Ivo Knill unternimmt einen Streifzug zur Frage: Kann Sex heilen? »
Illustrationen: Johanna Schaible
Die gesellschaftliche Debatte über Sex ist laut, aufgeregt und angestrengt. Dabei wissen wir doch: Sex tut gut und ist gut. Sex kann gelingen, ob man frisch verliebt oder in bewährter Partnerschaft unterwegs ist. Sex kann gut sein. Gut, weil vertraut, gemächlich und unangestrengt, aber auch gut, weil stürmisch, unerwartet und neu. Sex ist wie Kochen, Spazierengehen und Abwaschen auf dem Campingplatz: Man muss dranbleiben, versuchen und nicht aufgeben, dann kommt es meist irgendwie gut heraus. So funktioniert eben das Leben. Man muss es tun. Aber auch das Tun will besprochen sein. Man will Worte haben, für das, was man tut, denn manchmal kommen mit neuen Worten auch neue Ideen. Damit beginnt mein Streifzug durch Cafés und Küchen, Restaurants und Stuben, Schlosskeller und Kaminzimmern. Ich frage Profis und Alltagsmenschen. Ich frage nicht nach dem Wie Oft, nach dem Was und Wieviel und der richtigen Stellung oder Dosis. Ich frage, ganz einfach: Ist Sex heilsam?
Tristan Ist Sex heilsam? Ja! Findet Corinna Virchow. Sie gibt zusammen mit ihrem Partner das Wissensmagazin «Avenue» heraus. Sie ist Mediävistin und befasst sich mit dem Feminismus und der Genderfrage. Eine der letzten Nummern der «Avenue» enthüllte den Forschungsstand zur Pornografie. Eigentlich müsste sie die Antwort doch wissen, denke ich, und so ist es dann auch. Wir erreichen uns nach drei Versuchen gegen Abend, im Hintergrund höre ich die Geräusche eines Haushalts, in dem Kinder leben. Zwischendurch taucht eines in Hörweite auf und braucht Rat oder Weisung oder Auskunft. Leben ist also im Spiel, und was mir Corinna Virchow erzählt, verblüfft mich. Sex heilt, so behauptet es wenigstens die höfische Literatur des hohen Mittelalters, sagt sie. In Gottfrieds von Strassburg «Tristan» kommt die heilende Wirkung von Sex gleich mehrmals zur Sprache, und zwar ganz unverblümt. Es beginnt mit Tristans Zeugung. Sie vollzieht sich folgendermassen: Tristans Vater Riwalin liegt sterbend auf dem Krankenlager. Seine Verletzung ist eine doppelte: Auf dem Schlachtfeld wurde er schwer verwundet. Noch wunder aber ist sein Herz, das sich nach Blanscheflur sehnt, der Königstochter, die ihn zuerst zurückgewiesen, dann seufzend verabschiedet hatte. Darauf folgte ein Spiel der Blicke, die sie tauschten, so oft sie sich am Hofe sahen. Daraus wurde eine Liebe, die sich in ersten Zeichen ausdrückte und die jetzt als Sehnsucht in Riwalins Herz brannte. Auch Blanscheflur, die Geliebte, sehnt sich nach dem schönen Ritter. Sie will zu dem tödlich verletzten Riwalin, aber sie darf nicht. Da wählt sie eine List. Als Arzt verkleidet erhält sie Zugang zu seiner Kammer. Sie legt sich zu ihm. Wange an Wange liegen sie beide. Fast weicht jetzt ihr das Leben aus dem Körper, sie fällt in eine Ohnmacht. Riwalins Küsse wecken sie. «Wohl hunderttausend Mal küsste er sie», erzählt der mittelalterliche Liebesroman. Mit den Küssen ging die Minne, die Liebe, die Lust, die in ihrem Mund wohnte, auf ihn über und gab ihm neue Kraft: An sich zog er die Geliebte, und nun kam die Liebe zu ihrem Recht: Es dauert nicht lange, «bis ihr beider Wille sich erfüllte», «und daz vil süeze wîp enpfienc/ein kint von sînem lîbe». Sex heilt also, bleibt aber nicht folgenlos: Blanscheflur wird schwanger. Das Glück der Liebenden dauert nicht lange: Riwalin muss in den Kampf gegen seinen Feind Morgan und stirbt. Die hochschwangere Blanscheflur bleibt todtraurig zurück. Sie bringt das gemeinsame Kind zur Welt, eben Tristan, und folgt dann ihrem Geliebten ins Grab. Sex heilt, bilanziert Corinna Virchow, wenigstens in der Literatur, und lacht. Ganz ungefährlich ist dieses Heilmittel dort allerdings nicht. Die Geschichte von Tristan geht weiter und mündet in eine freizügig erzählte, wenngleich hoch problematische Dreiecksliebe zwischen Tristan, Isolde und dem König Marke, für den Tristan Isolde eigentlich als Braut geworben hatte.
