Ernst - Magazin fuer Gesellschaft, Sinn und Gender
  • Home
  • Newsletter
  • Archiv
  • Herausgeber
    • Über uns
    • Kontakt und Impressum
  • Home
  • Newsletter
  • Archiv
  • Herausgeber
    • Über uns
    • Kontakt und Impressum
Search by typing & pressing enter

YOUR CART

«Für alle gleich
ist noch nicht
​für alle gleichberechtigt»

Matthias Becker ist Deutschlands einziger kommunaler Männerbeauftragter.  Wie es dazu kam, wo Fallen lauern und was er eigentlich macht – ein Gespräch. »
Text und Bild: Frank Keil

Bild
Hier stand schon das niederländische Königspaar. Schaute wie wir aus dem Fenster. Und sah auf einen Marktplatz, gepflastert und in der Fläche also buckelig, heute bis auf ein paar Stände für Käse und Gemüse am Rande eher leer. «Dort ist sonst der berühmte Nürnberger Christkindl-Markt aufgebaut», sagt Matthias Becker. Wegen dem die Touristen kommen, weltweit, vor Weihnachten und drumherum. Dann geht er weiter, den langen Gang herunter, schliesst eines der Sitzungszimmer auf: ein langer Tisch, viele Stühle, Bürgermeisterporträts an den Wänden. Je länger es her ist, dass der Abgebildete die Stadt regierte, desto ernster schaut er. So gesehen glimmt ein zarter Funken der Hoffnung. «Na», sagt Matthias Becker: «Dann fragen Sie mal.»
Matthias Becker ist Deutschlands einziger «Männerbeauftragter». Jedenfalls ist das die Formel, auf die sich viele Medien geeinigt haben, die immer wieder gerne und oft mit einem Anflug von leichter Skepsis über ihn berichten. Braucht es einen Männerbeauftragten? Und wenn ja – warum? Und wozu? «Mit seinem grauen Haarzopf, einem Ohrring und der leicht fülligen Figur sieht er zwar eher gemütlich aus. Aber er diskutiert leidenschaftlich gern» – so wurde er in einem Feature des Deutschlandfunks beschrieben.
Formal – und wir sind hier im Amt, im Nürnberger Rathaus, am Fünferplatz gelegen, mit Pförtner und Büste im Foyer, ist Matthias Beckers Titel: «Ansprechpartner für Männer»; sein Arbeitsplatz ist im Büro der städtischen Gleichstellungsbeauftragten, die in Nürnberg noch explizit die Bezeichnung «Frauenbeauftragte» trägt. Die Arbeitszeit beträgt 19,5 Wochenstunden. Er hat also eine halbe Stelle. Mittlerweile unbefristet.
Es passiere seltener, aber es komme noch vor, dass ihm Kollegen sagten, er sehe aber gut aus oder gar: «Sie leben ja noch». «Weil, sie gehen davon aus, dass wenn ich da drüben mit den Kolleginnen, also den Frauenbeauftragten, in einem Raum sitze, wir uns täglich fetzen», sagt er.
Aber dem ist nicht so. Ganz und gar nicht.
«Wir haben teilweise unterschiedliche Meinungen, aber der Ansatz, Gleichstellung zu erreichen, ist der gemeinsame – und so kommen wir sehr gut miteinander aus», sagt Becker. Und: «Um die Gleichstellung zu erreichen, muss ich beide Geschlechter im Blick haben.» Und nicht einfach gespiegelt, sondern mit den entsprechenden Themen und Bedarfslagen.
Er sagt: «Genau deswegen arbeite ich hier: um Rollenzuweisungen aufzulösen.» «Es gibt eine Reihe von Firmen und Unternehmen, auch Universitäten, die Gleichstellungsbeauftragte haben, darunter sind auch Männer; aber ich bin, soweit ich weiss, der einzige kommunale Männerbeauftragte in Deutschland, also: von einer Kommune angestellt», erzählt er weiter. Sein Zuständigkeitsbereich: unmittelbar die Hälfte der 11 000 kommunalen Angestellten der Stadt Nürnberg, ob bei der Stadtreinigung, im Jugendamt oder beim Finanzamt. Und dann mittelbar die Hälfte der rund 530 000 Bewohner der Stadt Nürnberg. Plus diejenigen, die zwar ausserhalb wohnen, im Landkreis, aber eben in Nürnberg arbeiten und überhaupt ständig in der Stadt sind. «Die Grenzen der Zuständigkeit sind da etwas fliessend», sagt Becker.
