Ernst - Magazin fuer Gesellschaft, Sinn und Gender
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Vor dem TOd
gibt es keine Verkleidung

Frank Keil macht sich auf, einen Freund zu treffen, der bald stirbt. »
Text: Frank Keil, Illustration: Simon Bretscher

Bild


​Ich weiß noch genau wie die Straßenbahnhaltestelle aussah, an der ich damals ausstieg. Und wie das Geräusch war, als die Bahn weiterfuhr; das Klappen der Türen, die wieder ineinander gefaltet wurden; dann ein verlässliches Sirren, das leiser und leiser wurde. Und ich atmete einmal tief ein und einmal tief aus und ging los.
Es würde noch einmal ein warmer Tag werden, nachdem es bis eben beständig genieselt hatte, ich nahm den Zettel mit der Wegbeschreibung aus der hinteren, rechten Hosentasche, las „In Fahrtrichtung gesehen rechts in die Klingerstraße einbiegen“, fand nach ein paar Metern das Straßenschild und folgte ohne Mühen der weiteren Wegschreibung, die mir A. per E-Mail mitgeteilt hatte: „Die Straße entlang bis rechts die Herrmann Bahlsen Allee abgeht. Dort rechts ab und gleich wieder links in die Gehägestraße.“
 
A. hatte mir ein paar Tage zuvor geschrieben, dass J. mich noch einmal sehen möchte, und wenn ich das auch möchte, dann sollte ich nicht allzu lange warten.
Und mit der nächsten E-Mail die Nachricht: Er sei bereits im Hospiz, es würde jetzt doch schneller gehen als erwartet, und J. hadere nicht und sei nicht verzweifelt, und sie selbst übe sich darin zu akzeptieren, dass nicht alles in unseren Händen liege.
Als wir noch am selben Tag miteinander telefonierten, klang A. sowohl gelöst wie angespannt; als würde jetzt passieren, was passiert, nur wie lange es noch dauere, sei ungewiss, ein paar Tage lägen noch vor ihm, vielleicht mehr, vielleicht eher weniger. Und sie müsse nur die Leute koordinieren, die J. noch einmal sehen möchte, das seien gar nicht viele, aber ein Besuch pro Vormittag und einer pro Nachmittag reiche, mehr würde er nicht mehr schaffen.
 
Und ich fuhr drei, vier Tage später an einem Oktobermorgen mit einem der ersten Züge aus meiner Stadt in seine Stadt, wunderte mich, wie viele Schallschutzwände man mittlerweile entlang der Strecke angebracht hatte, so dass die Landschaft über weite Strecken nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu genießen war, in grün und beige gehalten zischten sie an mir vorbei, zuweilen bemalt, besprayt, auf die ich schaute, während ich mich im Fenster spiegelte und ich an J. und unsere gemeinsamen Jahre dachte, auch der kleine Ort mit seinem passend kleinen Bahnhof rauschte schließlich vorbei, an dem wir damals aussteigen mussten, wo eines unserer Autos parkte, mit dem wir weiter über die Dörfer fuhren bis dorthin, wo wir wohnten, in einem Bauernhof, eine mächtige Kastanie stand an der Auffahrt und verschattete diese.
Und ich merkte, dass ich mich auf das Treffen mit ihm freute; dass ich froh wurde, ihn wiederzusehen, als sei es ganz normal, dass wir uns einmal wieder begegnen würden so wie früher.
Ich hatte J. das letzte Mal vor zwei Jahren getroffen. Er war sechzig Jahre alt geworden, er hatte in einem Ruderclub am örtlichen Fluss entsprechend gefeiert, ich kannte außer ihn und A., von der er damals schon länger getrennt war und die fast am Ende des Abends dazu kam und die ihn zwar umarmte, aber sonst sichtbar Abstand zu ihm hielt, niemanden unter den mit J. Feiernden, und ich hatte es seltsamerweise genossen, nur herumzustehen und mit kaum jemanden zu reden. Ich stand wirklich nur da, trank nicht allzu viel, nahm ein bisschen was vom Büffet, wich mit meinem Teller denen aus, die mit ihren gefüllten Tellern an mir vorbei wollten und die mir etwas ratlos zunickten, weil sie mich nicht zuordnen konnten, und ich nickte kurz zurück.
