Ich liege unter der orangen Decke. Es ist warm. Ich fühle mich geborgen. Die Brille habe ich abgelegt. Ich blinzle in den Raum, unscharf, sehe die andern. Sie liegen, wie ich, unter einer der warmen, weichen, farbigen Decken. Gedämpftes Licht fällt durch die weissen Vorhänge in den Raum. Ich schliesse die Augen. Ich höre die Musik, ruhig, im Hintergrund, ein vorsichtiges Tasten nach Tönen und Klängen, die wieder in Naturgeräuschen untergehen. Regen, fernes Donnern. Ich spüre die Wärme unter der Decke, spüre die kühle Luft am Ellbogen, der unter der Decke hervorschaut. Meine Aufgabe: In den nächsten zwanzig Minuten werde ich vom Liegen ins Stehen kommen. Die Decke wird von mir abfallen. Sie wird meine Haut freigeben: Der kühlen Luft, dem Blick von andern. Die Decke wird meine ganze Haut freigeben, denn unter der Decke bin ich nackt. Nackt werde ich mich, wenn ich es schaffe, zeigen, dem Licht aussetzen, Blicken, der kühlen Luft. Dann werde ich mich wieder hinlegen und die Decke über mich ziehen. Das ist die Aufgabe. Jeder ist frei, so viel anzubehalten, wie er oder sie mag. Wir haben uns nicht abgesprochen, aber fast alle habe gewählt, was ich gewählt habe: Nackt zu sein. Ein Risiko.
Italienische Verhandlung Ich spüre meinen Körper unter der Decke und ich spüre ein Kribbeln. Seltsam! Denn den meisten Leuten im Raum habe ich mich schon nackt gezeigt – beim Umziehen zum Beispiel oder in der Sauna, wo ich mich auch den fremdesten Menschen ohne Bedenken zeige. Ich habe schon mehrere Kilometer Nacktstrand absolviert, stand nackt vor dem Hautarzt, nackt vor dem Aushebungsoffizier (oder bilde ich mir das ein, weil es in Filmen vorkommt?). Aber jetzt liege ich hier, in diesem Raum, durch und durch geborgen – und schon der Ellbogen, der unter der Decke hervorschaut, fühlt sich nackt und erst recht ist die Vorstellung, in einiger Zeit ohne jede Hülle dazustehen aufregend.
Ich bin italienisch aufgewachsen, zwar in der Schweiz, aber was das Verhältnis zum Körper angeht, italienisch. Von meinen sechs Geschwistern habe ich fünf nie nackt gesehen, dabei habe ich mit zwei meiner Brüder im selben Zimmer geschlafen. Nackt habe ich meine kleine Schwester gesehen, aber da war sie ein Baby auf dem Wickeltisch. Ich habe so wenig hingeschaut, dass ich, wie alle meine Freunde in der Primarschule komplett auf das Rätselraten angewiesen war, wenn wir zu ergründen versuchten, wie es bei den Mädchen aussah. Meine Eltern habe ich nicht nackt gesehen, selten, sehr selten sah ich meine Mutter oder meinen Vater in Unterwäsche die zwei Schritte vom Schlafzimmer ins Bad gehen. Am meisten Körper hat mein Vater gezeigt: Er mähte in den Badehosen den Rasen, zeigte sich im Trägerleibchen im Garten oder bei handwerklichen Arbeiten. Nicht beim Essen.
