GEschwister
geschichten
In den Strassen Burgdorfs haben wir mit Passantinnen und Passanten über ihre Brüder und Schwester gesprochen. Ein buntes Mosaik an Erinnerungen.»
Texte: Adrian Soller, Ivo Knill und Eva Schwegler
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Das grosse Fest (2003)
Die Erzählerin erinnert sich an den grossen Geburtstag ihre Schwester Helen hatte Trisomie 21. 1953 kam sie zur Welt und sie wurde sehr alt: 2012 ist sie gestorben. Sie hatte ein grosses Leben mit viel Struktur und viel Herz. Sie wohnte immer bei den Eltern und auch alle, ausser einem Geschwister, lebten mit ihren Familien im Dorf. Helen machte die Runde und kaufte ein für alle. Sie hatte ein Portemonnaie mit verschiedenen Fächern, aus denen sie die Einkaufslisten und das Geld zog. Auch auf die Bank ging sie und holte das Geld für das Geschäft und brachte es sicher nachhause. Die Einkäufe kamen in einen grossen Leiterwagen, auf dem bald auch unsere Kinder mitfahren durften. Manchmal wurde sie zum Essen eingeladen, aber sie blieb nur kurz, denn am Nachmittag wollte sie wieder zuhause sein, dann schaute sie fern. Dann tischte sie für alle und räumte und schaffte. Und dann gab es das grosse Fest. Ihr Fünfzigster! Helen lud ein, wen sie kannte, und das waren viele. Sie war fünf Jahre lang in die erste Klasse gegangen, ein paar Stunden pro Woche, aber immerhin und so lange es vom Alter her noch ging. Und dann besuchte sie auch noch das Muki-Turnen und zwar zwanzig Jahre lang und war für die älteren Kinder zuständig, die mitturnten. Und dann kam das ganze Dorf zum Fest, ihr Fünfzigster! Die Musik spielte auf und Helene hielt eine Rede und dankte allen: So gross war ihr Leben und sie nahm es genau mit dem Rhythmus und den Arbeiten, die sie erledigte, und wenn einer eine Sache falsch in die Hand nahm, dann fiel ihr das auf – und sie sagte es auch. Protokolliert von Ivo Knill Die Seeräuber (1989) Der 32jährige Erzähler erinnert sich an seinen zwei Jahre jüngeren Bruder. Der Wind wehte uns um die Ohren. Wasser klatsche uns ins Gesicht. Haushohe Wellen brachen über unseren Köpfen zusammen. Wenigstens in unserer Fantasie. Denn während wir auf das Essen warten mussten, das Mutter für uns jeweils so liebevoll zubereitete, zogen wir die Vorratskiste hinter dem Kühlschrank hervor, stiegen hinein – und spielten: Seeräuber. Wir hatten das grösste Schiff, das je auf den Weltmeeren unterwegs war. Wir gewannen jede Schlacht. Wir schlugen jeden Drachen in die Flucht. Wir waren die gefährlichsten Piraten aller Zeiten. Wir… – Daaani, Roooger kommt jetzt, essen ist fertig. Protokolliert von Adrian Soller «Raffi, hör auf!» (1989) Der 38-jährige Raffi erinnert sich an seine drei Jahre ältere Schwester Meine Schwester schaffte es meisterhaft, mich zu provozieren und mir ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Wir assen jeweils zu dritt an der Bartheke neben der Küche Zmittag. An jenem Tag sassen meine Schwester und ich nach dem Essen noch an der Theke. Mein Vater hatte wie üblich gekocht und war bald nach dem Essen mit einem Espresso in sein Büro verschwunden. Meine Schwester begann mit den Füssen gegen den Unterbau der Bar zu treten. Ich weiss nicht mehr, aus welchem Material die Bar war, auf jeden Fall knallte es laut, wenn man dagegentrat. Sie rief „Raffi, hör auf!“ und schaute mich dabei grinsend an. Noch einmal, lauter: „Raffi, hör auf!“ Ihr Plan ging auf. Denn jetzt tönte es mit tieferer Stimme aus Vaters Büro im unteren Stock: „Raffi, hör auf!