucht und verschleudert. So schildert es mir ein anderer junger Mann. Lukas. Er schreibt gegen den Unsinn der Welt, die Perspektive, in eine Gesellschaft einzutreten, in der man bei lebendigem Leibe stirbt, weil das Leben der Erwachsenen kein Leben ist. Vielleicht hat alles Zögern, alles Aufschieben einen tieferen Grund. Aber der Mönch im orangen Gewand schreibt. «Einmal sass ich im frühen Licht der Dämmerung in die Betrachtung eines Berges versunken da. Mir war bewusst, dass ich nicht allein diesen Berg betrachtete, sondern alle meine Vorfahren in mir präsent waren und ebenfalls diesen Anblick genossen. Als der Morgen über dem Gipfel dämmerte, bewunderten wir zusammen diese Schönheit. Es gab sonst keine Ziele, es war nichts weiter zu tun. Wir waren frei. Wir brauchten nur dort zu sitzen und dem Sonnenaufgang zuzuschauen. Unsere Vorfahren hatten vielleicht nie Gelegenheit, still und friedlich irgendwo zu sitzen und nur den Sonnenaufgang zu bestaunen. Wenn wir aufhören zu rennen, können alle unsere Vorfahren mit uns innehalten.» Ich erinnere mich: Im Hotpot, in der Nacht zwischen den Jahren sassen wir. Die Arme schwebten, aber nicht ganz, nicht bei jedem gleich. Das Wasser ist warm, Verena zündete das Licht im Kürbis an. Wir erzählten uns von unseren Vorfahren: Käser, die aus dem Emmental nach Russland auswanderten, zurückkamen und sich ein Haus leisten konnten. Andere wanderten nach Argentinien aus. Mein Grossvater, der auf dem Mofa über den San Bernardino reiste, nach Bergamo, wo er aufgewachsen ist und von wo aus er in die Schweiz zurückgereist ist. Ich stelle mir manchmal vor, dass unsere Vorfahren in unseren Zellen weiterleben. Das Wuseln der Spermien auf dem Weg zum Ei. Eines schafft es. Das Mühen, das Rackern und ihre Wünsche, denen sie folgten. In der Wärme der Freundschaft geht mir das Bild auf, vielleicht nur für Momente, aber doch: Die Einsicht in ein Leben, das sich in einer Landschaft abspielt. Die Geschichte meines Lebens, in die sich die Lebensgeschichten von anderen Menschen weben. Für einen Moment sehe ich: Ich bin nicht allein. Ich bin Teil eines verwobenen Ganzen. Die Geschichte meines Lebens: Ich muss sie gar nicht immer präsent haben. Es genügt, darum zu wissen, dass eine Generation auf die nächste folgt. Zu wissen, dass es da eine grosse Landschaft gibt, in der wir uns bewegen. Dieses Wissen – ist es nur eine flüchtige Einsicht, die wieder verschwindet? Eine Zuversicht, die trägt? Etwas wie ein Glaube? Ich bin in einem Alter angekommen, in dem ich zwischen den Generationen zuhause bin. Noch lebt mein Vater, aber er und die Generation, auf die ich folge, ist im letzten Lebensalter, viele sind schon wieder in das grosse Nichts getreten. Himmelsleicht geworden. Meine Kinder sind erwachsen. Sie müssen anpacken, rackern, Wege finden. Als Lehrer unterrichte ich eine Generation an der Schwelle zum Erwachsensein. Ich frage mich: Was habe ich bekommen? Was gebe ich weiter? Theas Bild vom Brunnen wirkt nach. Das Wasser ergiesst sich von Schale zu Schale. Ich sitze im Wasser. Was bekomme ich? Was gebe ich weiter? Ich sehe einen Strom, der meine To-do-Liste mit sich nimmt. Ein Stück Papier, vielleicht mutwillig zu einem Schiffchen gefaltet. Ich spüre meinen Atem. Gar nicht so übel. Die Dinge kommen in Bewegung. Ich spüre es und schaue wieder ins Buch. «Wenn es eine spirituelle Krise gibt, dann die, dass wir Gott nicht an die richtige Stelle setzen, nämlich in uns und in die uns umgebende Welt.» Der Mönch wird unbequem in seinem orangen Gewand, das mich an den Mekong denken lässt, der unter Luang Prabang langsam fliesst. Wer wüsste, seit Nietzsche, nicht, dass Gott tot ist? Umgebracht von uns Menschen? Entlarvt als Gespinst der Religionen, die unsere Vorfahren mit dem Versprechen des Himmels gefügig auf Erden machten? Opium fürs Volk. Bestenfalls. «Fake God». Gott also. Ich übe am Kontrabass. Bach, BWV3: «Erhalt mein Herz im Glauben rein, so leb und sterb ich dir allein». Es gibt diese Intimität mit Gott in den alten Kirchenliedern, die ein Hoffen darauf ist, von einer umfassenden Kraft getragen zu sein. «Die Welle muss nicht ans Meer glauben, in dem sie aufgeht», so etwa steht es beim Mönch im orangen Gewand. Vielleicht ist eine Zuversicht möglich, dass gerade jetzt das Leben stattfindet. Ich werde immer Mühe haben mit Wörtern, die zu viel Klang haben. So leicht geht mir Achtsamkeit nicht über die Lippen, nicht jetzt, da ich brüchig bin. Aber es könnte sein. Die Möglichkeit besteht. Ich muss nicht rennen. Ich muss der Zeit nichts zurückzahlen. Die Geschichte der Welt will nichts von mir. Es gibt ein Jetzt. Und so meint es ja auch der Mönch: «Anhalten und innehalten mag schwer klingen, doch tatsächlich muss es trainiert werden.» Also gut. Ich trainiere. Die Nacht ist zu schön. |