Das ÄLTESTE Kind als Erzieher
Bei den Tscherkessen übernimmt das älteste Kind die Erziehung ihrer Geschwister. In Korea und China kennen die Menschen rund 200 Familienbezeichnungen. Und in der Türkei gibt es ein eigenes Wort für «älterer Bruder». Ein Gespräch mit dem Ethnologen Wulf Köpke.»
Interview: Frank Keil, Bild: Andreas Hornoff
|
ERNST: Lassen Sie uns einfach hinein springen in die Welt der Geschwister und beim ältesten Geschwisterkind beginnen: Warum hat besonders der 'große Bruder' oft eine so besondere Stellung?
Wulf Köpke: Das erklärt sich schlicht und einfach durch die Realität: Beim ersten Kind sind die Eltern immer viel vorsichtiger. Das älteste Kind übernimmt aber auch stets sehr schnell Verantwortung, einfach weil es das Ältere ist. Und es ist naturgegeben, dass das älteste Kind die anderen Kind beschützt. In unserer Kultur erlebt es das älteste Kind ja oft als Enttäuschung, dass die zweiten und dritten Geschwister alles viel schneller dürfen. Insofern hat der, der früh Verantwortung übernehmen muss, etwas mehr Rechte, was die anderen fuchst. In anderen Kulturen, gerade im mittleren und nahen Orient, ist es so, dass der älteste Sohn tatsächlich Privilegien hat. Aber er hat auch entsprechend viele Pflichten, er vertritt eben den Vater. Können Sie ein Beispiel nennen? In der Türkei etwa dürfen auf den Dörfern die jüngeren Kinder nicht in Gegenwart des ältesten Bruders rauchen, wenn der Vater nicht da ist. Der vertritt dann den Vater ganz massiv. Geschwisterbeziehungen spielen immer eine Rolle? Geschwisterbeziehungen sind auf der ganzen Welt wichtig. Ich wüsste keine Gesellschaft, bei der das anders ist. Wobei das, was 'Geschwister' ist, sehr unterschiedlich aufgefasst wird. Wenn sie etwa die muslimische Vielehe in Afrika nehmen, wird es schnell anders, als wir das kennen: Ich habe einen Bekannten im Senegal, der hat dreissig Geschwister. Die sind natürlich nicht alle von der selben Mutter. Was wir also bei uns als Cousins und Cousinen bezeichnen würden, sind bei ihm klassifikatorisch alles Brüder und Schwestern. So wie die Mütter alle 'Mutter' sind. Es gibt zwar die eigene Mutter, aber ansonsten ist das alles Mama. Gibt es dann trotzdem ein besonderes Verhältnis zur leiblichen Mutter und den leiblichen Geschwistern? Das habe ich ihn auch gefragt! Und ich habe nie eine Antwort darauf bekommen. Es ist eine Frage, die er nicht verstanden hat. Was nicht heißt, dass es diese Beziehungen nicht gibt. Man wohnt in Kleinfamilien zusammen, man wohnt mit der eigenen Mutter zusammen und nicht in einem kollektiven Haus, auch wenn es eine große Familie ist, also muss es besondere Beziehungen geben, denn man kann schon unterscheiden: das sind die Kinder von der Mutter und das sind die Kinder von einer anderen Mutter. Aber das wird so nicht nach außen geäußert. Ist es ebenso universell, dass Geschwisterbeziehungen ein Leben lang halten? Oder gibt es Kulturen, wo sich diese irgendwann auflösen? So weit ich das überblicken kann, halten Geschwisterbeziehungen ein Leben lang, selbst in Auswandererkulturen. Wobei unser mitteleuropäisches Familiensystem eine gewisse Ausnahme darstellt: es ist eines der einfachsten auf der Welt. Wir Ethnologen nennen es 'Eskimo-zwei', und es gibt fast nichts Primitiveres. Eskimo-zwei? Die Eskimo, die als ethnische Gruppe natürlich sehr viel kleiner sind, haben auch so ein einfaches Familienmodell. Wir haben bei uns ja nicht allzu viele klassifikatorische Begriffe: Wir haben die Eltern, die Schwester, den Bruder. Wir haben Onkel, Tante, Cousin und Kusine – und unterteilen oft schon nicht mehr in väterlicherseits und in mütterlicherseits. Und wir haben die Großeltern, die Enkel, aber das war es dann schon. Manchmal benennen wir noch den Schwippschwager. Aber bereits in Südeuropa ist das Bezugssystem ein klein wenig größer, und wenn Sie auf den Balkan kommen, ist das Familiensystem schon viel komplexer. Und wenn Sie dann in die