Endlich Lieben
Denn Liebe kann nur ewig sein, wenn sie nicht für immer ist. Ein Essay über die Liebe. »
Text: Ivo Knill, Illustrationen: Simon Bretscher
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Ich schaue nur zu. Helfen kann ich nicht, ich wäre zu ängstlich und würde nur stören, denn beim Reben Schneiden muss alles weg, was überschüssig treibt. Geiztriebe heissen die Äste, die wegmüssen, sie nehmen den Ästen, die Früchte tragen, Saft und Raum. Im Winter sah die Rebe aus wie ein Haufen Holz. Im Frühling kamen dann grüne Triebe zum Vorschein. Im Frühsommer wucherte die Pflanze wie ein Teig, der aufgeht und über den Schüsselrand quillt. Und gestern eben kam die Freundin zu Besuch, die Bescheid weiss über Reben und das Winzern, und legte kundig Hand an. Sie schnitt aus, was zu viel an Grün war. Weg damit. Sie legte die Äste frei, die bleiben durften. Und so war gegen Abend aus dem im Winter scheinbar toten, dann im Frühling wuchernden Holz eine Rebe geworden, die ihre grünen, noch kleinen Trauben unter dem lichteren Schirm ihrer Blätter birgt und reifen lässt bis in den Herbst.
Sprechen wir von der Liebe, tun wir das oft überhöht. Als stehe sie über allen Naturgesetzen. Ewig soll sie sein. Innig. Überströmend. Im Jetzt. Aber vielleicht braucht auch die Liebe zu ihrem Wuchern und Verschmelzen ein Begrenzen und zu ihrem erfüllten Jetzt ein Danach. Und das eben würde heissen: ein Ende. Wenn man genauer schaut, dann sind viel mehr Verhältnisse der Liebe auf ein Ende angelegt, als wir meinen. Die Unendlichkeit der Liebe ist eine Illusion. Endlich lieben hingegen heisst: Auf das Ende hin lieben, oder zumindest: Lieben im Bewusstsein der Endlichkeit dieser Liebe. Dies scheint uns fremd in einer Lebensweise, die das Immer, das Sofort und das Beziehungslieben an die erste Stelle stellt. Jene Liebe ist uns geläufig und selbstverständlich, die im Moment aufgeht und sich im Moment erfüllt. So stellt man sich die Liebe doch vor: Als Dasein, das im Gegenüber seinen Spiegel findet und seine Erfüllung im gemeinsam erlebten Augenblick. Diese Liebe ist die Beziehungsliebe: Es ist ein Lieben, das sich im unmittelbaren Hin und Her der Gefühle erlebt. Diese Liebe will sich im Moment erfüllen, will im Dasein, im Hier und Jetzt Kuchen backen, Kaffee trinken und die Sinne körperlich werden lassen, will Haut und Haar und pulsierende Wärme, das Vibrieren des Augenblicks, die Vertrautheit des Händedrucks. Gegen diese Liebe ist nichts, aber auch gar nichts zu sagen, als dass auf die Fülle des geteilten Augenblicks ein Danach kommt, das Alleinsein, wenn die Zweisamkeit vorbei ist, wenn der geliebte Mensch nicht mehr da ist und uns verlassen hat oder wir ihn. Und vielleicht lässt sich gegen diese Liebe auch einwenden, dass sie zur steten Beziehungsarbeit verdammt. Wenn der geteilte Augenblick das einzige ist, was dieses Liebe kennt: Wieviel Arbeit muss man dann doch leisten, um zu beweisen, dass die Liebe gut ist. Aber vielleicht beweist sich die Liebe gar nicht nur im Jetzt – sondern ebenso sehr im Danach. Die Leere nach der Fülle Aber das Danach, ja, das ist zunächst einmal schwierig und schmerzhaft. Das Danach ist die Leere nach der Fülle, das ist das Halbe nach der Ganzheit des geteilten Augenblicks, das ist die warme Stelle im Bett, wo jetzt kein Körper liegt, das ist das Gegenüber am Tisch, das jetzt nichts mehr ist, nur ein Gespenst, durch das man die Küchenuhr sieht. Denn so steht es um das meiste Lieben: Das Beisammensein hat ein Ende und das