“. Zum Mittagstisch kommt mir noch eine andere Erinnerung. Meine Schwester hatte mich wieder einmal zur Weissglut getrieben, ich weiss nicht mehr wie. Ohne zu überlegen nahm ich ein Krokettli vom Teller und drückte es ihr ins Gesicht. An ihrer Reaktion erkannte ich, dass es sehr heiss gewesen sein muss. Ich kann mich noch genau an die Bewegung erinnern, ich nehme mit der linken Hand das Krokettli und drücke es ihr neben der Nase auf die Haut. Das ist aber nur die eine Seite. Oft war ich auch froh, meine Schwester zu haben. Einmal nahm mir ein Freund alle meine Tschutti-Bildli weg. Als meine Schwester das hörte, ging sie weg und kam eine Viertelstunde später mit den Bildli wieder nach Hause. Ich hatte Respekt vor Luc, er war drei Jahre älter. Und sie, sie hat einfach an seiner Tür geklingelt. Protokolliert von Eva Schwegler So typisch (1991) Die 31jährige Erzählerin erinnert sich an ihren Zwillingsbruder. Immer wieder dasselbe: Stand ich da, kam Reto von hinten an, jauchzte, umklammerte mich mit seinen kräftigen Armen, um sich dann mit seinem ganzen Körpergewicht an mich dranzuhängen. Und ich? Ich liess ihn gewähren. Typisch mein Zwillingsbruder, dachte ich mir. Gewicht abgeben, das konnte er gut. Und ich habe ihn getragen. Meistens war das so. Ging es ihm schlecht, war ich es, der ihn tröstete. Konnte er nicht einschlafen, war ich es, der ihm eine Geschichte vorlas. Hatte er in der Schule Probleme, war ich es, die sie sich anhörte. Ich war die Vernünftigere, schon von Anfang an. Ich war aber auch die, die weniger Platz für sich in Anspruch genommen hat. Schliefen wir im selben Bett, breitete er sich aus. Und ich bewegte mich, eingeklemmt im kleinsten «Eckli», die ganze Nacht über kaum. Schon im Mutterbauch liess mir Reto kaum Platz. Die Ärzte mussten uns notfallmässig per Kaiserschnitt rausholen. Typisch mein Zwillingsbruder. Protokolliert von Adrian Soller Eins, zwei: Feuer (1945) Der 80-jährige Erzähler erinnert sich an seinen drei Jahre älteren Bruder. Eins, zwei: Feuer. Eins, zwei: Feuer. In unserer Freizeit spielten wir oft Krieg gegen die Deutschen. Mein Bruder und ich wuchsen während dem Zweiten Weltkrieg in New Plymouth auf, einer Stadt auf der Nordinsel Neuseelands. Im Garten hinter dem Haus schossen wir mit einer richtigen Waffe auf selbstgemachte Ziele. Wenn wir uns heute sehen, dann sprechen wir manchmal darüber, wie das damals – eins, zwei: Feuer – war, mit unserem Krieg, unserem früh verstorbenen Vater und uns. Und mittlerweile gibt es Terence auch zu: Ich war der bessere Schütze. Protokolliert von Adrian Soller Am Wickeltisch (1964) Der 53-jährige Erzähler erinnert sich an seine 11 Jahre ältere Schwester Ich war ein Nachzügler, und für meine elf Jahre ältere Schwester war es speziell, einen kleinen Bruder zum Bäbelen zu haben. Einmal sollte sie aufpassen, als ich auf dem Wickeltisch lag. Irgendwie war sie abgelenkt und ich fiel hinunter. Ich weiss das natürlich nur von Erzählungen. Es ist nichts Schlimmes passiert. Am Ende der Pubertät, mit 17 oder 18, hatte ich zum ersten Mal psychische Probleme. Die Eltern verstanden es nicht. Meine älteste Schwester war ausgelernte Krankenschwester und kümmerte sich am meisten um mich. Ich hatte dann später immer wieder Einbrüche, und sie war immer zur Stelle. Vielleicht dachte sie, sie sei mir das schuldig, weil sie damals am Wickeltisch nicht aufgepasst hatte? Protokolliert von Eva Schwegler Die Kummerpuppe (1971) Der 56-jährige Erzählerin erinnert sich an seinen drei Jahre älteren Bruder. Hatte ich Kummer, sprach ich zu meinen Puppen. Ich stellte sie in Reih und Glied vor mir auf, meistens auf meinem kleinen Holztisch und begann zu erzählen. Ich erzählte von Mutter, von meinen Schwestern, ich erzählte von meinem bösen Lehrer, von schlechten Schulnoten oder fiesen Mitschülern. Meine Lieblingspuppe hatte wunderschöne lange blonde Haare. Sie bedeutete alles für mich. Es war ja schliesslich auch die