«Ritalin ist eine humane ARt, Prokrastination
in den Griff zu kriegen.»
Selbstdisziplin kann problematisch sein, sagt die Sachbuchautorin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig. »
Interview: Adrian Soller
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ERNST: Ist Prokrastination eine klinische Krankheit – oder doch etwa die letzte wahre Heldentat?
Kathrin Passig: Weder noch. Grundsätzlich macht es für mich keinen Sinn, etwas als krank zu bezeichnen, was für grosse Teile der Bevölkerung den Normalzustand darstellt. Die meisten Menschen schieben auf. Vor dem Pathologisieren des Aufschiebens würd’ ich mich also hüten. Eine Heldentat aber ist es jetzt auch nicht unbedingt, wohl nicht mal eine Auflehnung gegen das zwinglianische Arbeitsethos. Denn das würde ja bedingen, dass man das Aufschieben absichtlich macht. Und das scheint mir bei den Meisten jetzt auch nicht so der Fall zu sein. Viele können nur sehr schwer anders. Sie haben kaum eine andere Wahl als eben aufzuschieben. Also liegt das Aufschieben einfach nur in der Natur des Menschen? Hm, ich weiss jetzt nicht, ob es in der Natur der Menschen liegt. Aber es liegt wahrscheinlich in der Natur sehr vieler Menschen, ja, das schon. Und dabei gibt es übrigens keine soziodemografischen Unterschiede. Ob Geschlecht, Herkunft, Alter oder soziale Schicht: Die Prokrastination kommt bei allen Gesellschaftsgruppen in etwa gleich oft vor. Insbesondere eben kommt sie aber dann vor, wenn einem Dinge unangenehm sind, oder wenigstens nur mässig angenehm. Und das glaube ich schon, ja: Es liegt wohl tatsächlich in der Natur des Menschen, dass er unangenehme Dinge nicht tun will, dass er sie umgehen will. Um Unangenehmes erledigt zu kriegen, braucht es wohl eine gewisse Portion an: Selbstdisziplin. Was halten Sie demnach von den vielen Ratgebern, die besseres Selbstmanagement und eben auch mehr Selbstdisziplin versprechen? Als ich damals, vor rund zehn Jahren, an einem Buch zu ebendiesem Thema schrieb, habe ich eine mittelgrosse Menge dieser Ermahnungsbücher gelesen. Und auch lesen lassen, weil mir nach den ersten Büchern schon die Lust daran vergangen ist. Es kommt mir wenig hilfreich vor, Leuten, die Probleme mit dem Zusammenreissen haben, zu sagen, dass sie sich einfach mehr zusammenreissen sollen. Ich mag darum das Buch «magic cleaning» von Marie Kondo. Fast das einzige Buch, das ich gelesen habe, das ohne diese hartherzigen Ermahnungen auskommt. Wie soll man das Problem denn angehen, wenn nicht mit Selbstermahnung? Nun, man müsste vor allem seine eigene Prokrastination etwas wohlwollend betrachten lernen, nicht immer ist sie ein Problem. Bei Kondo gefällt mir genau das. Sie pathologisiert nicht. Und Selbstdisziplin eben ist ein zweischneidiges Schwert. Man kann dank ihr zwar problemlos seine Steuererklärung pünktlich ausfüllen, aber eben auch ein Studium durchziehen, das einem eigentlich gar nicht gefällt. Und dann steht man am Ende eben da – und muss wirklich Rechtsanwalt werden. Das kann einem Prokrastinierenden schon mal nicht passieren. Selbstdisziplin kann also die Negation der eigenen Bedürfnisse bedeuten. Auch habe ich – und das muss ich einfach sagen – immer wieder von Menschen gehört, denen Ritalin in einer ganz verfahrenen Aufschiebe-Situation geholfen hat. Und da gibt es halt nicht viele Sachen, die einem in dreissig Minuten wesentlich helfen. Viele Tipps, wie man sein Leben umbauen könnte, um weniger zu prokrastinieren, sind halt nicht wahnsinnig nützlich. Denn die Betroffenen brauchen schlicht eine schnellere Lösung als zehn Jahre harte Arbeit. Ich finde diesen unzwinglianischen Aspekt der Ritalinpille noch sympathisch. Statt Betroffenen zu sagen, «du musst ein anderer Mensch werden, deinen Charakter umbauen», sagt man ihnen einfach: «Schluck’ die Pille. Und du bist ein organsierterer Mensch, für vier Stunden wenigstens, danach kannst du wieder Du selbst sein.» Vier Stunden reicht ja, um das Wichtigste zu erledigen. Ich finde: Ritalin ist, wo es nützt, ein humaner Ansatz, Prokrastination in den Griff zu kriegen. Denn nicht jeder muss seinen Charakter umbauen. Nicht jeder muss ein gewissenhafter Sachbearbeiter werden. Handelt es sich um kleinere Alltagsprokrastinationen, oder will man Ritalin jetzt grundsätzlich nicht