Stellte mich wieder an meinen Platz, den ich mir ausgesucht hatte und schaute zu, wie J. Geschenke entgegennahm, wie er sie auspackte, wie er das nun zerknüllte Geschenkpapier noch einen Moment lang in den Händen hielt, bis er es irgendwo ablegte. Manchmal schaute er mich an, kam zwei-, dreimal zu mir herüber, fragte ob alles okay sei, ja, es sei alles okay, und J. tauchte wieder in seine Geburtstagsgesellschaft ein, und mehr passierte nicht, ich war auf unaufgeregte Weise dabei und das war gut so, weil es reichte und nicht mehr sein musste, als es war.
Und nun stand ich vor einer Tür, sah das Namensschild, das man austauschen würde, und klopfte an.

Ich war darauf gefasst, dass er verletzt oder geschädigt ausschauen würde, dass ein Zugang in seiner Armbeuge verpflastert wäre, ein Beutel mit Urin am Bettgestell hängen würde, in den es verlässlich hineintropfte, vielleicht hätte man ihm einen Verband um den Kopf gewickelt, in jedem Fall würden Mineralwasserflaschen aus grünem Glas auf einem Nachttisch mit schwenkbarem Tablet stehen, eine fast ausgetrunken, die andere noch nicht angebrochen, ich hatte A. nicht gefragt, was genau für ein Krebs ihm das Leben nehmen würde, weil es mir nicht wichtig war, ich hatte auf seiner Homepage geschaut, alle Kurse würden wegen Krankheit bis auf weiteres ausfallen, war da zu lesen, es muss also alles dann doch sehr schnell gegangen sein, nach den ersten Anzeichen.
Und jetzt würde ich gleich die Türklinke herunterdrücken, er würde in einem Pflegebett liegen, das Kopfteil hochgestellt, wir würden uns anschauen, ich würde etwas sagen, er würde etwas sagen und alles Weitere würde sich ergeben, was sollte schon passieren, als das, was passierte.
Und Richtung Mittagszeit würde ich mich verabschieden.
Ich würde ihn zurücklassen, ich würde gehen. Ich würde wahrscheinlich auf einen für mich passenden Moment warten, die Stimme entsprechend heben (mich räuspern?) – und sagen, dass ich jetzt gehe, bemüht leichthin zu klingen und zu wirken, als wäre es selbstverständlich, dass ich jetzt wieder gehe. Dass ich jetzt langsam gehe, würde ich sagen, vielleicht; wie man das so sagt, wenn man unsicher ist, ob es der richtige Zeitpunkt ist, aufzustehen und tatsächlich zu gehen, „Ich gehe dann mal langsam“.
Wie auch immer, ich würde gehen, und wir würden uns verabschieden, diesmal für immer, wir würden uns nie wieder sehen, wirklich nie wieder, es wäre also der allerletzte Moment, wo wir zusammen sind, noch einmal, ein letztes Mal, dass wir uns anschauten, aber das hatte ja noch Zeit, ich war ja gerade erst gekommen und hatte mich noch nicht einmal auf den Stuhl neben seinem Bett gesetzt.
Ich verdanke J. drei Geschichten vom Sterben, die mich, seit er sie mir erzählt hat, begleiten.
Die erste erzählt von dem Abend, als seine Mutter im Krankenhaus gestorben war, er muss noch Jugendlicher gewesen sein, 13, 14 Jahre alt, vielleicht 15, nicht älter. Er hatte sich an dem Tag die neu erschienene Rolling-Stones-Platte gekauft („Sticky Fingers“, die mit dem Reissverschluss), und er wollte sie abends in seinem Zimmer hören.
Was ausgeschlossen war, dass er die Rolling Stones hörte, an diesem Abend, während nebenan sein Vater im Wohnzimmer saß, erschöpft und kraftlos und durcheinander und auch später vermutlich wütend, allmählich am Überlegen, wie es nun weitergehen wird, ohne seine Frau, mit J. und seiner Schwester, das war nicht so geplant und nicht gewollt.