einzige Puppe, die ich je von meinem Vater geschenkt bekommen hatte. Dann, an einem Tag im Sommer, geschah es: Meine Schwester Beatrice kam an, frage mich ganz nett, ob sie die Puppe mal ausleihen durfte. Als ich sie ihr übergab, ging sie mit ihr in ihr Zimmer – und schnitt ihr alle Haare ab. Ich habe schrecklich geweint. Auch meine anderen Puppen machte sie nach und nach kaputt, einer stach sie das Auge aus, eine Andere schüttelte sie solange, bis sie nicht mehr sprechen konnte. Ich weiss bis heute nicht, wieso sie manchmal so fies war, zu mir und meinen Puppen. Das nächste Mal, wenn ich sie sehe, frage ich sie vielleicht mal danach. Protokolliert von: Adrian Soller Der gelbe Teppich (1972) Der 50-jährige Erzähler erinnert sich an die älteren Brüder. Zwischen mir und meinen Brüdern liegen 13, 14 und 16 Jahre. Ich kam als Nachzügler hinterher und erinnere mich noch, wie meine Brüder ins Militär mussten. Ich war da vielleicht vier Jahre alt und dachte, wenn ich meine Brüder im Flur sah: Wie man nur so lange Beine haben kann! Was man wohl nur machen muss, dass einem die Beine so lang werden. Unglaublich lang! Und ich dachte auch, dass ich im Militär einmal ein sehr grosser werden würde: Und dann würde ich allen Untergebenen frei geben. Im Flur lag ein gelber Teppich auf dem Klinkerboden und es gab Wandschränke mit allem Möglichem. Und es heisst, dass einer der Brüder im Gang die grosse Zerlegung des Gewehrs gemacht hatte und dann das zusammengesetzte Gewehr vorführte. Leider war noch ein Schuss drin, der ging bei der Kontrollmanipulation ab und wurde – zum Glück – vom Teppich verschluckt. Protokolliert von Ivo Knill Di schö Steffi (in den Siebzigern) Der 53jährige Erzähler erinnert sich an seine zwei Jahre jüngere Schwester. Hübsch, seg si, d’Steffi. Das hend erä immer alli geseit. So schöni hoor heg si, d’Steffi. So schöni zäh heg si, d’Steffi. Und das lachä. Zum glüg bin i kei meitli xsi. Shett mi süss allweg scho chli mögä, dass alli dsteffi so choggä hübsch hönd gfundä. Und mi nummä: guet im kopfrechnä. Protokolliert von Adrian Soller Das bessere Leben (1974) Der 67jährige Erzähler erinnert sich an seine 13 Jahre jüngere Schwester. Ich weiss es ja auch. Ich will meinen Eltern keinen Vorwurf machen, wirklich nicht. Ich weiss, es ging nicht anders: Wir Jungs musste einfach mitanpacken. Mama und Papa «krampften» ja auch den ganzen Tag – und trotzdem reichte das Geld gerade mal so knapp zum Überleben. Aber (und das war mir eben ganz klar): Meine jüngere Schwester sollte es mal besser haben. Wollte sie mit Martina und Andrea spielen, stand ich deshalb bei unseren Eltern für sie ein. Ich war 13 Jahre älter als meine Schwester, fast schon eine Generation ist das. Ein bisschen war ich für sie wohl so etwas wie ein zweiter Vater. Als sie elf Jahre alt war, kaufte ich ihr mit meinem ersten Lehrlingslohn ein paar Skier. Marke «Elan» musste es sein, genauso wie sie ihr grosses Idol Ingemar Stenmark fuhr. Denn: (und das war mir eben ganz klar) Meine jüngere Schwester sollte es mal besser haben als wir. Protokolliert von Adrian Soller Auf Augenhöhe (1975) Der 57-jährige Erzähler erinnert sich an seinen sieben Jahre älteren Bruder Zwischen mir und meinem Bruder gibt es eine grosse Altersdifferenz. Bei Kindern sind sieben Jahre enorm. Bei Auseinandersetzungen hatte ich keine Chance. Als ich siebzehn oder achtzehn war, haben wir das erste Mal ohne die Eltern Ferien gemacht, er und ich. Wir fuhren mit dem Auto an den Strand, es war Frühling und es hatte angenehm wenig Leute. Mit dem grossen Bruder ein Bier zu trinken und neue Bekanntschaften zu schliessen, das war für mich gleichbedeutend mit: Jetzt bist du in der Erwachsenenwelt angekommen. Und mit dem Bruder