einnehmen, gibt es also vor allem die Möglichkeit, seine Einstellung zur eigenen Prokrastination zu ändern. Müssen wir einfach nur unser schlechtes Gewissen ausschalten – und schon ist alles gut? Ich glaube schon, dass das wichtig wäre, das schlechte Gewissen auch mal beiseite zu legen, ja. Denn zum einem trägt der oder die Prokrastinierende nicht alleine die Schuld daran. Die Gesellschaft ist teilweise einfach auch schlecht eingerichtet, verleitet uns geradezu zum Prokrastinieren. Und zum anderen ist das schlechte Gewissen schlicht ein grosses Energieproblem. Ist man den ganzen Tag nur damit beschäftigt, sich Selbstvorwürfe zu machen, ist niemandem geholfen. Und man kriegt dann wirklich nichts geregelt. Wenn man gleich wieder zurück ins Bett vor lauter Unglück muss, kann die Prokrastination wirklich zum Problem werden. Man sollte also auch versuchen, den Leidensdruck zu minimieren, statt die Selbstdisziplin zu erhöhen. Da muss ich jetzt wohl fast dagegenhalten, dass die Pro kra stination ja schon asoziale Züge haben kann. Das Nichteinhalten einer Deadline ist oft einfach die Verlagerung des eignen Stresses auf den Nächsten in der Kette. Das weiss ich gerade auch aus meiner Arbeit als Redaktor… Ein befreundeter Autor hat mir mal gesagt, dass er der Meinung sei, dass Redakteure das ja eigentlich so wollen. Sie wollen, dass man die Texte zu spät einreicht, dann erst fühlten sie sich gebraucht. Aber klar, ja: Es ist schon so, dass Prokrastinierende anderen gelegentlich auch Probleme verursachen. Das will ich ja gar nicht bestreiten. Ein Anflug von schlechtem Gewissen kann da schon mal gut sein, solange es nicht in Selbsthass mündet. Aber wie schon gesagt: Die Welt ist da wirklich auch einfach schlecht eingerichtet. So könnte man beispielsweise auch als Wartender den Ablauf der Dinge besser gestalten. Man sollte bei Abgabeterminen immer einen Puffer einrechnen. Und auch ganz technische Dinge könnte man besser gestalten: Wer beispielsweise auf eine Rückantwort per Brief wartet, sollte in jedem Fall ein frankiertes Rückantwortcouvert beilegen. Oder in Mails sollte man die Menge der Informationen immer gut dosieren, nicht zu kurze, nicht zu lange Mails schreiben. Denn man sollte die wichtigen Infos als Empfänger nicht selbst zusammensuchen müssen und auch nicht mit Hinweisen überflutet werden. Oft scheitern die Dinge genau an solchen kleinen Sachen, am Profanen. Und was wohl immer noch gilt, ist die Theorie des universellen Designs der Nullerjahre, die besagt: Wer etwas für eine Gruppe vereinfacht, vereinfacht es auch für die ganze Gesellschaft. Macht man beispielsweise Gehwege rollstuhlgängig, nützt das nicht nur den Rollstuhlfahrenden, sondern eben allen, den Eltern mit Kinderwagen beispielsweise oder der Rentnerin mit dem Rollator oder den Leuten mit dem Einkaufswagen. Kurzum: Wenn wir den Alltag so gestalten, dass Prokrastinierende ein einfacheres Leben haben, profitieren wir wohl alle davon. Wenn wir für die Schlecht-Organisierten mehr mitdenken würden, würde das Leben auch für die Gut-Organisierten etwas einfacher werden. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang eigentlich die Digitalisierung? Sie ist: grossartig. In den vergangenen fünf bis zehn Jahren hat sie unser Leben grundsätzlich erleichtert. Ich erhalte jetzt alle Rechnungen digital, muss nie mehr nach Rechnungen suchen. Das macht jetzt eine Maschine via Volltextsuche für mich. Einfach schön. Oder auch ganz toll: Fahrtkostenabrechnungen. Seit die Tickets digital sind, verlier’ ich sie nicht mehr. Und ich hab’ mein Bankkonto erstmals im Griff, da jede Buchung auf meinem Handy mitgeteilt wird. Immer schon habe ich mir vorgenommen, ein finanziell gutorganisierter Mensch zu werden. Und das gelingt mir eben dank der Digitalisierung immer mehr. Bedeutet Digitalisierung aber nicht auch vor allem: informationelle Überforderung? Ständig kriegen wir von der Bank, von der Post, vom Nachrichtendienst, von jeder App irgendwelche Meldungen aufs Handy. Das liest doch längst keiner mehr. Ja, mag sein, aber das war vor fünf oder zehn Jahren auch schon so. Und damals hatte man noch zusätzlich das Problem mit den hohen Papierstapeln. Jetzt haben wir nur noch die Digitalisierungsprobleme. Die Selbstorganisation ist – zumindest in den vergangenen