Aber J. wollte doch so gerne die neue Rolling-Stones-Platte hören, deswegen hatte er sie sich ja gekauft.
Und er legte sich ins Bett, er legte die Platte auf den Plattenteller, er formte aus seiner Bettdecke eine Höhle, mit einem Ausgang, durch den er seinen Arm strecken konnte, er stellte die Lautstärke auf sehr, sehr leise, und sehr, sehr leise schlich die Rolling-Stones-Musik zu ihm unter seine Bettdecke, und er hörte nur eine Seite.
Nur eine Seite, die andere sparte er sich auf, für den nächsten Tag, wenn seine Mutter dann den ersten Tag tot sein würde, dem ein weiterer Tag folgte und dann noch einer, dann noch einer, und so weiter.
Bis das erste Jahr geschafft wäre und dann das nächste.
Die andere Geschichte erzählt von seinem Vater, der gleichfalls im Krankenhaus starb, viele Jahre später. J. studierte damals in einer anderen Stadt, er hatte seinen Vater noch einmal besucht, er hatte ihm den neuen SPIEGEL mitgebracht, er wollte seinem Vater, der jede neue Woche montagsmorgens mit der Lektüre des neuen, druckfrischen SPIEGELS begann, der schon immer den SPIEGEL las, ein echter SPIEGEL-Leser eben, wie es ihn heute kaum noch gibt, eine Freude machen. Er hatte selbst die Ausgabe gelesen, was er sonst nicht tat, um seinen Vater auf den einen und anderen interessanten Artikel hinzuweisen, um mit seinem Vater sprechen zu können, doch sein Vater hatte den SPIEGEL nicht einmal aufgeschlagen, das würde ihn alles nicht mehr interessieren, nicht im geringsten würde ihn das interessieren, und sie hatten schweigend dagesessen, J. und sein Vater. Und er hatte sich über seinen Vater so geärgert und sich über seinen Ärger so geschämt, wie er mir berichtete.
Es gäbe überhaupt viel zu erzählen von J. und mir, von den beiden Wohngemeinschaften, die wir nacheinander gründeten, draussen auf dem Land, wo wir von einem anderen Leben träumten, einem einfachen und unmittelbaren. Entsprechend euphorisiert legten wir auch im strömenden Regen Beete an, wir buken Brot, das meist hart und säuerlich wurde, wir zogen im Herbst mit der Motorsäge in den nahen Wald, machten Holz, das wir an der Wand zu den leeren Ställen stapelten, wir hielten uns Hühner und J. später Ziegen (die er eigenhändig zum Schlachter brachte, als er sie aufgeben musste, und er wich auch nicht zur Seite, als sie geschlachtet wurden, als der Schlachter das Bolzenschussgerät durchlud und ansetzte). Wir lernten andere wie uns kennen, die wie wir weit verstreut in entlegenen Straßendörfern wohnten, zu denen wir fuhren, in irgendwie zusammenreparierten Renaults, die uns tatsächlich selten im Stich ließen. Und wenn, dann gab es immer jemanden in der Nähe, dem konnte man Bescheid sagen und er kam, um einen abzuschleppen oder wenigstens mitzunehmen und morgen war ja auch noch ein Tag, an dem man sich um das liegengebliebene Fahrzeug kümmern könnte.
So lebten wir gemeinsam mit anderen, die kamen und gingen, ein spannendes und erst von heute aus gesehen vielleicht auch etwas wirres Leben, das etwas von einem Sommer hatte, der sich jeden Morgen neu aufraffte, um schön und angenehm zu werden und es meistens auch wurde.
Und morgen würde etwas anderes passieren, und wirklich zerstritten haben wir uns nie, nur das wir dann doch auseinanderzogen, nach dem vierten Sommer, als uns unabhängig voneinander immer mehr klar wurde, dass wir da draußen auf dem Land keine wirkliche Zukunft haben würden, und J. mittlerweile A. kennengelernt hatte, die ihr Studium entsprechend ernst nahm, als sie ihren Studienplatz bekam: Entweder du kommst mit oder du kommst nicht mit, und J. kam mit, das war in Ordnung.