war ich nun auf derselben Augenhöhe. Wir fuhren noch ein zweites Mal zusammen in die Ferien, ein Jahr später, dieses Mal nach Südfrankreich. Dieses Mal endete die Reise aber damit, dass ich mitten in der Pampa aus dem Auto ausstieg und ihm sagte, er könne allein weiterfahren. Ich habe dann Autostopp gemacht bis zum nächsten Bahnhof und bin mit dem Zug nach Hause gefahren. Es hat sich dann wieder eingerenkt. Protokolliert von Eva Schwegler Mein kleiner Bruder lernt rauchen (1978) Die 55-jährige Erzählerin erinnert sich an ihren sechs Jahre jüngeren Bruder. Ich habe einen Bruder, der drei Jahre älter ist und einen, der sechs Jahre jünger ist. Mein kleiner Bruder! Mit ihm hatte ich ein gutes Verhältnis, mit dem älteren weniger, da war vielleicht auch Eifersucht im Spiel. Eigentlich hätte ich mir eine Schwester gewünscht. Ich wusste ja nicht recht, wie das alles zuging mit den Kindern, dachte mir, dass die Samen des Vaters irgendwie unbemerkt in den Körper der Mutter gelangten, während sie schliefen. Es waren überhaupt erst die Nachbarn, die mir sagten, dass die Mutter schwanger war und als es ein Bube war, war ich enttäuscht. Aber das hat sich dann verloren. Er war ja immer da und ich habe ihn mitgenommen ins Jugendhaus, da war ich sechzehn oder einmal habe ich ihn als Mädchen verkleidet, samt Rock und aufgepolstertem Busen, da gibt es noch ein Foto. Mutter hat ihn sehr verwöhnt, eigentlich sogar dominiert. Ich hätte sie darauf ansprechen sollen. Er konnte nichts selber machen. Mutter wusch ihm sogar noch die Wäsche, als er mit seiner Freundin zusammenlebte. Aber es war schwer, sie darauf anzusprechen. Ich habe noch heute ein gutes Verhältnis zum Bruder. Wir erinnern uns daran, wie er bei mir das Rauchen lernte: Er war draussen am Spielen, vielleicht zehn Jahre alt, er kam zu mir ans Fenster im Parterre und ich sagte ihm, dass er den Rauch tief einatmen müssen. Das machte er und hustete kräftig. Und dass die Ravioli kalt waren, die ich einmal für uns beide kochen musste, daran erinnert er sich auch. Und ich bin dann schon mit sechzehn kaum mehr zuhause gewesen und mit 18 zog ich aus. Protokolliert von Ivo Knill Keine Leber auf dem Tisch (1982) Die 47jährige Erzählerin erinnert sich an ihren zwei Jahre älteren Bruder. Mein Bruder und ich: Er trägt seinen Schulranzen, im Arm hat er die Tüte mit den Süssigkeiten zum ersten Schultag. Ich bin zwei Jahre jünger schaue zu ihm auf. Ich bin die kleine Schwester, er ist der grosse Bruder, und immer einen Schritt voraus: Er hat den ersten Schultag, wenn ich noch nicht mal in den Kindergarten gehe, er erhält vor mir die Erstkommunion, die Firmung: Bei jedem Schritt ins Leben geht er vor. Er weiss, dass ich ihm folge, nacheifere, ihm gleich sein möchte, er muss sich nicht darum kümmern, ob ich hinter ihm bin oder nicht. So zeigt es jedenfalls das Foto im Familienalbum. Es zeigt ihn als den bewunderten grossen Bruder, mich als seine kleine Schwester. Ich erinnere mich an ein zweites Foto, das noch schwarzweiss ist: Er hält mich, die gerade auf die Welt gekommen ist, in seinem Arm, wendet sich mir zu. So erinnere ich mich an unser Verhältnis, als es noch unschuldig war. Wir waren beide Kinder, beide im Wettstreit, beide am Vergleichen, am Wetteifern, hartnäckig, aber ohne Schuld: Und er kniete über mir und drückte seine Knie in meine Ellbogen: «Nimm alles zurück!» verlangte er von mir, aber ich nahm gar nichts zurück und wehrte mich. Die Brüche kamen, als er grösser wurde, schlaksig, als auch seine Stimme brach und seine Stimmungen unberechenbar wurden, Jähzorn konnte aufsteigen, brüsk konnte er sein, dann wieder in sich gekehrt. In der Zeit verbündete ich mich mit Mutter und wir wurden exklusiv: Teetrinken