«Wir dürfen die Krankheit nicht outsourcen»
Weil Menschen mehr als komplexe Maschinen sind und weil Heilen mehr als Flicken ist, müssten wir in der modernen Medizin vermehrt biopsychosoziale Ansätze fördern. Wie sich hierfür das Gesundheitssystem ändern müsste und wieso wir im Heilungsprozess wieder mehr Selbstverantwortung übernehmen sollten, erklärt uns Psychologie-Professor Christoph Flückiger. »
Interview: Adrian Soller, Fotos: Linda Pollari
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Herr Flückiger, was verstehen wir in unserer Gesellschaft unter «heilen»?
Der Heilsbegriff, wie wir ihn heute noch verstehen, geht unter anderem auf den Philosophen Immanuel Kant zurück. Im 18. Jahrhundert begann sich die moderne Medizin von religiösen Vorstellungen zu entschlacken – und plädierte deshalb dafür, den Körper unabhängig von der Seele zu betrachten. Und das war damals auch wichtig. Denn dieses physiologisch geprägte Bild auf Krankheiten führte zu einer wissenschaftlicheren Herangehensweise in der Medizin. Heute allerdings sollte es eine der Aufgaben der modernen Medizin sein, ebengenau diesen Dualismus von «Geist» und «Körper» wieder etwas aufzulösen. Wollen wir Krankheiten noch besser heilen, bräuchte es vermehrt eine biopsychosoziale Verzahnung im Gesundheitssystem, die den Menschen gleichzeitig als körperliches, seelisches und sozioökonomisch-soziales Wesen versteht. Wieso? Das biomedizinisch-naturwissenschaftliche Modell reicht oft nicht aus, eine Krankheit umfassend zu verstehen und Heilung ganzheitlich zu ermöglichen. Körperliche und seelische Leiden können zusammenhängen, und der einseitig physiologische Blick bedeutet oft eine Reduktion der Krankheit. Auch ist die Erwartung, bei einem Beinbruch zum Arzt zu gehen, um sich von ihm «flicken» zu lassen, teilweise zu linear und zu passiv. Denn die Ärztin allein heilt nicht. So wäre oftmals auch eine Verhaltensänderung des Patienten respektive der Patientin erwünscht; beispielsweise, wenn ein Beinbruch durch starkes Risikoverhalten in den Bergen fahrlässig provoziert wurde. Das heisst, wir Patientinnen und Patienten übernehmen zu wenig Verantwortung für unsere eigene Heilung? Ja, ich denke, das ist in der Tat eine grosse Herausforderung in unserer modernen pluralistischen Gesellschaft. Die Patientin respektive der Patient ist kaum bereit, sein Verhalten selbstkritisch zu überdenken. Wir wollen die Krankheit möglichst «outsourcen». Ich kann das gut verstehen, das ist menschlich. Aber wie gesagt: Der Arzt alleine heilt nicht. Auch wir müssten oftmals etwas dazu beitragen und hierfür unser Verhalten anpassen. Selbstverständlich geschehen Unfälle zumeist durch eine Kombination unglücklicher, unvorhergesehener Umstände. Sie können jedoch durchaus auch risikobereit in Kauf genommen werden. Und das ist sozusagen das «Rega-Syndrom» der «Helikopter-Kinder»: Aufs Ganze gehen – und gleichzeitig das Recht einfordern, dass immer jemand da sein wird, der rettet und tröstet. Dieser einseitig-physiologische Blick führt wohl auch dazu, dass die Medizin allzu oft auf Symptombekämpfung setzt. Das stimmt teilweise, je nach Krankheitsbild. Bei meinem Beispiel vom Beinbruch würde ich das nicht unbedingt behaupten wollen, bei psychischen Störungen schon eher. Sehr oft sind, wie schon gesagt, das Physische und das Psychische sehr eng miteinander verwoben. Rückenschmerzen sind beispielsweise meistens hoch komplex und schwer in körperliche Befunde zu fassen. Das Leiden allein als biologisch-bedingt anzusehen, greift dann oftmals zu kurz. Leider ist sogar bei psychischen Störungen ein Trend zur Biologisierung zu beobachten. Psychologische Leiden brauchen grundsätzlich unter anderem auch psychologische Behandlung. Und gerade bei den Volkskrankheiten «Angst» oder «Depression» gibt es mittlerweile hunderte von Studien, die beeindruckend darstellen, dass Psychotherapie durch hervorragend geschulte Profis wirkt. Zu oft werden jedoch Menschen mit Angststörungen in unserem Gesundheitssystem mit Drogen behandelt, die äusserst schnell abhängig machen. Es ist oftmals schlicht verantwortungslos, wie schnell beispielsweise Benzodiazepine von den Patienten verlangt und von den Ärzten verschrieben werden. Als Leiter der Spezialpraxis für generalisierte