Der Panzer auf dem Teppich
Text: Sonja Winterberg
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Die Männer in meiner Familie waren immer schon harte Hunde. Unter ihnen ein Trucker, ein Kapitän zur See und Ernst und Otto, zwei Ingenieure, denen ihre Schreibtischjobs in Europa zu langweilig waren. Beide waren Ende des Zweiten Weltkriegs geboren und wollten mehr vom Leben. Ernst verbrachte mehrere Jahrzehnte im südlichen Afrika, bevor er sich mit seiner englischen Frau schliesslich auf der britischen Insel zur Ruhe setzte. Als Kind liebte ich seine blauen Luftpostbriefe mit den bunten Marken, auf denen exotische Pflanzen und wilde Tiere abgebildet waren. Wir schrieben uns regelmässig, und diese Korrespondenz war prägend für mein Leben. Otto hingegen lebte viele Jahre in Syrien und SaudiArabien, Frau und zwei Kinder im Schlepptau. Er war ein gefragter Berater in Nahost und Zentralasien. Wenn er zu Besuch kam, klangen seine Erzählungen wie aus Tausend und einer Nacht – fremd und faszinierend schön zugleich. Mit ihnen brachte er den Duft der grossen weiten Welt mit – und farbenfrohe Teppiche.
Zu jedem gab es eine Geschichte: Wie er ihn erworben hatte, was an ihm besonders war. Mal waren es edelste Exemplare aus Seide, auf denen man nur barfuss gehen durfte, dann Pferdedecken, die er wegen ihrer kuriosen Machart zwei afghanischen BuzkaschiSpielern abgeschwatzt hatte. In seinen Erzählungen tauchten Orte wie Belutschistan, Nuristan, der Hindukusch und Bamiyan auf, ohne dass ich etwas anderes als seine Worte damit verband. Im Laufe der Jahre erkannte ich Namen wieder, wenn er sie erwähnte oder ich sie auf Landkarten sah. Sein Lieblingsort im Afghanistan der siebziger Jahre war jedoch BandeAmir – eine Kette aus sechs Hochgebirgsseen, die aufgrund mineralischer Ablagerungen in den unterschiedlichsten Blau und Grüntönen schimmern, die er meisterlich zu beschreiben verstand. Es war diese Schilderung, die in mir erstmals den Wunsch weckte, auch einmal in dieses Land zu reisen. Doch bei seinem nächsten Besuch schüttelte Otto ob meiner Überlegung traurig den Kopf. Die Sowjets waren in Afghanistan einmarschiert, und das Land würde sich rasant verändern. An touristisches Reisen sei nicht mehr zu denken. Bei dieser Einschätzung sollte es jahrelang bleiben. Und doch gehörten die Teppiche und Ottos Erzählungen untrennbar zu unserer Familiengeschichte. In den späten neunziger Jahren begann ich mich intensiver für die Teppiche und ihre Herkunft zu interessieren, und noch konnte Otto davon erzählen. Höchste Zeit, alles über sie zu erfahren. Die Taliban beherrschten inzwischen das Land, und wir verbrachten so manchen Abend tief versunken in Gespräche über Politik, Afghanistan, Ottos Erlebnisse dort und nicht zuletzt die Bedeutung des Teppichhandwerks. Ob Jurte, Zelt oder Gebäude aus Lehmziegel, erzählte Otto, als Erstes werden Teppiche ausgelegt. Häufig zeigen sie gegenständliche oder abstrakte Motive, die das Paradies repräsentieren und so Ruhe in ein Heim bringen sollen. Das Zuhause sei für Afghanen ein heiliger Ort, in dem nicht nur gelebt und gebetet werde, sondern der auch Gästen immer offenstehe – nicht nur für die obligatorische Tasse Tee oder ein Mahl. Es sei eine im Stammesrecht tief verwurzelte Ehre, dass Asyl und Obdach gewährt werde. Der Gast solle sich so wohlfühlen, dass er eigentlich nicht mehr gehen möchte. Zeitsprung. Am 11. September 2001 lebe ich seit mehreren Jahren in Boston. Es ist ein sonniger Herbstmorgen, der erste Tag meiner kleinen Tochter im Kindergarten. Wir Eltern sind zur Eingewöhnung dabei, als wir, kaum angekommen, evakuiert