Türkei gehen, stoßen Sie auf 76 verschiedene Familienbezeichnungen! Und wenn Sie noch weiter nach Osten gehen, nach Korea, nach China, dann haben Sie über 200 Familienbezeichnungen. Was genau wird benannt? Wie wird es differenziert? In Korea gibt es 'großer Bruder' und es gibt 'große Schwester', klar. Aber dann gibt es eine Bezeichnung, wie der große Bruder die große Schwester bezeichnet oder 'große Schwester aus der Sicht der kleinen Schwester'. Von den Großen gibt es dann Bezeichnungen für alles, was kleiner, also jünger ist. Das können sie auch schon in der Türkei feststellen – wir merken das als Besucher in der Regel nicht. Aber wenn man damit vertraut ist, wüsste man im Nu, wie alt jemand ist und ob der älter ist oder jünger. Das geht fast lautlos und sehr schnell. Was hat diese Differenzierung im Alltag für Auswirkungen? Ein Beispiel: Ich habe in Korea in einem Museum gearbeitet, und dessen Leiter hatte im Nu herausgefunden, dass er ein halbes Jahr älter ist. Und er sagte: "Ich bin dein älterer Bruder." Was bestimmte Implikationen hat! Etwa: Ich muss ihm gehorchen. Aber auch: Er muss für mich sorgen. Ich habe das – da ich es aus der Türkei kenne – auch angenommen, und dann fingen die anderen, umstehenden Koreaner an, mich zu hänseln, weil ich ja der jüngere Bruder wäre, und auf dem kann man herumtrampeln. Der wird dann zu Botendiensten und ähnlichem abgestellt. Dann fiel mir – ich kann nicht viel koreanisch, aber ein wenig doch – das Wort für 'jüngere Brüder' beziehungsweise 'jüngere Geschwister' ein: das hat so einen Anklang von 'Kroppzeug', von 'Pack' also, ist also sehr abwertend gemeint. Und ich sagte auf Englisch: "You all shut up – you are 'Dongseng'". Das war von mir eher als Witz gemeint, ihr Verhalten ging mir ein wenig auf den Wecker, aber mehr war das nicht. Doch als ich das sagte, hatte das einen verblüffenden Effekt: Die waren sowas von betreten! Denn das war genau das, was ein älterer Bruder zu ihnen sagen würde. Die waren sofort still, haben sich bei mir entschuldigt – während der 'ältere Bruder' strahlte. Ich hatte aus seiner Sicht genau das richtige gemacht – und aus der Sicht der Jüngeren auch. Gibt es andere, prägnante Modelle vom ältesten Bruder? Ich habe viel mit Tscherkessen zu tun gehabt, einer Ethnie beheimatet im Kaukasus, wobei viele Tscherkessen heute in der Türkei leben – aus Gründen, die mit Kriegen und Vertreibungen zu tun haben. Ich habe mal einen Tscherkessen gefragt, wie er erzogen worden ist, weil die Tscherkessen berühmt sind für ihre gute Erziehung und ihre guten Manieren. Und er sagte: "Wir sind nicht erzogen worden. Die Eltern haben überhaupt keine Rolle gespielt. Das ist immer der älteste Bruder gewesen." Der älteste Bruder, ist auch derjenige, der bei den Älteren, also den Erwachsenen zuhören darf – aber er darf auch nur zuhören. Das heißt: Erziehung geht so um fünf Ecken. Der älteste Sohn kopiert, was ihm seine Eltern mitgegeben haben und seine Onkels, besonders der Onkel mütterlicherseits. Das gibt er an den nächstälteren weiter und der wieder an den nächstfolgenden. Erziehung geht also nur durch Kopieren: Das tut man – das tut man nicht. Das macht man – das lässt man besser bleiben. Und das funktioniert bemerkenswert gut! Da erziehen sich die Kinder untereinander, und da spielen die Geschwisterbeziehungen natürlich eine große Rolle. Man entkommt denen sein Leben lang nicht. Es hat mich umgekehrt in Norddeutschland ein paar mal sehr schockiert, als ich erlebt habe, dass Geschwister überhaupt nicht mehr miteinander redeten. Wobei man nun auch sagen kann: Auch die entkommen einander nicht, nur eben in der Negation. Das Modell 'verfeindete Geschwister' ... Ich kenne verfeindete Geschwister am ehesten aus Mitteleuropa. Aber auch beispielsweise bei den Kurden: Die haben eine Art Sprichwort, das geht etwa so: 'Ich gegen meine Brüder. Meine Brüder und ich gegen unsere Vettern. Meine Brüder, meine Vettern und ich