Die Kunst des Nichtwissens Nadja studiert Theater- und Literaturwissenschaft. Ihre Masterarbeit schreibt sie zum Thema Autobiografien und Autorenschaft – und da geht es auch darum, wie sich das Geschlecht ins Leben einschreibt. Meine Frage interessiert sie, und sogleich nimmt sie sie auseinander. Von Sex würde sie nicht sprechen, lieber spricht sie von Begehren. Und um dieses Begehren ist es eine Sache, denn das Begehren sucht, nicht nur, aber auch: ein Objekt. Das war es, was die erste feministische Kritik dem männlichen Blick auf die Frau ankreidete: Dass dieser Blick die Frau zum Objekt degradiert. Der jüngere Feminismus hingegen lässt zu, dass es auch ein weibliches Begehren gibt, das sich Objekte schafft. Radikaler aber ist es, ein Begehren in Betracht zu ziehen, das noch nicht in die Bahn des Sexuellen gelenkt ist, findet Nadja. Ein Begehren, das von seinen Objekten noch nichts Festes weiss. Ein Begehren ins Ungewisse, denke ich mir. Neugierde? «Die simple Frage», entgegnet Nadja: «Welche Schuhe ziehe ich heute an. Was esse ich? Was mache ich mit dem Tag, der Zeit?» – Das sind Fragen, in denen sich eine scheinbar unscheinbare Radikalität übt: Tun, was man will. Sich auszudrücken jenseits von einer Norm oder einer vorgegebenen Routine. Wir trinken Latte Macchiato, wir sitzen im Café, wo sich Hipster, Mütter, Kinderwagen und MacBooks treffen. Wir sprechen über Judith Butler, Foucault, Freud, Wilhelm Reich, die wieder und wieder das Sexuelle, die Lust und die Ästhetik frei zu denken versuchten. Wäre also das Heilsame von Sex die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen? «Das ist falsch gefragt», sagt Nadja, «es müsste darum gehen, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu verändern, dass mehr Freiheit denkbar wird», sagt sie. Den unbeschriebenen Raum grösser zu machen, denke ich. Oder, sagt sie: «Sich einfach daneben stellen.» Viel Wissen, um dem Unwissen Raum zu geben, denke ich mir. Und denke, als einer, der männlich aufgewachsen ist und dem der Drang zum Sexuellen gesellschaftlich zugeschrieben wird: Müsste man eigentlich mal versuchen. Nicht genau zu wissen, wo Lust hingeht und wie sich das Sexuelle zeigt. Sich, wenn das ganze Theater der Erregung beginnt, mal neben mich selbst stellen und nur schauen, was wirklich passiert, wenn ich es nicht schon weiss. Das könnte heilsam sein.
Gesehen werden Das dritte Gespräch findet am Küchentisch statt. Paul ist zu Besuch, ein guter Freund. Es ist Abend, draussen ist es dunkel. Wir essen den Kuchen, den er mitgebracht hat, trinken Tee mit Kardamom. Wir sprechen über das Leben, das sich bei ihm im Dazwischen von zwei Beziehungen abspielt. Eine löst sich auf, eine andere ist erst ein Vielleicht, eine Möglichkeit, ein Raum zwischen den Welten. Übergangszeit. Unser Gespräch ist schwebend, wie die Lebenslage, in der sich Paul befindet. Dann stelle ich meine Frage: Kann Sex heilen? Kann Sex heilsam sein? Ich staune, wie klar seine Antwort über den Küchentisch kommt: «Gesehen werden. Gesehen werden als sexuelles Wesen. Das ist berührend, ist schön und es tut gut.» «Wir wollen gesehen werden, und wo das passiert, wo ein offener, wohlmeinender Blick auf uns fällt, ist es gut und heilsam», sagt Paul. Gesehen werden, das heisst: Ich kann aus dem Schatten treten. Ich kann mich zeigen. Was ich bin, was mich beunruhigt, was sich regt: Es darf sein, ich darf sein. Das Monster da unten. Ganz konkret: «Eine Frau, die meinen Penis in der Hand hält und das ok findet, sogar schön und aufregend: Das tut gut», sagt er. Wie gut seine Worte tun. Im sexuellen Akt, sagt er, gibt es für ihn einen Moment des Ankommens. Ein Moment der Trance und Geborgenheit, bevor die Energie sich wieder regt, die Lust wieder aktiv wird. Innehalten, Wange an Wange.