Angststörungen und Angstforscher kenne ich diese Schwierigkeit sowohl aus meiner Praxis wie auch aus der Forschung leider nur zu gut. Ein Geistheiler sagte mir in einem Interview kürzlich, dass jede körperliche Krankheit einen seelischen Ursprung habe. Was halten Sie davon? Das ist eine viel zu starke Vereinfachung. Das biopsychosoziale Rahmenmodell geht davon aus, dass körperliche, psychische und soziale Faktoren je nach Krankheits- und Störungsbild unterschiedlich stark gewichtet werden müssen. Ich halte es beispielsweise für zynisch, einem Krebspatienten zu sagen, dass seine Krankheit seelischen Ursprungs sei. Bei einigen Arten der Zuckerkrankheit glaubte man bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts noch, dass es sich um eine rein psychische Störung handeln würde. Oftmals sind wissenschaftlich unreflektierte Heilmethoden wie Geistheilung ethisch fragwürdig, da sie suggestive Herangehensweisen oder zu schnelle Heilsversprechungen anbieten. An den Geistheilern und an zu biologisch ausgerichteten Gesundheitssystemen gleichermassen kritisieren würde ich allerdings, dass beide Herangehensweisen die Selbstverantwortung des Patienten respektive der Patientin zu wenig miteinbeziehen. Zu biologisch orientierte Mediziner wie auch Heiler bieten oft unreflektiert zu schnelle oder zu kostenintensive Lösungen an, insbesondere wenn die Folgekosten mitberücksichtigt werden. Allerdings, und das muss man auch sagen, kann alleine schon die Hoffnung auf Heilung einen positiven Effekt haben. Inwiefern? Zu diesem Thema gibt es ein schönes Studienbeispiel, die sogenannte GERAC-Studie. Die deutsche Studie verglich an über 3500 Patienten die Wirksamkeit einer korrekt durchgeführten Akupunktur mit dem Behandlungserfolg einer falsch durchgeführten Akupunktur und dem Erfolg einer konventionellen medikamentösen Therapie. Das Ergebnis: Die Migräne-, Kreuzschmerz-, Gonarthrose- oder Spannungskopfschmerzen-Patienten sprachen am besten auf die Akupunktur an. Und zwar auch auf die falsch durchgeführte Behandlungsart, bei der die Therapeutinnen und Therapeuten mit zu wenig tiefen Nadelstichen an nicht-chinesischen Akupunkturpunkten arbeiteten. Selbst die falsch durchgeführte Behandlung hatte also einen hohen Effekt. Das wahrscheinlich, weil der Therapeut respektive die Therapeutin sich des Leidens annahm, nicht nur Medikamente verschrieb. Das wiederum dürfte einen positiven Einfluss auf den Erwartungseffekt gehabt haben. Und wer von einer Heilung ausgeht, hat leicht erhöhte Chancen auf Heilung, sozusagen ein positiver «Aufschaukelungsprozess» von ressourcenorientierten Erwartungen und eigener Verhaltensmodifikation. Auch ist das Vertrauen in Arbeitsallianz für längerfristige Verhaltensänderung und damit verbundene Heilung relevant. Diese Faktoren spielen eine gewichtige Rolle im biopsychosozialen Rahmenmodell und sind in der Forschung kaum mehr wegzudenken. Interessant, dass diese Faktoren nun mehr mit nicht-westlicher Akupunktur in Verbindung gebracht werden. Vielleicht ist es für Menschen möglicherweise etwas einfacher, dort Hoffnung zu schöpfen, wo man die Dinge auch nicht so gut kennt, nicht so genau benennt. Was bietet da die Zukunft moderner, biopsychosozialer Gesundheitssysteme? Bei gewissen Krankheitsbildern ist das Arbeiten in interdisziplinären Teams besonders wichtig und wird zunehmend wichtiger. Die Spezialisierung von akademisch hervorragend geschultem «Gesundheitspersonal» schreitet voran. Neben den klassischen akademischen Medizin-Professionen (Biologen, Pharmakologen, Psychologen, Mediziner) werden weitere wissenschaftlich geschulte Berufsbilder wie Pflegende, Sozialarbeiter und Physiotherapeuten zunehmend eng eingebunden werden. Im Bereich psychischer Störungen arbeiten Hausärzte, Psychiater und Psychologen in vielen Europäischen Ländern schon jetzt sehr eng zusammen. Und das nicht unter der Hauptverantwortung eines biologisch ausgerichteten Mediziners, sondern auf interdisziplinärer, akademischer Augenhöhe. In der Schweiz gibt es zwar schon viele gute psychologische Angebote von hervorragend geschulten inländischen Psychologen, aber die Angebote sind oft zu wenig niederschwellig beziehungsweise werden nicht ohne Wenn-Und-Aber von der Grundversicherung