gegen den Rest der Familie. Und die Familie gegen die andere Familie.' Da führt dann zu sehr großen Aufsplitterungen, und wer dann am Ende mit wem wann koaliert und wer nicht, das durchschaut man als Außenstehender nicht. Was die Kurden auch politisch sehr hindert. Bei uns wächst man zusammen auf, dann gehen die Geschwister ihrer Wege – und erst wenn die Eltern krank und pflegebedürftig werden, rücken die Geschwister kurzzeitig wieder zusammen. Zwischenzeitlich gibt es fast eine Art Art Geschwisterloch, oder? Das ist in der Ausprägung sehr unterschiedlich. Was ich bemerke: Die protestantisch geprägten Regionen in Deutschland neigen sehr zur Individualisierung; bei den katholisch geprägten ist der Familienzusammenhalt noch spürbar höher. Aber auch das löst sich auf, je mehr die Bindungskraft der Religion schwindet. Die Distanzen zwischen erwachsenen Geschwistern fallen mir hier in Norddeutschland sehr auf. Die kenne ich aus dem Rheinland, wo ich herkomme, so intensiv nicht. Wobei man sehen muss: Es werden immer weniger Geschwister. Die Familie meiner Frau ist aus Schlesien, da hatte die Großmutter dreizehn Geschwister, ihre Mutter hatte noch elf Geschwister. Meine Frau hatte dann drei Geschwister – und wir haben jetzt zwei Kinder. Das ist innerhalb von nur drei Generationen eine unglaubliche Schrumpfung. Und die Erwartungen steigen für den Einzelnen, und die Einzelkinder müssen alles allein tragen. Wo wir schon im Norden sind: Wie ist es in nordeuropäischen Gesellschaften? Oh, das weiß ich nicht. Was daran liegt, dass sie über ihre Geschwister gar nicht reden; ich habe es dort jedenfalls nie erlebt, dass man von sich aus von seiner Familie oder seinen Geschwistern erzählte. Da muss es eine noch stärkere Vereinzelung geben, während man in Italien gleich die ganze Familie kennen lernt. Ich kenne es von Freunden in Süditalien, ein Schwung Brüder und eine Schwester, die das jüngste Kind ist und die sehr behütet aufwuchs. Die Brüder sind alle in unterschiedlichen Parteien, quer durch das politische Spektrum, damit alles abgedeckt wird. Und die Brüder sind alle verheiratet, die Schwester noch nicht, aber es kommen alle einmal am Tag zu Mama und werden bekocht. Das setzt sich fort, bis die Eltern gestorben sind. Wie ist es generell mit dem Verhältnis zwischen Brüdern und Schwestern? Sehr unterschiedlich. Wir kennen etwa aus vielen muslimischen Ländern, dass die Schwestern im Gegensatz zum Bruder dort sehr stark sind – die werden natürlich auf eine bestimmte Rolle vorbereitet, aus der sie dann auch schlecht herauskommen. So sind die muslimischen Gesellschaften rings um dem indischen Ozean sehr frauenzentriert. Sie sind matrilokal: Die Männer, alle Händler, wohnen bei der Mutter ihrer Kinder. Die Männer kommen für eine Monsunperiode hinzu und dann sind sie wieder weg. Da haben die Frauen natürlich absolut die Oberhand, die verwalten das Vermögen, da ist dann auch die Stellung der Schwester gegenüber dem Bruder eine ganz andere, als wir das kennen. Gehen wir in einen anderen Teil der Welt: Die Warao-Indianer in Venezuela sind matrilokal und matrilinear, das heißt die Abstammungslinie ist bei der Mutter, und man wohnt als Mann bei der Mutter. Die jungen Männer werden irgendwann von ihrer Familie rausgeschmissen und müssen sich woanders eine Frau suchen, da werden sie quasi aufgenommen – die sind also per se heimatlos. Die haben bei den Clans der Frauen nichts zu suchen, die Frauen sind unheimlich stark, und die Männer haben relativ wenig zu sagen. Es gibt allerdings eine Art Macht-Gleichgewicht: Die Männer haben die Vertretung nach außen, aber alles, was drinnen ist, machen die Frauen. Das findet sich etwas beim Essen wieder: Essen besteht immer aus zwei Komponenten, aus Fisch und einer Sättigungsbeilage. Der Fisch kommt von den Männern und die Sättigungsbeilage von den Frauen. Wenn eine der beiden Komponenten fehlt, kann man noch so viel essen – man wird nicht