Ich bin in einer grenzenlosen Scham in Bezug auf meinen Körper aufgewachsen. Wenn ich in der Zeitung von den Enthüllungszwängen lese, die eine aufgeklärt-patriotische Körperkultur über Knaben und Mädchen verhängt, bin ich empört. Für mich selbst war der Schwimmunterricht eine Qual. So oft ich konnte, drückte ich mich vor dem Schwimmen. Ich vermied, wenn ich nur konnte, die erzwungene Nacktheit in der Garderobe, die erzwungenen Schwimmfreudigkeit, das Tauchen, das Wettschwimmen und Wettspringen: Ich schämte mich. Ich fühlte mich in der Badehose ungehörig entblösst. Dazu: Mager und kümmerlich. Mein Körper empfand Scham und bis heute fühle ich mich tief verraten von allen, die mich dazu zwangen, mehr von mir und meiner Haut zu zeigen, als ich wollte. Ich bin empört, wenn muslimische Knaben zum gemischten Schwimmunterricht gezwungen werden und ich finde es zynisch und menschenverachtend, wenn Kinder gezwungen werden, Erwachsenen zu berühren, und sei es nur an der Hand. Ich kann verstehen, dass wir eine Diskussion über sexuelle Übergriffe führen, aber ich kann nicht verstehen, dass manche, die sich in diesem Diskurs ereifern, zugleich bedenkenlos verlangen, dass Mädchen und Knaben aus anderen Kulturkreisen zum Schwimmunterricht und zum Handschlag gezwungen werden. Dieses Gefühl entsteht nicht im Kopf. Meine Empörung ist mir in die Haut eingeschrieben. Meine Scham, die ich gelernt habe im Umgang mit den Menschen, die mich lieben, die ich liebe. Diese Scham zu verraten, heisst meine Liebe aufzukündigen und das wissen die Badhosenpatrioten ganz genau. Darauf zielen sie. Und ich ziehe mich unter meiner farbigen Decke zusammen und berge mich unter der alten Scham. Dem Nichtgesehenwerden. Nie werde ich aufstehen. Ich werde von jetzt an, gekrümmt wie ein Embryo unter meiner farbigen Decke liegen. Verborgen. Geborgen. Versteckt. Niemand kann mich zwingen aus meinem Versteck hervorzukommen, in dem es warm ist.
Eine Frage der Lust Also erwacht unter der Decke, unter der ich liege, eine alte Scham. Sie liegt mit mir unter der Decke, aber mit mir unter der Decke liegt noch etwas ganz anderes: Die Lust des Körpers am Körper. Ich wundere mich, aber aus der Scham erwacht die Lust. Die Lust am eigenen Körper, der sich warm anfühlt und auch gelenkig, geschmeidig. Die Haut, die vor jedem Blick und jeder Berührung, nur schon vor einem Luftzug zurückschreckt, überlegt es sich ganz langsam anders. Ich bewege mich und spüre den Boden, wo ich mit meinem Körper darauf liege. Ich denke an Mythen und Erzählungen von Kulturen, in denen Frauen einen Fisch in ihren Körper aufnehmen und einen Tag tragen, um ihn am Abend in die Furchen des Ackers fallen zu lassen, damit er fruchtbar werde. Ich denke an die Erzählung von den Bauern, die ihren Acker fruchtbar machen mit ihrem eigenen Samen. Unter der Decke, mich langsam bewegend, spüre ich die Hitze und Feuchtigkeit der Urbefruchtung, der Urzeugung. Ich werde ergriffen von der träge sich wälzenden Welle der sexuellen Lust, ohne die es kein Leben gibt, kein Grünen, kein Blühen, kein Wachsen, keine Haut und kein Stück Fell, unter dem lebendiges Fleisch zuckt.
Es geht mir gar nicht schlecht unter meiner Decke. Anstelle des verhassten Chlorwassers im Sportzentrum – es war auch immer laut und hallte und man rutschte auf den Fliessen aus und schlug sich die Zehen blutig – spüre ich ein anderes Wasser um meinen Körper. Es ist ein heiliges Wasser oder zumindest eines, das verlockend perlt. Und so wage ich es: Eine Hand lasse ich aus meiner geborgenen Höhle ans Licht und an die frische Luft gleiten. Es ist köstlich. Was für eine Frische! Wie die Luft kühlt, wie das Licht perlt. Eine Hand, der ein Arm folgt. Königlich. Die Haut badet im Licht. Ja. Ich kann mir vorstellen, aus meinem geborgenen Universum herauszutreten. Ich kann mir vorstellen, es zu tun. Wenn ich aufstehe, wenn ich mich erhebe, dann werde ich ein Kind Gottes sein.