schmerzt. – Aber wieso nicht gerade auf dieses Ende hin lieben? Wieso nicht die Leere nach der Fülle zum Teil des ganzen Liebens machen? Das wäre eine Liebe, die sich vom Zwang des Augenblicks befreit, ohne ihn gleich für immer verloren zu geben. Liebe im Bewusstsein der Endlichkeit, das ist ein Lieben, das darum weiss, das auf die Zeit der Fülle eine Zeit der Leere kommen wird. «Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen», wusste Johann Wolfgang von Goethe schon. Er wusste, dass das Schöne, das Innige, das Geglückte gar nicht so leicht zufällt. Zumindest trägt man schon die Sorge um die Leere danach mit sich. Und diese Leere ist eine schwierige Leere, weil sie sich im Glück erschöpft. Und so jedenfalls geht es mir immer wieder. Aus dem Glück der vollen Tage falle ich ins schwierige Hin und Her der Tage danach. Ich fühle mich fremd und verloren, denn die Leichtigkeit ist weg, der grosse Klang, die Harmonie und das Gelingen, das grossen Tagen innewohnt. Danach, nach der Fülle, nach dem grossen Lieben, nach einer grossen Arbeit ist eine Leere, die hohl klingt und nach nichts schmeckt. Und so versuche ich auch jetzt, aus der Leere herauszufinden. Ich will die Leere loswerden. Ich war nach intensiven Tagen schon unterwegs nachhause. Mein Kopf war voll von allen Gesprächen, und im Bauch rumorte der Brunch, mit dem alles aufgehört hatte. Da merkte ich, dass ich einen Umweg brauchte. Platz für das Danach. Platz für die Leere. Also bog ich an einem dieser Tag ab und fuhr die Kurven hoch in die Schwägalp, fragte nach einer Zahnbürste und mietete für eine Nacht im Hotel ein, ohne etwas anderes im Gepäck als meine Verlorenheit. Dass ich mir die Nacht im Hotel gönnte, machte mich schon ein bisschen froh. Schon etwas leichter ging ich raus, ein Spaziergang auf die Alp. Ich begegne den Bauern, die hier oben ihr Sennenleben feiern, jauchzend ihre Kühe zum Melken rufen, innig mit den Kindern flattieren. Ich sitze auf der kleinen Anhöhe, sehe hinunter in eine Talsenke, durch die ein Wiesenbach geht, der das Gras an seinen Ufern aufschiessen lässt. Und jetzt, mit dem Blick auf die Alp, versuche ich leer zu werden. Die Ziegen streifen in der Talsenke durchs Gras, eine nach der andern. Sie gehen zum Bach, zupfen und reissen am Gras, und ziehen in loser Kolonne zwischen den Kühen zu einer der Alphütten hinauf, wo es vielleicht Salz gibt zum lecken. Ich höre die Kuhglocken auf den verschiedenen Alpweiden bimmeln, höre Insekten fliegen, Stimmen von fern, ein lautes, heftiges Bimmeln, wenn ein Gusti über die Weide rennt, übermütig, und versuche leer zu werden vom Lärm der Welt im Unterland. Hier, auf der Alp, mit Blick auf das viele Grün, umgeben von Bäumen, die nichts von mir wollen, in den Abend hinein, der auch nichts von mir will, hier beginne ich wieder etwas von der Köstlichkeit zu spüren, die das Loslassen und die Befreiung von den Dingen bringt. Die Leere hat sich verwandelt. Der klare Teich So sagen es die Weisen, denke ich auf der Alp. Man muss loslassen, frei werden, zur Ruhe kommen, innerlich. Ich befreie mich von der Gier, die in die falsche Richtung ausschlägt, die Lebenskraft verschlingt in Äste hinein, die keine Frucht tragen, nur schlingen wollen sie, sich ausbreiten und alles überwuchern. Genauso wie die Rebe vor dem Haus in der Höhe oben, und da muss man loslassen und sich befreien. Denn das ist die Losung des chinesischen Weisen Hung Ying-ming aus dem 16. Jahrhundert: «Der Wind flüstert im Bambushain – Klingt er ab, bleibt