satt. Weil kulturell definiert ist, dass es beide Komponenten geben muss. Interessant ist, dass die Frauen auch das Essen austeilen, das der Mann geliefert hat. Der Mann bekommt auch nicht unbedingt etwas zu essen, wenn er sich nicht gut benommen hat. Die Frau ist die, die das Essen austeilt und die die Portionen aufteilt. Es ist wichtig, ein Haus, eine Tochter und einen Garten zu haben – dann ist man als Frau erfolgreich. Übrigens: Wenn die Ehefrau stirbt und der Mann hat keine Tochter, dann muss er gehen. Und wenn er fünfzig Jahre bei der Familie seiner Frau gelebt hat – er hat dann nichts mehr dort zu suchen! Dann muss er zurück zu seiner Familie, aber da zählt nicht die Geschwisterbeziehung, sondern es ist einfach Familie. Ich habe nicht beobachten können, dass eine Schwester in so einem Fall sagt: Ich schicke meinem Bruder wenigstens einen Sack Reis. Also komplett anders als bei uns ... Wir sind in unserer Wahrnehmung sehr geprägt von unserer eigenen Gesellschaft und verwandten Gesellschaften, wo wir meinen, dass wir sie verstanden hätten. Aber es gibt eben ganz andere Gesellschaftsmodelle, wo es nur sehr stabile Beziehungen zwischen den Frauen gibt, also auch zwischen den Schwestern, und wo man nicht genau erkennen kann, wie ist das mit den Brüdern. In Migrationsgesellschaften wie den Portugiesen gibt es einen großen Zusammenhalt, aber dann mehr unter den Brüdern, weil die Schwestern meist in die andere Familie übergehen. Interessant ist hier, dass es nicht immer der älteste Bruder ist, der den Takt angibt, sondern der aktivste Bruder; der Bruder, der am erfolgreichsten ist, am dynamischsten, der am besten in einer neuen Welt Fuß gefasst hat und dem man vielleicht hinterher gezogen ist. Und der kann aus der Mitte der Geschwistergruppe kommen, während bei uns die mittleren Geschwister oft als die Zukurzgekommenen gelten, eingeklemmt zwischen dem oder der Ersten und dem Nesthäkchen. Wie wichtig sind scheinbar private Familien- und Geschwistergeschichten? Die sind gerade bei uns nicht zu unterschätzen: In meiner Familie etwa ist man, sowohl mütterlicher- wie väterlicherseits, sehr stolz darauf, dass sich wirklich noch nie jemand um ein Erbe gestritten hat. Meine Tante, sie ist 97 Jahre alt, kann sich an nichts dergleichen erinnern. Und dann gibt es Familien, wo sich die Geschwister bis zum letzten um ein Erbe fetzen. Wir finden beides: unglaubliche Geschwisterliebe und Zuneigung und tiefste Zerwürfnisse. Und letzteres kann man bedauern oder als gegeben akzeptieren. Es gibt ein jüdisches Sprichwort, das sagt: "Familie haben ist gut, nur bös' muss man mit ihr sein." Geschwister sind in vielen Kulturen eine Art Versicherung. Geschwister sind die, die man in der Rückhand hat. Und am Ende landet man immer bei der Familie? Ich weiß gar nicht, wie inweit es spezielle Geschwisterbeziehungen sind, die wirken oder ob einen nicht Familie an sich prägt. Bei uns ist das differenziert: Wir haben Familie und wir haben Geschwister. In vielen anderen Gesellschaften fließt beides sehr ineinander und ist oft gar nicht zu trennen. Wulf-Dietrich Köpke (Jahrgang 1952) studierte von Anfang der Siebziger bis Mitte der Achtziger Völkerkunde, vergleichende Musikwissenschaften und Südosteuropäische Geschichte an der FU Berlin. Danach arbeitete er als freier Mitarbeiter am Berliner Museum für Völkerkunde, deren Europa-Abteilung er im Jahr 1986 übernahm. In den Jahren 1992 bis 2016 war er Direktor des Museums für Völkerkunde in Hamburg. Seit dem Frühjahr 2016 ist er Leiter des Instituts für Transkulturelle Kompetenz an der Akademie der Polizei Hamburg. Zahlreiche Feldforschungen führte er in Portugal, Spanien, der Türkei, Indien, Venezuela und Kabardino-Balkarien (Kaukasus) durch. Seit den frühen Neunzigern forscht er über die Kulturen verschiedener Migrantengruppen in Norddeutschland. Er spricht verschiedene Sprachen, darunter Portugiesisch, Türkisch, Russisch und Niederländisch. |