Ich falle zurück Aber schnell ist das nicht zu machen. Den Arm habe ich gewonnen, die Schulter, ein Knie – aber noch liege ich und noch verberge ich, was verletzlich ist: Den Bauch mit seinen Narben. Das Geschlecht. Ich kann mir nicht vorstellen zu zeigen, was ich jetzt so verletzlich spüre. Ich habe noch nicht alle Hindernisse überwunden. Ich verberge das Geschlecht, für das es keine Worte gibt, die jetzt passen: Schwanz geht gar nicht, Penis, Glied – nichts passt. Immer diese Verlegenheit. Ich zögere unter meiner Decke und frage mich, ob ich mein Geschlecht verberge, weil ich es nicht zeigen darf oder weil ich es nicht zu zeigen wage, weil es verboten ist, oder weil ich mich schäme. Schon bei den Beinen, beim nackten Oberkörper beginnt die Frage: Darf ich? Getraue ich mich? Scham und Verbot bedingen sich. Als Lehrer darf ich nicht in kurzen Hosen unterrichten. (Ich hätte Schwimmlehrer werden müssen.) Ich schwitze in langen Hosen und Schuhen vor Schülern in kurzen Hosen und Schülerinnen in tief geschürztem Oberkleid. Aber würde ich mehr zeigen wollen? Würde ich im Nacktabteil des Intercitys fahren wollen, wenn es eines gäbe? Schwer, das jetzt herauszufinden, wo ich mit meinem Körper dabei bin, einen Weg in die Nacktheit auszuforschen. Peinlich wäre es, wenn ich mich in voller Erregung zeigen würde, das ist klar. Darüber denke ich schon gar nicht nach. Ich bin weit entfernt davon, mir meinen erregten Körper als etwas vorzustellen, was ich einem Raum aussetzen würde, der nicht als sexueller Raum definiert ist. Aber ich will einen Weg dazu finden, die Decke fallen zu lassen. Hier, in diesem Raum. Es sieht gefährlich danach aus, dass das, was ich mir da in meinem Kopf zusammendenke mich drausbringt. Ich spüre es: Ich bin nicht mehr da. Ich ziehe den Arm zurück, die Musik habe ich vergessen, die Decke ist zu warm. Ich habe es zerdacht: Die Kleidervorschriften für meinen Lehrerkörper, mein Umgang mit Offenherzigkeiten im Schulzimmer, der Chlorgeruch im Schwimmbad und Besamungsriten in Mesopotamien: Das passt nicht zusammen mit meinem Versuch, meinen Körper frei zu machen. Aus der halben Aufrichtung, in die ich es geschafft habe, sinke ich wieder zurück auf den Boden und unter die Decke. Der König der Nacktheit zieht sich mürrisch und missmutig unter die Decke zurück.
Ich höre auf die Musik, die noch immer ganz leise um die Geräusche eines Regens spielt. Bald beginne ich meine Verhandlungen neu. Aber jetzt brauche ich eine Pause. Ich weiss nicht, ob ich es schaffen werde. Ob ich soviel Zwang noch empfinden kann, dass die Befreiung davon ein Gelingen ist. So viel Lust auf Haut, auf das Sexuelle, dass ich die Luft suche, das Licht, das Hervortreten. Dass ich zeigen will, was von so vielen widersprüchlichen Gefühlen bestimmt ist. Meinen Körper. Dass ich ihn nicht zeigen will, weil er so kostbar und verletzlich ist. Dass ich ihn gerade deswegen zeigen will. Ich werde es ausforschen müssen. Ich werde Zoll um Zoll gewinnen und verlieren. Lust, Scham, Freude, Neugierde: Alles wird jetzt spürbar, konkret, erlebbar: Auf meiner Haut.