mit Mutter, ohne ihn. Auch dem fernen Vater kam ich näher und er geriet ins Hintertreffen. Er liebte Leber, ich verabscheute sie. Und eines Tages war es so weit, dass ich mich durchsetzte. Und von da an kam keine Leber mehr auf den Tisch. So jedenfalls schilderte er es Jahre später im Spessart, als meine Kinder im Nebenraum spielten. Und sagte über meine Tochter, die sich behauptete: «So warst du auch!» Protokolliert von Ivo Knill Das russische Element (1983) Die 54-jährige Erzählerin ist das zweite von drei Geschwistern und erinnert sich an ihre ältere Schwester. Wir waren ein Dreimädelhaus und hiessen Annemarie, Barbara, Cornelia, kurz: Das ABC. Cornelia war eine Nachzüglerin, sie hätte gemäss unseren Wünschen ein Knabe werden sollen. Darum nennen wir sie auch heute noch «der Koni». Sie ist 5 Jahre jünger als ich. Annemarie ist ein Jahr älter als ich, und weil wir oft gleich angezogen waren, hielten uns viele für Zwillinge. Wir waren echte Freunde, obwohl wir auch sehr unterschiedlich waren. Mit zwanzig spielte Annemarie in London in einer Punkband E-Gitarre und ich übte auf der Orgel und wurde brave reformierte Organistin. Und doch machten wir unabhängig voneinander immer wieder ganz ähnliche Dinge. So haben wir unabhängig voneinander russisch gelernt. Annemarie lebte da schon in Hongkong. Sie war 21 und lernte die Sprache durch einen russischen Bekannten. Und ich lernte gleichzeitig einen russischen Regisseur in der Schweiz kennen. Und lernte gleichzeitig Russisch wie meine Schwester. Mit diesem Mann habe ich eine gemeinsame Tochter. In ihr lebt seine Leidenschaft für das Theater weiter. Meine Schwester Annemarie und ich sind regelmässig über WhatsApp in Kontakt. In drei Wochen kommt sie in die Schweiz zu Besuch: Geschwisterfreude ist angesagt und ein Glas Wein im Restaurant zur Metzgern! Protokolliert von Ivo Knill Nasebög (1986) Der 39-jährige Erzähler erinnert sich an seine dreieinhalb Jahre jüngere Schwester Meine Schwester hat zwei, drei Narben von mir. Sicher zwei. Wir hatten einen Sessel, den man drehen konnte, aus Leder, auf einem Sternfuss. Sie sass drauf und ich habe mit dem Fuss Schwung gegeben. Sie wollte aufhören, weil ihr schwindlig war, aber ich habe weiter angestossen. Irgendwann habe ich aufgehört und sie ist aufgestanden. Vor lauter Schwindel torkelte sie so sehr, dass sie gegen einen Radiator knallte und sich einen Nasenflügel aufriss. Es ist ein wenig gemein, denn sie hat Spuren fürs Leben davongetragen. Wenn man genau schaut, sieht es aus, als hätte sie einen Nasebög. Es gibt Leute, die entdecken die Narbe und fragen, „Hast du da was?“. Auch die andere Narbe ist im Gesicht. Ich hatte einen Pfeilbogen. Die Pfeilbogen machten wir selbst aus Schilf, manchmal mit Nägeln als Pfeilspitze. Wir sind an einem See aufgewachsen; in der Nähe gab es ein Ried. Einmal zielte ich auf sie, um ihr zu drohen. Der Pfeil ging los und traf sie zwischen den Augen. Bis heute hat sie dort einen Hick. Man hat mir daraufhin verboten, auf Menschen zu zielen. Und ich glaube, ich habe mich darangehalten. Ich habe dann schon gemerkt, dass das danebengehen kann. Aber ich glaube, es hat ihr nicht geschadet. Sie ist sehr durchsetzungsstark, viel durchsetzungsstärker als ich, lustigerweise. Protokolliert von Eva Schwegler Geschwister WG (1986) Der 50-jährige Erzähler erinnert sich an die älteste Schwester Meine älteste Schwester wird 60. Von zuhause ausgezogen ist sie mit 18. Und dann ist sie wieder eingezogen mit 28. Da war ich 18 und wir hatten einen gemeinsamen Haushalt, an dem sie wohl eifriger mitwirkte als ich. Ich studierte, sie hatte da schon ein Kind. Es war schön, eine schöne Rückkehr in das Familienhaus. Dieses stand im Norden