Anfangs war seine Stelle eher eine Idee. Ein Plan, eine Überlegung, dass das Projekt Gleichstellung oder Gleichberechtigung nur dann gelingen kann, wenn man auch die Männer dafür ins Boot holt. Und da fragte man ihn, der seit Jahr und Tag etwa Jungenarbeit macht, in der Väterarbeit aktiv war, der unterrichtet, der sich auskennt unter denen, die nicht nur in Bayern Angebote für Männer planen, erproben, durchführen.
Eine Bedingung allerdings hatte er: dass die einzurichtende Stelle zu evaluieren wäre. Damit nach Ablauf der gesetzten Zeit auch wirklich belegt werden kann, dass so eine Stelle einem Bedarf entspricht, dass es also hilfesuchende Männer gibt und dass die auch kommen – nicht gefühlt, nicht irgendwie gedanklich abgeleitet, sondern anhand von Zahlen und Fakten nachzuweisen.
Im Mai 2016 ging es los; im Herbst 2017 wurde im Stadtrat noch mal gesprochen und verhandelt. «Viele waren überrascht, dass die Männer gekommen sind und dass es so viele waren», sagt Becker.
Es gab Widerstände und Ängste von Seiten, von denen man es erst mal nicht erwartet hätte Der erste Antrag wurde von der Opposition gestellt, also von der Ausschussgemeinschaft und der CSU. Bedenken gab es aber auch, weil es da eine Angst gab: Wer etwas für Männer tut, der zieht damit Mittel von den Frauen ab.
«Ich kann diese Befürchtung verstehen», sagt Becker. Aber er teilt sie nicht. Er sagt: «Es geht nicht darum, den Frauen etwas wegzunehmen, sondern um die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen.» Und dann gibt es da noch eine Angst, eine Befürchtung, einen Verdacht, eine Mutmassung: «Wer oft laut schreit, wenn es um Männer geht, das sind die Männerrechtler, die besonders im Internet und in verschieden Blogs und Foren agieren, und dass das Bedenken speist, kann ich nachvollziehen», sagt er. Er sagt: «Die Form, mit der Männerthemen von den Männerrechtlern angesprochen werden, ist meist nicht erträglich und unangemessen und oft wurde verbrannte Erde hinterlassen. Aber einige Anliegen, die dort benannt werden, sind durchaus richtig und wichtig. Ich grenze mich aber von der Art und Weise ganz klar ab – anders geht es nicht.» Und man müsse sich auskennen, im Thema firm sein. Dürfe sich nicht aufs Glatteis locken lassen. Bei dem Thema Gleichstellung und Männer oder Diskriminierung von Männern würde immer wieder polarisiert und gewitzelt. Er werde da immer wieder auch von der Presse getestet.
Matthias Becker holt tief Luft: «Ich bekomme dann Presseanfragen, soll mich am 8. März, dem Weltfrauentag, zu Männerthemen äussern, was ich nicht tue», sagt er. Aber man könne ihn gerne und jederzeit am 7. oder 9. März oder wann auch immer dazu befragen. Er sagt: «Ich werde immer wieder gefragt: Werden Männer diskriminiert?» Und antwortet: «Ja – zumindest in den Auswirkungen. Denn es gibt Strukturen, deren Auswirkungen Männer benachteiligen. Und da muss ich auch politisch agieren, so verstehe ich meinen Auftrag.» Er hat ein Beispiel parat, wo man nicht genügend genug hinschaut, wo man zuweilen zu schnell ist: die Verkündung der Kriminalitätsstatistik jeweils im November. Also insbesondere die Zahlen über angezeigte häusliche Gewalt. «Hatten wir ja jüngst: 81 Prozent der Opfer sind Frauen, 19 Prozent sind Männer. Ja, die Zahlen stimmen. Und das war dann zu Recht eine Woche lang Thema in den Nachrichten, und Forderungen, die Frauen besser zu unterstützen, kann ich sofort unterschreiben», sagt er. Er setzt eine kurze Pause. «Aber was man übersieht: Ein Fünftel der Betroffenen sind Männer.» Habe man dazu etwas gehört?