Es ist die Haut. Ja. Aber ich muss den Weg finden. Es gibt keine Regeln, es gibt nur Entdeckungen, stille Niederlagen, verwunderte Siege. Und: Es gelingt. Ich spüre, wie in meinem Körper eine Kraft wach wird. Die Überlagerung der Gedanken im Kopf verliert sich in ein Hintereinander von Arm, Bein, Knie, Hand, Ellbogen. Mein Körper regt sich. In meinem Körper erwacht ein Wissen. Ein schwankendes Wissen: Ich darf nicht zu schnell werden, ich darf auf keinen Umweg verzichten, denn ich bin die Bühne, das Spektakel und der Darsteller. Ich wachse ins Licht, ich spüre, wie die Decke Zoll um Zoll ins Rutschen kommt, schon stehe ich halb, noch verdeckt die Decke die Scham, den Bauch, aber mit jeder kleinen Wendung, mit jedem kleinen Nachlassen gleitet die Decke, wechselt die Empfindung von Wärme in die Empfindung von Licht und Lufthauch. Und dann stehe ich. Ich stehe, ich bewege mich weiter. Frei, bloss, leicht, ins Licht getaucht, zögernd, freudig triumphierend. Als hätte ich eine neue Geschichte geschrieben. Zum ersten Mal. Ich öffne die Augen. Ohne Brille schaue ich verschwommen um mich. Scheu. – Ich sehe Menschen im Raum, die ich noch nie gesehen habe. Ich frage mich fragen, wie die Frau mit dem unendlich langen, wallenden Haar in den Raum gekommen ist, wer sie ist, die wie ein Traum von Schönheit sich langsam bewegt. Ich sehe die anderen, die ich erkenne und die mir doch neu sind. Alles ist in ein neues Licht getaucht. Ja. Es hat funktioniert. Zoll um Zoll. Zeigen, Verbergen, Offenbaren. Das ist die Reise. Zoll um Zoll zögere ich, freue ich mich, zögere von Neuem. Jetzt, am Ziel, hat alles einen perlenden Geschmack.
Die andere Reise Es war eine körperliche Erfahrung. Aber zugleich musste ich mich von Bildern und Vorstellungen lösen, die ich im Kopf hatte. Richtig, falsch, schön, hässlich. Aber damit war es nicht getan. Ich musste die Spur jener Geschichten aufnehmen, die sich mir unter die Haut geschrieben habe. Musste Lust zulassen, musste sie hegen. Musste mich zurücksinken lassen. Aufgeben, wieder anfangen. Nicht nur ich habe diese Erfahrung gemacht. Auch die anderen im Raum. Wir sprechen darüber, als alles vorbei ist, am Abend beim Essen am grossen Tisch. Wir haben wieder davon gesprochen, zu zweit, Wochen später auf einem Spaziergang. Es war eine grosse Erfahrung. Und es bleibt die Frage: Lässt sie sich übertragen? Tage später bin ich in Berlin. Ich sitze im Hotel. Das Zimmer geht zum Hof, es regnet, ich höre die Stimme eines Vogels. In der Nacht habe ich geträumt, dass ein Vogel zu mir ins Zimmer geflogen ist. Ich habe ihn mit meiner Hand aufgehalten, es schmerzte. Ich war verwundert, wie stark der Schmerz war und wie hart meine Hand war. Vielleicht träumte ich diesen Traum vom Vogel, der sich in mein Zimmer verirrte, weil ich gestern Abend einen Mann gesehen hatte, einen türkischen Vater, vielleicht Grossvater, der mit grossen Bewegungen eine Taube unter den Dächern der S-Bahnhaltestelle wegscheuchen wollte. «Sch, Sch», machte er und ahmte einen Adler nach, ein grosses Tier, das sich der Taube näherte, die Flügel aufspannte. «Sch, Sch!» machte das grosse Tier. Das Kind schämte sich und halb war es fasziniert, von diesem Mann, der unter den Glasdächern der S-Bahn-Station Herrmannplatz einen Adler nachmachte und mit einer Taube tanzte. Vielleicht war ich deshalb so erschüttert, als ich aus dem Traum erwachte, weil ich keinen Adler imitiert hatte, weil ich nicht mit dem kleinen Vogel tanzte, der sich in mein Zimmer verirrt hatte, sondern die Stahlfaust machte und ihn verscheuchte. Ich will das nicht mehr. Ich will nicht mehr Ideen, die ich habe, verwerfen aus Angst, mich mit ihnen zu zeigen. Ich will mich nicht mehr unter die Decke der Scham legen. Nie mehr. Oder immer. Ich will jedenfalls mit den kleinen Dingen des Lebens tanzen. Jetzt gerade. Es regnet, es beginnt ein grosser Tag.