Und mir fällt die dritte Geschichte ein, die ums Sterben kreist, er hatte mich besucht, wir waren nach einer Lesung, die ich absolviert hatte, noch etwas essen gegangen, und er hatte mir von seiner Ausbildung zum Familientherapeuten erzählt und von einer Aufgabe, die ihm sein Anleiter gestellt hatte: Er solle aufschreiben, wie lange er leben würde, einfach eine Zahl, ohne gross darüber nachzudenken, eine Zahl auf einen Bogen Papier, was schreibt man da hin.
Eine Aufgabe, die einer vorhergehenden Aufgabe gefolgt war, ein Genogramm zu erstellen, also mit allen Geschwistern, Verwandten und Abkömmlingen zu versehen; vor allem aber mit all ihren Geburts- und Sterbedaten. Und J. (so erzähle er mir, während wir Bier nachbestellten) hatte auf sein Blatt geschaut und ihm sei klar geworden, wie viele aus seiner Familie früh gestorben seien: „Ich komme aus einer ganz schön toten Familie!“, sagte er mit einer Mischung aus Bedauern und Trotz, ich erinnere mich genau.
Wie lange er leben würde, welche Vorstellung er da hätte, hatte er damals nicht gesagt. Jedenfalls: zu reden hatten wir immer etwas.
Und nun war er 62 Jahre alt, sein Kopf war kahl rasiert, ein stoppeliger, schwarzer Bart umschloss sein Kinn. Seine Arme und Hände, die unter der Bettdecke hervorragten, wirkten glatt und prall und stramm, als hätte man viel Luft unter die Haut gepumpt, die haarlos glänzte, wir sprachen erst einmal nicht viel.
Ich drückte seine Hand, ich erzählte, um etwas zu erzählen, von der Fahrt, und wenn er sich in seinem Bett hin und her wälzte und sich die Bettdecke verschob, sah ich, dass er Windeln trug.
Er sagte: „Die haben mich hier gut eingestellt.“ Und schloss zum ersten Mal die Augen.
Er sagte: „Mann, was haben wir alles erlebt!“
Von den 369 E-Mails auf seinem Tablet wollte er keine vorgelesen bekommen, nicht eine einzige.
Er bat mich, das Fenster ein wenig zu öffnen, den Vorhang ein Stück zurückzuziehen, so ein wenig Licht hereinzulassen. Er sagte: „Ich würde mich gerne bewegen, aber es geht nicht mehr.“ Er richtete sich halb auf, stützte sich ab, und er holte aus der Schublade seines Nachttisches eine CD hervor und legte sie ein.
„Of Monsters and Men“, las er vor. „Eine Band aus Island“, sagte er und reichte mir die Hülle. Und dass das doch genau die Art von Musik wäre, die wir damals gehört hätten, mittwochnachts, auf BFBS, dem britischen Soldatensender, die John-Peel-Session, oft rutschte uns der Sender weg, musste mühsam wieder eingefangen werden, ganz behutsam drehten wir am Senderknopf, ein Millimeter zu viel oder zu wenig und die Musik war weg, während draußen die Kastanie rauschte und ihre Äste knackten, ohne zu brechen. Doch schon beim zweiten Song stellte er die Lautstärke leiser, der dritte Song hatte kaum angefangen, da bat er mich, den Rekorder auszuschalten, er drehte sich zur Seite.
Schlief ein, schlief.
Und zwischendurch ist er plötzlich wieder ganz da. Fragt, wie spät es ist. Fragt, wie lange ich schon hier sei. Richtet sich wieder auf, streicht die Bettdecke glatt, schaut, als würde er jetzt aufstehen, zum Schrank gehen und sich anziehen, er sinkt wieder zurück, er schließt die Augen, er schläft wieder ein. Vielleicht aber hält er auch nur die Augen geschlossen, und ich weiß nicht, wo er ist.