Die Gier nach Leben Wenn ich frage, was an Sex heilsam ist, dann kommt auch die Wunde zum Vorschein, um deren Heilung es gehen könnte. Missdeutet werden, das könnte Pauls Wunde sein. Oder nicht in seiner Grösse, seinem Potential gesehen zu werden. «Das unerkannt Schöne», so sagt es Paul, das ist die Wunde. Ich frage weiter, bin ein paar Tage später unterwegs mit einer Freundin. Es ist spät geworden, nicht für uns, aber für die kleine Stadt, die doch Hauptstadt ist und für das Lokal, in das wir gehen. Der Kellner mit Piercing und schwarz umgebundener Schürze stellt die Stühle hoch. Es war ein guter Abend. «Sex heilt, weil es uns ganz macht. Weil man sich für einen Moment ganz fühlt», sagt die gute Freundin. «Nie sind wir ganz, immer fehlt uns etwas. Aber Sex, für einen kurzen Moment macht uns ganz.» Der Kellner kommt, fährt mit dem Besen um die Tische. Es wäre also möglich. Für den Moment. Wir gehen. Vor dem Restaurant verabschieden wir uns. Auf dem Heimweg allein durch die Nacht spüre ich das Aroma dieser Zuversicht: Ganz werden im Spiel der Körper. Das Dunkel, in dem wir sehen, was uns ganz macht. Ein paar Tage später ist Raphaël zu Besuch. Mein Freund, der so fragil geht und so robust lebt. Beim Essen frage ich ihn. Was ist heilsam am Sex und was wäre die Wunde, die ganz wird? «Die Wunde?», wundert sich Raphaël, «die Wunde ist unsere Sterblichkeit.» Der Tod und das Sterben, das wir nicht akzeptieren können. Daraus regt sich die Lust am Leben, die Gier nach Leben. Wir brauchen Sex und wir haben Sex, weil wir uns gegen unsere Sterblichkeit auflehnen, den Tod, das Ende, das Versiegen unserer Kraft, und das ist alles körperlich. Er lehnt sich zurück, dann regt er sich wieder: «Sex ist es, nicht Liebe, was wir zum Leben brauchen! Die Liebe entsteht mit dem Sex.» Was lebt, das ist der Körper, und was er zum Leben braucht: Das sind anderer Körper. Ein paar Tage später. Wir sind in Frankreich, unten in der grossen Küche sitzen wir, das Feuer brennt im Kamin, wir haben gut gegessen und sitzen zu zehnt, zu zwölft am Tisch. Ich will eigentlich gar nicht, aber ich stelle die Frage und augenblicklich findet sie Anklang. «Sex tut einfach körperlich gut», findet Iris. Ich bin überrascht, wie direkt sie es sagt - aber was sie sagt, passt ganz zu ihr, zu ihrer direkten Art: «Man ist in Bewegung, der ganze Körper kommt in Schwung und das tut gut», sagt sie, «der ganze Apparat, die Sinne werden wach und alles was sonst einrostet. Sex macht lebendig und weckt die Sinne», sagt sie. Katharina sagt, nachdem sie es sich überlegt hat: «Gesehen werden. Wenn jemand mich, meine Lust, mein Begehren sieht und will.» Das ist heilsam, denn die Wunde, das ist unsere Scham, unsere Angst, unser Zögern, uns zu zeigen. Oder der Mangel an Gelegenheit, würde Iris vielleicht sagen. Mir fällt auf, wie wenig sich das Peinliche ins Gespräch über das Sexuelle mischt, wenn man nach dem Heilsamen fragt.