der Bambus ohne Laut zurück. Die Gänse fliegen über den kalten klaren Teich – Sind sie fort, hält der Teich ihr Bild nicht fest. So auch der Weise: Kommen die Dinge, so spiegelt der Geist sie wider. Gehen sie wieder, so erfreut sich der Geist der Leere.» In einer Welt, in der alles einen Namen hat, in der das Postauto bis in die Berge fährt und von da der Weg noch weiterführt, in einer Welt, die für alle Verirrungen einen Namen hat und scheinbar alles weiss, ist es schwer, die Balance zu finden zwischen einer Leere, die neuen Raum gibt und einer Leere, die nur Verlorenheit ist, Verlust und Orientierungslosigkeit. Vielleicht hilft es, in der Fülle, an diese Leere schon zu denken. Vielleicht hilft es in der Begegnung, an das Alleinsein zu denken. Und: Vielleicht eben hilft es einer jungen Liebe, das Ende von Beginn weg mitzuleben. Wie man Kinder liebt Wer Kinder liebt, weiss darum: Diese Liebe zielt noch in jedem Moment auch auf ihre Auflösung hin. Jeder Entwicklungsschritt des Kindes ist ein Schritt in eine neue Welt, ein Schritt aus dem abhängig geteilten Moment in ein grösseres Mass an Unabhängigkeit. Laufen lernen. Das Besteck selber in der Hand halten. In die Welt der Sprache aufbrechen. Halbe Tage, ganze Wochen in der Krippe verbringen, in die Schule gehen: Kinder wachsen von uns weg in die Unabhängigkeit. Wenn wir sie bei uns behalten wollen, wenn wir sie nicht in die Welt gehen lassen: Dann verlieren wir sie erst recht. Ihr Wachsen wird dann zum Abstrampeln, zum Wegrennen. Es gehört zu den Paradoxien des Liebens, dass Bindungen stärker werden, wenn sie frei von Zwang werden. Darum ist jeder Schritt der Kinder in die Freiheit auch ein Schritt näher zu uns – und zwar in dem Moment, wo wir uns mit den Kindern in ihrer Freiheit verbinden. Die freie Liebe, wenn sie nicht ein Egotrip sein soll, das ist die Liebe zur Freiheit des anderen. Diese Liebe wächst mit dem Raum, der aufgeht, wenn man nicht Haut an Haut und Hand in Hand beieinander ist. Diese Liebe gedeiht in der Leere des nach der Fülle geteilten Augenblicks. Sie gedeiht im Vertrauen, dass die getrennt erlebte Zeit auch eine gute Zeit ist, sie hegt gute Gedanken über Distanz, sie lebt in der Vorstellung, dass das Kind in der Krippe zurande kommt. Eine Liebe, die sich ihrem Ende zuwendet, überbrückt den Raum der Abwesenheit mit Zuversicht, Hoffnung und guten Gedanken. Den geliebten Menschen fern, aber gut aufgehoben zu wissen – was gibt es Schöneres. Und Kinder eben lieben wir genauso: Dass wir ihre Freiheit, ihre Entfaltung, ihre Unabhängigkeit in die Liebe einschliessen. Und wir bauen an ihrem Vertrauen, wenn wir da sind, wenn sie zurückkommen und zeigen, dass die Liebe nicht aufhört, wenn der geteilte Augenblick aufhört, sondern darüber hinausträgt. Da Sein, über den Augenblick hinaus. Die Dinge, wie sie sind Dem Lieben steht mir oft im Weg, dass ich den Raum des Möglichen wenn nicht mit Angst, so doch mit Erwartungen fülle. So müsste es sein, oder so, oder ganz bestimmt wird es wieder so: Nie, immer und überall stellt sich mein ungeduldiges Erwarten dem Moment in den Weg. Und ich vergesse, wie weit der Weg von den Ideen im Kopf zu den Dingen in der Welt ist. Dazu muss ich sagen, dass ich kein Mensch der Dinge bin. Mein Beruf sind Wörter, Menschen, Ideen, Pläne. Selten geht mein Denken den Weg über Dinge, wie es zum Beispiel passiert, wenn ich etwas baue, bastle, schaffe und werke: Da müsste die Luke von der Küche in den oberen Stock wieder gängig gemacht werden, dieser