Die Bettdecke rutscht zur Seite, ich sehe seine nackten Beine, die rot geschwollen sind, sein Brustkorb hebt und senkt sich im Rhythmus seines Atems, ganz selbstverständlich.
Er ist wieder wach, er wirkt erholt, ich habe doch mal was über ihn als Cineasten, als Filmesammler geschrieben! Jedenfalls: Mittlerweile habe er alle seine Videos digitalisiert, alle Filme auf Festplatten abgespeichert, hunderte, ach, tausende von Filmen aus den letzten 20 Jahren. Die er nun hinterlasse, akribisch geordnet, durchnummeriert, kann ja sein, dass sich jemand dafür interessiert.
Er reibt sich mit der flachen Hand übers Gesicht, er lässt sich einen feuchten Lappen geben, tupft sich die Lippen ab, die Mundwinkel, die leicht eingerissen sind, er schließt die Augen, liegt da mit dem feuchten Lappen zwischen seinen aufgedunsenen Fingern, und ich merke, dass der Stuhl ganz bequem ist, auf dem ich nun seit zwei Stunden sitze, dabei sah er nicht so aus.
Stehe später draußen auf dem Flur, er wird gewindelt, sein Bett wird kurz in Ordnung gebracht, das Laken stramm gezogen, die Decke aufgeschüttelt, als plötzlich gegenüber eine Tür aufgerissen wird, eine ältere Dame schubst einen älteren Mann vor sich her, sie brüllt, er solle sie in Ruhe lassen, was er denn von ihr wolle, sie kenne ihn nicht, er solle verschwinden, auf der Stelle, während zwei Schwestern hinzueilen, eine die Frau in ihr Zimmer zurückbringt, die andere den Mann umfasst und ihm erklärt, sie meine es nicht so, es sei die Krankheit, die verwirre. „Ich weiß“, sagt der Mann tapfer. Er sagt: „Und trotzdem.“ Dann steht er einfach da, die Schwester streicht ihm immer wieder über den Rücken und sieht ihn von der Seite an und ich kann wieder zu J., der mich in seinem frisch gerichteten Bett anlächelt, als hätte auch ihm das Aufschütteln des Bettzeugs gut getan.
Der freundlich abwinkt, als eine der Schwestern kommt, ihn fragt, ob er etwas essen möchte; sie fragt nur, sie hat kein Tablett dabei, sie nickt und zieht sich wieder zurück. „Mit Essen werde ich hier nicht bedrängt, das finde ich sehr angenehm“, sagt er, und mir fällt ein, wie gerne J. gekocht hat; wie er sich verlieren konnte in hochkomplizierten Gerichten mit all den Zutaten, wie daraus mehrgängige Essen erwuchsen, die bis nach Mitternacht reichen konnten, nur am nächsten Morgen das Abwaschen war nicht so sein Ding, da schlief er gern lange und gründlich.
So sitze ich und schaue ihm beim Schlafen zu, wenn er denn schläft. Schaue auf die Bücher und Zeitschriften im Zwischenfach seines Nachttisches, die er nicht mehr lesen wird; die da nur liegen, bis jemand sie wegräumt, später.
Und um halb eins gehe ich. Gehe, als er kurz wach ist, wach wird, U. ist gekommen, die Frau nach A., sie streicht ihm übers Gesicht und er lächelt dazu. „Schön, dass du da warst“, sagt er; er sagt: „Ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Ich drücke seine Hand, er schließt die Augen, vielleicht fallen sie ihm auch zu und wer weiß, wo er jetzt ist, und wir lassen unsere Hände los, einfach so.
Und dann gehe ich. Nehme meine Jacke, greife meinen Rucksack, schließe hinter mir die Tür und drehe mich nicht um. Gehe den langen, ebenerdigen Flur hinunter, nicke den Schwestern zu, die vorne in ihrem Aufenthaltsraum sitzen, mit großen Tassen in den Händen, ich öffne die Glastür, verlasse das Gelände, ich muss nicht auf den Zettel schauen, ich finde auch so die Haltestelle für die Straßenbahn Richtung Zentrum, auf die ich nicht lange warten muss.


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