werden. Wir verbringen quälende Stunden im Stau auf dem Weg nach Hause, die Nachrichten im Radio ergeben wenig Sinn. Erst als wir die Fernsehbilder sehen, begreifen wir allmählich, was geschehen ist. Die Reaktion der amerikanischen Regierung und ihre Folgen für Afghanistan wie die arabische Welt sind bekannt. Nachdem ich mich Jahre beruflich mit Krieg und Kriegsfolgen beschäftigt habe, ist mir rasch klar, dass die Zeit gekommen ist, dass ich als Journalistin nun selbst an den Hindukusch reisen und dort arbeiten werde. Es folgen Aufträge zwischen 2002 und 2008, die mir Aufenthalte in Kabul, aber auch auf dem Land ermöglichen. Otto hat nicht übertrieben: Die Gastfreundschaft und Herzlichkeit, die mir wiederfahren, sind unvergleichlich. Ebenso der Wissensdurst, der mir begegnet. Noch ist das Internet nicht weit verbreitet, noch gibt es ausserhalb Kabuls kaum Strom. Was es jedoch in Hülle und Fülle gibt, sind Geschichten. Ob Winter, ob Sommer, schier unerschöpflich scheint der Quell an Erzählungen von Jahren der Entbehrung, von Krieg, Tod und Leid, aber auch von Liebe und Lichtblicken. Dieser reiche Schatz an Berichten, aber auch Poesie bildet einen wesentlichen Bestandteil der afghanischen Kultur über alle Stammesgrenzen hinweg. Als ich im Winter 2005 eine Dorfgemeinschaft bei der Wiederbesiedlung ihrer einst verlassenen Häuser in der Provinz Laghman begleite, lerne ich Nasim, einen jungen Familienvater kennen. Stolz zeigt er mir sein kleines Haus, das im Wesentlichen aus einem Raum und einer angrenzenden Küche mit traditionellem Ofen im Boden besteht. Das Baumaterial stammt vom UNFlüchtlingshilfswerk, traditionell sind die Lehmziegel und ein gestampfter Boden. Dann legt Nasim die neue Behausung mit Teppichen aus und lädt mich zum ersten Tee ein. Mein Blick fällt auf einen Läufer in der Ecke – er sieht deutlich anders, moderner aus, als die grösseren Teppiche. Zuerst vermute ich einen Gebetsteppich, doch bei näherer Betrachtung erkenne ich das World Trade Center, die Zahlen 11/9, Flugzeuge und jede Menge martialisches Kriegsgerät. Ich frage Nasim, was es damit auf sich hat. «That’s a war rug», erklärt er. Ein Kriegsteppich. Ich hatte so etwas noch nie gesehen, meine Neugier ist geweckt. Nasim erzählt, dass es im Dorf eine Familie gibt, die Teppiche knüpft, die eben Geschichten aus neuerer Zeit erzählen. Ich bin fasziniert, aber zugleich auch irritiert. Verherrlicht ein Kriegsteppich etwa die Geschehnisse der letzten Jahre? Den 11. September, die Bombardements der Amerikaner und den erbitterten Widerstand der Taliban? Zurück in Kabul. Wie ein verwundetes Tier duckt sich die Stadt zwischen zwei Bergketten des Hindukusch, als könnte sie so den Sandstürmen und kriegerischen Attacken besser widerstehen. Ist es trocken, erstickt man am Staub. Regnet es, versinkt man im Schlamm. Die Stadt ist zu dieser Zeit noch ins Mittelalter zurückgebombt, ein trostloses Ruinenfeld. Auf der Spitze des nördlichen Berges Bibi Mahro erheben sich die Sprungtürme des ehemaligen olympischen Schwimmstützpunkts (der nie in Betrieb genommen wurde) in die Wolken. An den Kachelwänden der ausgetrockneten Schwimmbecken endlose Reihen von Einschusslöchern, die meisten in Kopf und Brusthöhe. Hier wurde nicht gekämpft, hier wurde exekutiert, unter den Sowjets, den Mudschaheddin, den Taliban. Fast schon wie ein Fremdkörper nimmt sich im Zentrum der Stadt ein Strassenzug aus, der von den westlichen Besuchern mit tragischem Spott Afghanistans Fifth Avenue genannt wird. Es ist die Kabuler Parodie einer Touristenmeile, nur ohne Touristen. Hier, in der Chicken Street, wie sie die Einheimischen