«Es geht wohlgemerkt nicht um 1,9 Prozent, es geht um 19 Prozent, das ist eine Grösse, die man nicht ausser Acht lassen sollte, und da hebe ich meinen Finger», sagt er und hebt seinen rechten Zeigefinger. Er sagt: «Es geht auch jetzt nicht darum, dass wir bei den Frauen Geld wegnehmen sollten. Sondern wir brauchen zusätzliche Angebote für betroffene Männer – etwa Männerschutzwohnungen.»
Er kann noch ein Beispiel nennen, ein vielleicht weniger emotionsgeladenes, weniger dramatisch, ein alltäglicheres sozusagen, dafür aus seinem eigenen Haus. Denn kraft seines Amtes kann er wie auch seine Kolleginnen bei Auswahlverfahren behördenintern hinzugezogen werden beziehungsweise sich einbringen: «Wir hatten immer wieder das Phänomen, dass junge Männer Stellen nicht bekommen haben obwohl sie im Assessment Center mindestens genauso gut abgeschnitten hatten wie die Bewerberinnen.»
Es stellte sich bei einem näheren Blick heraus, dass die Noten des Schulabschlusszeugnisses den entscheidenden Ausschlag gaben: «Es ist aber seit langem bekannt, dass Jungen die Schulen mit durchschnittlich um eine Notenstufe schlechteren Noten verlassen, besonders im Alter von 16–17 Jahren», sagt er. Die Stadt hat jetzt beschlossen in manchen Bereichen die Auswahlverfahren mit einem Einstellungstest zu machen, der die Qualifikationen und Motivation von Bewerbern und Bewerberinnen vergleichbarer und gleichberechtigter abfragt und den Zeugnisnoten weniger Bedeutung gibt. Und Becker sagt: «Man kann doch nicht warten, bis die Schule ihr Bewertungssystem überdenkt und ändert; in der Zeit kegele ich die jungen Männer doch alle raus, obwohl sie motiviert und qualifiziert sind. Er sagt: «Für alle gleich, ist noch nicht für alle gleichberechtigt.»
Und von daher hat er noch viel vor – er ist gerade dabei ein dreijähriges Präventionsprojekt zu Jungen- und Männergesundheit zu koordinieren. Für Männer aller Altersstufen, aller Lebensphasen. Jungen, Heranwachsende, Väter, auch die Senioren.
Klar: Männer – eine Hochrisikogruppe, gerade wenn es um Gesundheit geht. Und er ahmt nun kurz nach, wie oft im Allgemeinen über Männer und Gesundheit gesprochen wird: «Na ja, die gehen nicht zur Prostata-Untersuchung, die ernähren sich durchweg ungesund, die trinken zu viel, aber das ist ihre Entscheidung, sie haben letztlich selbst schuld.»
Und nun?
«Über die moralische Schiene erreiche ich die Männer nicht», sagt Becker, zum einen. Zum anderen werde kaum darauf geschaut, wie denn nun Männer ticken.