Berlins, nur Gärten, Bäume und Wälder gab es und als die Mauer fiel, waren wir nah dran. Die Eltern hatten Berlin verlassen und einen Bauernhof gekauft und atmeten Landluft. Protokolliert von Ivo Knill Das kleine «k» (1987) Der 38jährige Erzähler versucht sich an seine zwei Jahre jüngere Schwester zu erinnern. Ich weiss nur noch wenig, wirklich. Ich, ich kann mich nur schlecht erinnern, wie das damals war. Meine jüngere Schwester und ich lebten irgendwie in getrennten Welten. Wir wuchsen schon zusammen auf, das schon, doch, doch. Es gab sicher oft Momente des Zusammenseins, die muss es gegeben haben. Aber eben: Ich kann mich einfach nicht mehr so gut erinnern. Ich meine, nicht dass ich meine Schwester nicht gern gehabt hätte. Eigentlich liebe ich sie schon. Ich weiss noch, wie wir mal zusammen gekuschelt haben auf dem Küchenboden. (Von diesem Moment gibt es sogar ein Foto.) Doch alles in allem eben verlebten wir unsere Kindheit mehr nebeneinander als miteinander. Sie dort, ich da. Ich war zwei Jahre älter. Das ist nicht nichts, zwei Jahre, als Kind meine ich. Mit Bettina, Irene und, - ähm, wie hiess sie noch? - Denise spielte sie verstecken und wir – die Grossen – spielten «Räuber und Poli». Jeder hatte sein Feld. Mein Vater liebte meine Schwester mehr als mich. Ich glaube, auch meine Mutter liebte meine Schwester mehr. Meine Schwester war hochbegabt, hatte zwei Schulklasse übersprungen. Als ich die grossen Buchstaben schreiben konnte, konnte sie sie bald auch. Ich machte mich dann an die kleinen Buchstaben. Das kleine «K» verstand ich lange nicht. Zwei Jahre jünger war sie, meine Schwester. Jeder hatte sein Feld. Aber eben: Ich weiss nur noch wenig, wirklich. Ich, ich kann mir nur schlecht erinnern, wie das damals war – mit meiner hochbegabten Schwester und mir. Protokolliert von Adrian Soller Die vielen Hüte meines Bruders (1991) Der 44-jährige Erzähler erinnert sich an den zweitjüngsten Bruder. Bis heute ist er Fan von Hüten. Hat mehr Hüte als seine Frau Schuhe, und das will doch etwas heissen. Und nur Caps. Baseball Caps, Caps von Icehockey-Mannschaften, Fussballclub-Caps, einfach alles, was man sich vorstellen kann. Neuerdings designet er sie sogar selber. Für unsere Fastnachtsclique hat er einen Hut kreiert, der nachts leuchtet und auf der Baustelle läuft er in einer Mütze herum, wo alle Helm tragen: Aber das war schon immer so. Er ist der Draufgänger. Ganz anders als ich. Ich überlege, ja oder nein, ich entscheide, dann gehe ich und wenn es mich auf den Latz nimmt, stehe ich wieder auf und mache weiter. Er nicht. Bei ihm ging’s einfach immer rums und raus. Risiko! Als Kind schon, ein Draufgänger. Und ein ziemlich ausgekochtes Schlitzohr. Hat die CD’s aus den Hüllen genommen und verkauft. Meine CD’s! Die leere Hülle hat er wieder in meine Sammlung gestellt. Dire Straights, Europe, Alphaville: Ein Drittel meiner geliebten CD’s war weg und verkauft. Da hats dann geräbelt. Verprügeln durfte ich ihn ja nicht, aber dass ich seine Sachen alle in einen grossen Kehrichtsack packte und sagte: Jetzt schau du, wo du dein Zeugs hast, das gab es schon. Fünf Kinder waren wir und Mutter war alleine mit uns. Ich als ältester musste da schon auch mithelfen und das gab in einer grossen Familie viel zu tun. Und heute: Heute haben wir ein tolles Verhältnis. Wir sind in der gleichen Fastnachtsclique: Und jetzt gründen wir eine gemeinsame Firma. Entschieden und risikofreudig. Protokolliert von Ivo Knill Gut Nacht, Abiel (2007) Der 21-jährige Erzähler erinnert sich an seinen ein Jahr älteren Bruder. Wir wuchsen in Adi Kulu auf, einem kleinen Dorf in Eritrea. 