nennen, werden Teppiche, Schmuck und Antiquitäten zu Fantasiepreisen feilgeboten. Die Kunden: zumeist westliche Mitarbeiter von NGOs, Journalisten und Diplomaten. Ich besuche Wahid, dessen Laden auf der Chicken Street legendär ist. Generationen von Ausländern haben sich von ihm verführen lassen. Denn Wahid verkauft nicht nur Teppiche aus dem ganzen Land, er zelebriert sein Handwerk und versteht es auf einzigartige Weise, damit auch die Kultur Afghanistans zu vermitteln. Ich erzähle ihm von Otto, der meine Liebe zu Afghanistan geweckt hat und vom Kriegsteppich, den ich bei Nasim entdeckt habe. Wahid taut zusehends auf und erzählt von seinem Neffen, der vor der Bagram Air Base, dem Hauptquartier der USStreitkräfte, mit Kriegsteppichen handelt: «Die Soldaten sind ganz heiss darauf. Eine Zeitlang konnten wir gar nicht genug Nachschub bekommen.» Wie die ersten Kriegsteppiche entstanden sind, kann er nur vermuten. Wahrscheinlich eine Reaktion der Teppichknüpfer auf den Einmarsch der Sowjets im Dezember 1979. Tatsächlich taucht diese Jahreszahl auf vielen Kriegsteppichen auf. Dazu Kalaschnikows, russische Schriftzeichen wie CCCP, das kyrillische Kürzel für die damaligen Sozialistischen Sowjetrepubliken. In den folgenden Jahren recherchiere ich nach den Ursprüngen dieser Teppiche. Die ältesten Kriegsmotive, die ich finde, reichen in die späten 70er Jahre zurück. Wobei die Darstellung historischer Ereignisse auf Teppichen, darunter Krieg und Heldentum, eine lange Tradition hat, auch in den benachbarten Ländern wie Pakistan und dem Iran. Die Verarbeitung solcher Ereignisse ist also nicht neu. Als der afghanische Alltag ab 1979 von der Okkupation geprägt wird, von Panzern, Hubschraubern, Maschinengewehren, Granaten und Minen, verdrängen derlei Motive allmählich die traditionellen Muster. In frühen Teppichen dieser Machart finden sich anfangs nur kleine Hinweise wie sich wiederholende Zahlen oder Buchstabenabfolgen (für Waffentypen wie des «Apparat Kalaschnikow», des sowjetischen Maschinengewehrs AK47) oder ornamentartig eingearbeitete Handgranaten in Kombination mit floralen Motiven in Erinnerung an gefallene Märtyrer und Opfer der sowjetischen Besatzer. Diese Versuche traditionelle Muster mit neuen Motiven zu verbinden, werden in den neunziger Jahren schliesslich verworfen. Häufig sieht man nun auf den Teppichen Landkarten von Afghanistan, umgeben von Kriegsmaschinerie, gleich einem Land, das vom Krieg erdrückt wird. Nach dem Abzug der Sowjets 1989 und während des afghanischen Bürgerkriegs bis etwa Mitte der neunziger Jahre entstehen vermehrt Teppiche mit übergrossen Motiven von Märtyrern und Mujaheddin. Unter den Taliban wird dann die Produktion wegen des Bilderverbots sehr eingeschränkt. Ab 2001 dominieren schliesslich Motive des 11. Septembers und seiner verheerenden Folgen. Auf einigen Exemplaren, so erzählt mir ein Importeur in Hamburg, habe er in den letzten Jahren gelegentlich Abbildungen von Drohnen entdeckt. Als ich diesen Herbst wieder in Afghanistan bin und mich in die Chicken Street begebe, ist Wahids Ladenlokal verwaist. Ein Nachbar berichtet, dass er sein Geschäft nach Istanbul verlegt hat. Die allgemeine Sicherheitslage, aber auch die Wirtschaft, die am Boden liegt, hätten ihn dazu veranlasst. Als ich von ihm wissen möchte, ob noch irgendwo Kriegsteppiche verkauft werden, lacht er. «Vielleicht in Peshawar.» Von dort, aus dem benachbarten Pakistan, komme der Krieg, glaubt er, und eben die Kriegsteppiche. Die Zeiten haben sich wieder einmal geändert. Frieden ist in Afghanistan trotzdem nicht in Sicht. Die Teppiche werden es zeigen. |