Sexpositiv Kann man einen öffentlichen oder zumindest nicht zweisam-privaten Raum schaffen, in dem Sex möglich ist? Das ist die Frage, die Felix Ruckert seit Jahren beschäftigt. Seine Antwort: Man kann. Es ist möglich. Neun Jahre lang hat er in Berlin die «Schwelle Sieben» geführt, die ein Ort für Workshops, Kurse und Play Partys war. Peitschenyoga, Bondage, SM wurde angeboten – aber nicht nur. Ruckert interessierte sich immer für den offenen Raum, für das Lebendig-Unerwartete. Die Play-Partys schufen diesen Raum. Die «Schwelle 7» gibt es als Ort nicht mehr – die Miete in Berlin wurde unbezahlbar. Jetzt ist Ruckert auf einer Vortragsreise durch WG-Küchen, Gemeinschaftsräume und Yogastudios in Deutschland, Italien und der Schweiz. Er wird eingeladen von Menschen, die sich mit verschiedenen Formen einer Sexualität befassen, die sich jenseits der gängigen Normen artikuliert. Ruckert sitzt im Lotussitz auf der Sitzbank der früheren Kleinstadtvilla. Um ihn herum sitzen wir: Vorwiegend Männer, was erstaunlich ist – normalerweise interessieren sich mehr Frauen als Männer für seine Arbeit. Diese besteht darin, Räume zu schaffen, die sexpositiv sind. Die erste Bedingung ist: Erlaubnis. Sexpositive Räume entstehen, wenn Sex erlaubt ist. In einer Gesellschaft, die das Sexuelle aus dem öffentlichen Raum verbannt – was gar nicht so schlecht ist, findet Ruckert – muss es eben auch ganz ausdrücklich Orte der Erlaubnis geben. Aber damit ist es nicht gemacht. Im Laufe der Jahre hat er ein Set von Tugenden entwickelt, die diesen Raum möglich machen. Präsenz ist die erste Tugend, und über diese gibt es einiges zu sagen. Präsenz heisst, dass wir aus unseren Konstruktionen des Ich herauskommen. Was wir wissen, was wir aus unserer Vergangenheit ableiten, was aus unserer Zukunft für das Jetzt erfolgt – das bestimmt und festigt unser Ich. Ein solides Ich ist gut, um einer geregelten Arbeit nachzugehen und Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen – aber wenn wir in die Präsenz gehen wollen, dann krabbeln wir mit Vorteil aus dem Gehäuse unseres Ichs heraus und kommen ins Jetzt der Sinne, der Empfindungen und der Wahrnehmungen. Damit beginnt alles. Dann entfalten die anderen Tugenden ihre Kraft. Dann kommt es zum magischen Moment, dann fliesst es, dann nimmt das Sexuelle unerwartete Formen und Gestalt an. Ein sexpositiver Raum ist also ein Raum, wo sich Sex jenseits der Konventionen ereignen kann. Ein beliebiger Raum ist es nicht. Ganz im Gegenteil: Begrenzung und Gestaltung sind nötig, um den Innenraum zu schaffen, wo sich Entschiedenheit und Neugierde, Präsenz und Hingabe die Waage halten. Verwegene Verlegenheit Mein letzter Gesprächspartner auf dem Streifzug ist Martin Dean. Er schreibt an einem Buch über Paare – und was sie zusammenhält. Wir essen in der Pizzeria Roma. Kleinbasel. Martin Dean sagt: «Wir nehmen alles zu leicht! Ducken uns weg vor unseren eigenen Emotionen. Liebe! Was ist schon Liebe: Wir finden es nur heraus, wenn wir es leben und wenn wir am Leben dranbleiben. Wir müssen es ernst nehmen, das Leben. Seine Kompliziertheiten». Die Wege und Umwege von dem, was wir einfach so Liebe nennen, darum geht es ihm. Ja. Man muss das Leben sehr ernst nehmen. Aber das Leben passiert nicht im Kopf. Es passiert, wenn wir uns den Dingen und ihrem Gewicht, ihrem Widerstand, und ihrer Kompliziertheit stellen. Allmählich fügt sich aus meinem Streifzug ein Bild zusammen. In den Gesprächen, beim Zuhören, beim Nachfragen hat sich ein Raum geöffnet. Ein sehr schöner Raum, in dem das Sexuelle sich mir ganz neu gezeigt hat. Unerkannt schön. Scheu. Zurückhaltend, nicht so leicht in feste Begriffe zu bringen. Oder es zeigt sich ganz entschieden, ein Lebenswerk: Ganz grosse Partys machen! Ein Lusthaus! Es ist nicht einfach, das, was man macht: Es sind auch die Gedanken, die es begleiten. Freude am Körper, der in die Gänge kommt, Freude an einer Lust, die sich unerwartet artikuliert. Es gibt eine Verbindung mit dem Sexuellen, einen Einbezug ins Leben. Es ist Mai, es wird Juni, der Sommer geht auf, das Leben draussen. Die Person, mit der ich sexuelle Lust teile, hat einen Namen, ein Gesicht, eine Biografie, einen Körper. Das macht es kompliziert. Das macht es einzigartig. Da hilft keine Theorie – aber Zuversicht. Die Idee, dass es gut kommen könnte. Das Gefühl für die Wunde und das Verletzliche. Bäume blühen. Ganze Bäume voller Lindenblüten fallen mit ihrem schweren Duft in den Abend. Es ist schön, alleine zu sein. Es ist schön, das Alleinsein aufzugeben. Es ist ein Wagnis, sich zu zeigen. Es ist schön, von den Momenten zu wissen, in denen sich alles fügt. Es ist gut, dass es Gewohnheiten gibt und Rituale. Es ist gut, dass es das Unvorhergesehene gibt. Das Leben hat ein Aroma, es verführt uns immerzu. Schwer zu sagen, was richtig ist, was falsch. Aus dem Ich herauskrabbeln. Der Streifzug hat sich gelohnt.