Ausschnitt im Bretterboden, die Holzklappe, die klemmt und überhaupt verkehrt herum öffnet, so dass man, die Leiter aufsteigend, von der geöffneten Luke am Weitersteigen gehindert wird. Schnell gedacht – aber wie aufwändig ist es, dieses schnelle Gespinst der Gedanken in die Welt der Dinge zu verwandeln. Und so geht es mir mit meiner Luke von der Küche in die obere Kammer dieses Berghäuschens, vor dem die Rebe wächst. Ich muss, kaum habe ich mich mit dem Akkuschrauber und der Zange und einer Latte durchs Loch hochgezwängt, schon wieder runtersteigen, weil ich für den Schrauber nur Torx- und Kreuzschraubenaufsätze habe, aber keinen Schlitzaufsatz, um die Schrauben aus dem Scharnier zu drehen. Und das ist erst der Anfang. Ich bin mit meinem Plan unter die Dinge geraten und die Dinge beginnen kompliziert zu werden. Ich werde für die Arbeit, für die ich eine halbe Stunde rechnete, den halben Tag brauchen. Ich kann mich ärgern – oder ich lerne mal wieder: Die Dinge laufen nicht so einfach nach meinem Kopf. Ich kann mir ein Bild von den Dingen machen, aber ich lerne, dass ich dieses Bild immer wieder verändern muss, dass ich immer wieder Ordnungsvorstellungen loslassen muss, denen die Dinge nicht gehorchen. Ich lerne im Umgang mit den Dingen, dass zwischen dem Bild, das ich im Kopf trage, und der Welt, wie sie ist, ein Unterschied ist. Man kann ihn ausgleichen, indem man die Dinge verändert. Aber manchmal ist es auch besser, von den Dingen zu lernen und das Bild anzupassen. Und das eben gilt auch für das Lieben. Statt die Menschen zu ändern, sollten wir unser Zerrbild im Kopf loslassen. Liebe lässt los Die Reben sind geschnitten, um die dünnen Stämme aus dem Wald können sie, ohne unser Zutun. Lieben ist auch ein Loslassen, ein Freiwerden. In den Bildern und Klischees ist es so, dass die Mutterliebe ganz im Augenblick aufgeht, ganz das nährende Jetzt ist. Die Liebe des Vaters ist eine Liebe, die das Weggehen kennt, ein Zusammensein, das geht, ohne dass sich die Beziehung ständig ihrer selbst versichern muss. Das Kind spielt unter dem Tisch, der Vater liest in der Zeitung: Das sind Urbilder einer Beziehung, die weniger die Zuwendung betont als den Raum. Das sind Bilder – aber wir sind frei, beides zu leben: Die volle Zuwendung zum Gegenüber, die Verschmelzen will, Hingabe, Auflösung, Ekstase – und jene Liebe, die im Alleinsein Räume öffnet. Sie ist nicht auf Gleichzeitigkeit aus: Jeder für sich, beide unter demselben Dach. Die Liebe gegenüber Kindern ist so, aber auch die Liebe, wie sie in Männerfreundschaften vorkommt und ganz bestimmt auch zwischen Frauen. Jene Liebe, die nicht lange fackelt, sondern den Rucksack umschnallt und über die Hügel zieht. Jene Liebe, die sogar vor dem Bildschirm beim Netflix Schauen und Nüsse Kauen möglich ist. Und so lässt sich die Liebe im Paar als freie Liebe leben. Als eine Liebe, die den gemeinsamen Augenblick, die Geborgenheit im gewohnten Zusammensein feiert und zugleich das Loslassen, das Verabschieden und die guten Wünsche für den eigenen Weg des andern kennt. Eine Liebe, die über den geteilten Augenblick hinausreicht, ist eine Liebe, die Vertrauen schafft, die Raum gibt, Leben zulässt. Sie weiss um das mögliche Ende des geteilten Augenblicks, sie weiss um die Trennung auf Zeit oder auf immer. Wir sind einander Begleiter auf Zeit: Mehr gibt es nicht. Es ist wohl wahr, wie Nietzsche sagt, dass alle Lust Ewigkeit will. Die Liebe aber wächst nur im Bewusstsein ihrer Endlichkeit über den Augenblick hinaus. |