paar Jahren – einfacher geworden. Und was zuvor geschah, kann man teilweise schon auch zu Recht kritisieren. Ich stelle mich allerdings auch da eher auf den Standpunkt, dass wir höchstens an unseren eigenen Möglichkeiten leiden. Die Digitalisierung bringt uns Möglichkeiten. Und das ist ja grundsätzlich gut. Auch wenn wir manchmal sehr stark herausgefordert werden, aus allen diesen Möglichkeiten das Passende herauszusuchen. Kann uns die Digitalisierung vor Arbeit befreien, die wir nicht gerne machen, so dass wir uns künftig nur noch dem widmen können, was uns intrinsisch motiviert? Ja, das könnte sein, dahingehend liegt schon ein Potential in der Digitalisierung. Wobei das mit der intrinsischen Motivation so eine Sache ist. Ich bin nämlich zu ganz vielen Dingen intrinsisch motiviert, die ich dann doch nie mache, oder erst zehn Jahre später. Oft lese ich gerade die interessantesten Bücher nicht zu Ende. Und das wahrscheinlich, weil sie mehr von mir verlangen, ich muss sie langsamer lesen, muss mich intensiver mit dem Inhalt beschäftigen, mehr Denkarbeit leisten. Ich denke, man ist oft gerade bei Dingen intrinsisch motiviert, die komplex sind. Und man möchte sich wohl nicht nur komplexer Sachen annehmen. Manchmal bedeutet langweilige Arbeit auch einfach Entspannung. Darüber hinaus glaube ich, dass es so etwas wie eine «Konkurrenz der schönen Pläne» gibt. Es gibt jedenfalls immer zehn verschiedene Dinge, die ich wirklich machen will. Und diese Dinge blockieren sich eben halt manchmal auch gegenseitig. Prokrastination als Luxusproblem also? Nun ja, ich verwende in diesem Zusammenhang eher den Begriff der «Sprungbrett-Prokrastination», den ich mal irgendwo gelesen habe. Wenn man etwas auf seiner ToDo-Liste hat, das man so gar nicht angehen will, arbeitet man die anderen Punkte dafür eher ab. Ein Hang zur Prokrastination hilft dann sogar beim Abarbeiten der Dinge. Richtet man es sich geschickt ein, ist irgendwann alles erledigt. Denn oft liegt etwas nicht im Wesen des Projekts, dass man es nicht machen will. Es ist vielmehr einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Ausser natürlich, es handelt sich um wirklich schreckliche Dinge wie: Steuererklärungen ausfüllen! Das sollte man dann einfach Outsourcen. Es soll ja Leute geben, die das gerne tun. Nach dem Philosophen John Perry sollte man jedenfalls immer Dinge auf die To-Do-Liste setzen, die dringlich und wichtig wirken, aber nicht so dringlich und so wichtig sind. Vielleicht leiden vor allem gerade auch Perfektionisten an Prokrastination. Sollten wir die Dinge besser halbherzig erledigen? Vielleicht sollten wir sie nicht halbherzig machen, aber hin und wieder: halbfertig. Ich bin sehr für die Halbfertigkeit. Ich finde, wir sollten mehr Mut haben, mit halbfertigen Dingen an die Öffentlichkeit zu gehen. Da mag ich Twitter sehr gern: Man veröffentlicht unfertige Denkprozesse, Zwischenstände des Nachdenkens sozusagen. Und das kann letztlich eine gesellschaftliche Diskussion und den eigenen Denkprozess vorantreiben. Man setzt sich so natürlich der Kritik aus, macht sich verletzlich. Das braucht Mut. Das kann man aber auch üben, denke ich. Ich finde zudem auch, wir müssen schneller erkennen lernen, wann etwas gescheitert ist. Manchmal ist es gut, mit etwas aufzuhören. Nicht jedes Projekt muss um jeden Preis fertiggestellt werden. Ihr Ratgeberbuch «Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdiziplin» ist vor zehn Jahren schon erschienen. Was würden Sie heute anders schreiben? Als ich das Buch geschrieben habe, war ich 37 Jahre alt. Damals dachte ich, ich kenn’ mich jetzt, ich weiss, was für ein Mensch ich bin, da ändert sich nicht mehr viel. Dann habe ich aber irgendwann gemerkt, dass eine Persönlichkeit vor allem eine Summe kleiner Gewohnheiten ist, Angewohnheiten eben, die man sehr wohl verändern kann, mit Geduld zwar, aber man kann sie verändern. Meine Messy-Probleme sind beispielsweise heute viel geringer als früher, weil ich eine ganze Kette kleiner Angewohnheiten leicht verändert habe. Man muss also nicht einfach das Leben um seine Angewohnheiten herumbauen, man kann schon was verändern. Auch wenn Charakterzüge sehr stabil sind, muss ich eingestehen: So festgefügt ist das alles dann doch nicht. Wir verändern uns ein Leben lang. |