übernommen. Die Schweiz ist eines der Länder, in denen die Psychotherapie nicht vollumfänglich von der Grundversicherung abgedeckt ist. Und das ist fatal. So müssen aktuell vom Ausland Psychiater rekrutiert werden, die teilweise die schweizerischen Gegebenheiten nur unzureichend kennen. All dies, obschon eigentlich genügend eidgenössisch anerkannte, inländische Psychologen vorhanden wären, die professionelle Psychotherapie anbieten können. Doch erst vor kurzem stoppte der Bundesrat ein Projekt mit dem Ziel, dass Psychologinnen und Psychologen endlich über die Grundversicherung abrechnen können. Falls dieser Prozess effektiv gestoppt würde, so würde uns dies im internationalen Vergleich um mindestens dreissig Jahre zurückwerfen. Der mehrheitlich bürgerliche Bundesrat argumentierte mit den Kosten… Ja, insbesondere mit der Mengenausweitung; aber das ist in diesem Zusammenhang ein schlechtes Argument. Einerseits, weil Psychologen schon jetzt in der Grundversicherung abrechnen können, jedoch unter rechtlich höchst fragwürdigen Rahmenbedingungen. Andererseits, und dass ist viel zentraler, warten wir in der Schweiz oft zu lange mit der Psychotherapie. Durch die fehlende niedrigschwellige Behandlung der psychischen Störungen kommt es dann oft zu einer Chronifizierung. Erkennen wir beispielsweise eine Angststörung früh genug, erzielen wir sehr gute Behandlungserfolge. Achtzig Prozent der Patientinnen und Patienten verzeichnen in zehn bis dreissig Sitzungen rasante Verbesserungen. Doch wenn verhaltens- und einsichtsorientierte Interventionen zu spät einsetzen, wird es oftmals sehr komplex – und leider auch sehr teuer. Stationäre Behandlungen und Arbeitsausfälle kumulieren sich über die Jahre und kosten die Wirtschaft und die Gesellschaft ein Vielfaches dessen, was für eine niedrigschwellige, moderne psychotherapeutische Betreuung ausgegeben werden müsste. Gerade auf dem Land und für Kinder gibt es viel zu wenige niederschwellige psychologische Angebote. Und ganz grundsätzlich – erlauben Sie mir dieses politische Statement – fehlt im schweizerischen Gesundheitswesen nicht unbedingt das Geld. Im internationalen Vergleich sind wir sehr gut finanziert, teilweise möglicherweise sogar zu gut, wenn man bedenkt, dass ein Klinikleiter bis zu 2.5 Millionen verdient und das noch grösstenteils finanziert durch die Grundversicherung. Das Problem ist vielmehr, das die einzelnen staatlichen Finanzierungstöpfe nicht oder schlecht koordiniert sind. Wir haben da eine Art Zwittermodell, einen pseudomarktwirtschaftlichen Spitzenmedizin-Ansatz, der sich aushebelt. Notleidende sind dabei die Patienten, die durch das System der Töpfe fallen, und dies sind insbesondere Patienten mit schweren, aber auch leichteren psychischen Störungen, die oft falsch und teuer medizinisch behandelt werden, obschon eine niedrigschwellige psychologische Intervention angebracht wäre. Können Sie das erklären? Bei komplexen Patienten kommt oft ein Schwall von Schwierigkeiten auf den Therapeuten oder die Therapeutin zu. Da gab es beispielsweise einen Missbrauch in der Kindheit, körperlichen Schmerz und obendrauf kommt dann vielleicht noch ein Schleudertrauma oder dergleichen. Adäquat wäre auch in einem solchen Fall eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Medizinern, Psychotherapeuten, Sozialarbeitern und Pflegenden. Aber oft fallen gerade diese komplexen Patientinnen und Patienten durch unser soziales Netz, weil nicht eindeutig klar ist, ob nun die Invaliden-, die Kranken-, die Unfallversicherung oder gar das Sozialamt die Kosten decken muss. Dieses Topfspiel ist grundsätzlich kostenintensiv und gleichzeitig ineffizient. Christoph Flückiger ist Professor für Allgemeine Interventionspsychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich und Leiter der Spezialpraxis für generalisierte Angststörungen. Er ist Angstforscher, Verfasser von über hundert wissenschaftlichen Arbeiten und Mitherausgeber verschiedener wissenschaftlicher Zeitschriften (www.sorgenkette.ch). Nicht wenige seiner Patientinnen und Patienten liessen sich medizinisch behandeln, obwohl sie eigentlich eine psychologische Behandlung gebraucht hätten. Sein neustes Buch zum Thema: «Die Psychotherapie-Debatte: Was Psychotherapie wirksam macht.» |