Er kann das mal kurz herunterbrechen, beispielhaft: «Wir bieten einen Gesundheitskurs an, der ist im Nu ausgebucht – mit Frauen.» Weil sich Männer später anmelden würden. «Die Frauen melden sich innerhalb der ersten zwei Tage an, das ist so, warum auch immer; die Männer kommen nach zwei Wochen und landen dann auf der Warteliste, was nebenbei nicht sehr motivierend ist», sagt Becker. Und nun? Er hat sich beim nächsten Mal eine paritätische Anmeldungsliste überlegt – und der Männeranteil füllte sich am Ende fix auf. Und es komme zu dem an, wie man etwas verpacke, etwas verkauft. «Der Pilatus-Kurs ist für Männer vielleicht nicht so der Brüller», sagt er. «Statt ‹Yoga-Kurs für Männer› nenne ich es doch ‹Kraftyoga›, da macht man auch nicht anderes.» Und er lacht und sagt: «Durch den Rücken in die Brust, Hauptsache, ich erreiche die Männer.» Er kann sich auch vorstellen, so etwas wie eine «Werkstatt für Männergesundheit» einzurichten: «Einmal im Monat können sich die Männer wie zur Inspektion abgeben, es gibt eine Art Scheckheft, was wann ansteht.» Becker sagt: «Ich hole die Männer erst mal da ab, wo sie sind.» Was sie dann daraus machen, man wird es sehen. Grundlage seiner kommenden Aktivität ist das bundesdeutsche Präventionsgesetz, das seit 2016 gilt und dass die Krankenkassen seitdem verpflichtet Prävention zu fördern und auch zu bezahlen. Entweder indem diese eigene Massnahmen durchführen oder indem sie externe bzw. regionale Projekte fördern. Matthias Becker hat das Gesundheitsamt der Stadt Nürnberg an seiner Seite und die Techniker Krankenkasse. Und er ist dabei ein Netzwerk zu spannen, um die unterschiedlichen Männergruppen anzusprechen. Zuletzt hat er etwa einen Kardiologen gewinnen können, der psychosomatische Kardiologie anbietet. Derzeitiges Problem: Seine Leistungen müssen privat bezahlt werden. «Ich schalle, ich röntge, ich setze den Katheter – das ist die klassische Kardiologie, die bezahlt wird. Aber was mache ich mit dem Ergebnis, was passiert dann?» Und noch etwas ist ihm wichtig: früh anzufangen. Mit den Jungen.
«Die Mädchen sind über den Besuch bei der Frauenärztin an das Gesundheitssystem eher kontinuierlich angedockt, bei den Jungen bricht das nach den U-Heft-Untersuchungen beim Kinderarzt ab, und die  J1- und J2-Untersuchungen, die für die 12–13-Jährigen und die 14–15-Jährigen angeboten werden, werden kaum genutzt», sagt er.
Wir könnten noch weiterreden, und wir reden noch weiter und kommen von einem zum anderen: warum unter gleich ausgebildeten Paaren die höchste Scheidungsrate zu verzeichnen ist, warum im Gegenzug sozial überwiegend ungleich geheiratet wird (die Frauen nach oben, die Männer nach unten, sehr selten umgekehrt) und wie es zu dem Stadtratsbeschluss kam, das Führungspositionen grundsätzlich auch in Teilzeit-Stellen möglich sind und von nun an in jeder Stellenausschreibung darauf hingewiesen wird; dass also ein Stadtgebilde wie Nürnberg auf dem umkämpften Fachkräftemarkt nicht mit Geld, sehr gut aber mit flexiblen Arbeitszeitmodellen punkten kann – bei Frauen und bei Männern, wenn man sie nur mitnehmen will. So. Er muss jetzt. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Brief von einem Mann; ein Mann, der nicht mehr weiter weiss, nach der Trennung, neben Problemen auf der Arbeit und wie soll er jetzt eine Wohnung finden, in seinem Zustand, alles gehe drüber und drunter, offenbar seit längerem, aber nun spitze sich alles zu, kein Ausweg in Sicht.
Matthias Becker wird sich darum kümmern. Im Rahmen seiner Möglichkeiten. Also erst mal wird er dem Mann antworten. Und er sagt im Aufstehen, während er den Stuhl zurückschiebt, zurück an seinen Platz, im leicht schwermütigen, historischen Bürgermeisterbilderzimmer: «Sie ahnen nicht, wie oft mir Männer sagen: ‹Sie sind der Erste, der mir erst mal zugehört und der mir nicht gleich wieder Vorwürfe gemacht hat›.»


 ernst.ruht@ernstmagazin.com