150 Menschen lebten vielleicht dort und wohl ebenso viele Tiere. Wir hatten ein grosses Haus. Fünf Brüder waren wir, zwei von uns teilten sich jeweils ein Bett. Ich schlief meistens im selben Bett wie: Abiel. Oft erzählten wir uns nächtelang Geschichten, um einander zum Lachen zu bringen. Unter der Bettdecke erträumten wir uns unsere Zukunft. Eines Nachts, ich erinnere mich noch genau, sagte mir Abiel, dass ich mal ein reicher Prinz werde würde. Später lachten wir dann im Bett über unsere Lehrer. Oder wir kitzelten uns gegenseitig aus. Wir hatten eine wunderschöne Kindheit. Seit fünf Jahren bin ich jetzt in der Schweiz. Seit fünf Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen, meinen Abiel. Ich vermisse ihn. Protokolliert von Adrian Soller Immer besser (2011) Der30-jähriger Erzähler erinnert sich an seine Zwillingsschwester. Ich bin zwei Minuten älter als meine Schwester: Sie drehte sich bei der Geburt, ein Bein war schon draussen, dann musste man einen Kaiserschnitt machen und ich kam als erster auf die Welt. Aber sie war immer einen Schritt weiter, sie war grösser als ich, sie war schneller und konnte alles – und das hatte auch einen Grund. Mit fünf Jahren hatte ich zu meiner Mutter gesagt: Ich will heim. Und dann machte ich alles zu und verschachtelte mich innerlich. Für die anderen war ich irgendwer, für mich war ich verloren oder unterwegs in meinen inneren Welten. Sterben wollte ich und habe es auch mehrmals versucht. Für Anna war das schwierig, denn Mutter kümmerte sich immer um mich und bei Anna hiess es: Anna kann das selber. Aufgewacht bin ich mit 26: Ich hätte beinahe eine Arbeitskollegin umgebracht: In voller Wut schmiss ich eine Palette nach ihr. Zum Glück habe ich nicht getroffen. Aber ich erwachte und bin seither dabei Knoten zu lösen. Schachteln zu öffnen, zu mir zu kommen. Als Zwilling wird man immer gefragt: Wie habt ihr es miteinander? Und ich antwortete immer: Immer besser. Das sage ich heute noch. Ich ging zum Psychiater, ich begann an mir zu arbeiten, er sagte mir Dinge, die mir mein Vater schon immer gesagt hatte: Aber jetzt war ich reif dafür. Wir schreiben uns WhatsApps, ungefähr einmal pro Woche. Ich bin wie der Vater, meine Schwester ist wie meine Mutter. Mit Vater ging ich ins Museum, suchte nach Dinosaurierknochen. Wir setzten uns hin und zeichneten. Meine Schwester war mit meiner Mutter unterwegs, einkaufen. Meine Mutter sagt ab zu, wenn ich anrufe: Erzähl mir, wie es dir geht. Ich erzähle dann, aber nach fünf Minuten sagt sie: Geh doch wieder mal mit deinem Vater Zeichnen oder ins Museum. Und da gehe ich ab und zu mit meiner Schwester hin: Ins Museum zur Dinosaurierausstellung, und da kann ich ihr alles erklären, da kenn ich mich aus. Seit ich sechsundzwanzig bin, entdecke ich mich erst und kehre zu mir zurück. Protokolliert von Ivo Knill «Ohne die Türken» (2013) Die 58-jährige Erzählerin erinnert sich an ihre zwei Jahre ältere Schwester Die Kinder meiner Schwester sind gerne bei uns, sie kommen oft einen Kebab essen. Meine Schwester hingegen war noch nie im Laden. Als ich ihr sagte, dass ich meinen Freund heiraten wolle, sagte sie: «Er ist 24 Jahre jünger und aus der Türkei.» Vorher telefonierten wir zweimal pro Woche miteinander, seither besprechen wir nur noch das Nötigste. Zu Weihnachten lädt sie mich, meine Tochter und meine Enkelin ein, «aber ohne die beiden Türken». Meine Tochter ist mit dem Neffen meines Mannes verheiratet. Ich gehe hin, unserer Mutter zuliebe, solange sie noch lebt. Meine Schwester hat Mühe mit Ausländern, es regt sie auf, wenn sie auf meinen Türkei-Fotos Frauen mit Kopftüchern sieht. Dabei sind das feine, offene Menschen; wir waren gerade wieder in der Türkei. Mein Bruder hatte von Anfang an nichts dagegen, er war sogar an der Hochzeit. Protokolliert von Eva Schwegler Zur Schwester gepilgert (2015) Die 49-jährige Erzählerin erinnert sich an ihre drei Jahre ältere Schwester Meine Schwester verliebte sich mit 15 in einen italienischen Gastarbeiter und wanderte mit 17 aus. Für die Eltern war das ganz, ganz schlimm. Ich bin jedes Jahr zu ihr nach Neapel, mit dem Zug oder Auto, zuerst allein, später mit meiner eigenen Familie. Vor zehn Jahren habe ich mir das erste Mal überlegt, zu ihr zu laufen. Aber da war es noch kein Thema, die Kinder waren noch klein. Vor zwei Jahren hat mir mein Mann zu Weihnachten das Geschenk gemacht, dass er für Kinder und Haus sorgt, damit ich die Reise machen kann. Von Burgdorf bis Rom war ich vier Monate unterwegs. Vor Rom kam mir meine Schwester entgegen und wir wanderten eine Woche gemeinsam Richtung Neapel. Dann musste sie wieder arbeiten und ich bin alleine weitergelaufen. Auf der letzten Tagesetappe kam sie mich abholen, und wir liefen das allerletzte Wegstück noch einmal zusammen. Mein Mann brachte mir das Velo, damit bin ich zurück in die Schweiz gefahren. Es ist wertvoll, ein Ziel zu haben. Und meine Schwester als Ziel, das war gut. Es ist meine Geschichte, dass sie so früh gegangen ist. Dabei war unsere Beziehung früher alles andere als einfach. Sie hat sehr stark pubertiert, hat gelogen und oft Beziehungen mit ausländischen Männern angefangen. Weil wir das Zimmer zusammen hatten, wusste ich alles und kam zwischen die Fronten, wenn meine Eltern mich fragten, wo meine Schwester sei. Protokolliert von Eva Schwegler Ich bin nie allein (2017) Der 48-jährige Erzähler denkt über die Beziehung seiner drei Kinder nach und erinnert sich an seinen ungeborenen Bruder Ich habe keine Geschwister, aber ich kann dir eine Geschwistergeschichte erzählen. Es ist die Geschichte von einem grossen Bruder und zwei jüngeren Schwestern. Die Schwestern leben auf dem Land in der Schweiz und der Bruder lebt in einer grossen Stadt in Deutschland. Er reist von Stuttgart nach Burgdorf um sie beim Herbstlauf zu sehen. Der grosse Bruder ist ein guter Läufer und die Schwestern sind stolz, dass er bei ihnen ist. Für die kleinen Schwestern ist er ein grosser Held und auch ein Spiegel. Und er, er lernt, Verantwortung zu übernehmen. Für die Eltern ist es schön, die drei vereint zu sehen. Ich bin der Vater der drei. Selber habe ich, wie gesagt, keine Geschwister. Nicht wirklich. Meine Mutter war 21 bei meiner Geburt. Mit 22 war sie mit meinem Bruder schwanger. Sie erkrankte und verlor ihn. Danach kamen keine Kinder mehr. Irgendeinmal begann ich, mit meinem nie geborenen Bruder zu sprechen. Das klingt vielleicht psycho, aber manchmal frage ich ihn etwas – und dann höre ich ihn. Da ist immer jemand, ich bin nie allein. Protokolliert von Eva Schwegler Every cloud has a silver lining (2017) Die 48-jährige Erzählerin erinnert sich an ihre vier Jahre jüngere Schwester. Ich habe vor kurzem eine schöne Erfahrung mit meiner Schwester gemacht. Bei meinem Vater wurde vor fünf Monaten Krebs im Endstadium diagnostiziert. Es hiess, er werde nur noch wenige Wochen leben. Meine Schwester, die in Luxemburg lebt, hat sich von allen Verpflichtungen freigemacht, Kindern und Job. Mein Vater ist ein zäher Mensch und hat gekämpft. So blieben uns vier Monate, in denen wir uns sehr nah waren, meine Schwester und ich. Es ist ein Geschenk, dass wir das durften. Uns so lange Zeit zu nehmen, trotz Karriere und Familie. Wenn ein naher Angehöriger im Sterben liegt, dann geht das. Bei allem anderen, auch bei hohen Geburtstagen, geht das nicht gleich leicht. Zum achtzigsten Geburtstag meines Vaters ist meine Schwester wegen beruflichen Verpflichtungen nicht gekommen. Im Angesicht des Todes hingegen, da darf man das. Protokolliert von Eva Schwegler |