Die Kiste bleibt |
Als sie starb, legte ich ihre Sachen in eine Umzugskiste. Dort liegen sie noch heute, dreissig Jahre später. »
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Text von Frank Keil, Bild von Luca Bricciotti
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In unserem Keller liegen in einer Umzugskiste letzte Sachen von G., die nun seit über dreissig Jahren tot ist. Es sind ihre Tagebücher, einiges an Briefen, dazu ein paar Fotos. Ich habe sie damals an mich genommen, weil ich mir sicher war: Wenn jemand diese überaus privaten und intimen Dinge, die niemanden etwas angehen ausser G. selbst, überhaupt an sich nehmen darf, dann ich. Das denke ich noch heute. Seitdem bin ich sieben Mal umgezogen, und jedes Mal habe ich ihre Sachen mitgenommen, habe sie weitergetragen. Jedes Mal habe ich vorher in die Umzugskiste geschaut, wie um zu überprüfen, ob G.’s Sachen noch da sind (wo sollten sie denn hin sein?), dann habe ich die Kiste wieder geschlossen und sie so hingestellt, dass sie am nächsten Morgen gut von mir oder später von den Möbelpackern mitgenommen werden konnte, in den Keller oder auf den Dachboden der nächsten Wohnung. Es ist eine stabile Kiste, die Einiges aushält.
Wir waren jung, sehr jung, als wir uns kennenlernten, ich und G., wir wurden ein Paar. Wir zogen zusammen, wir zogen von der Grossstadt hinaus aufs Land, wir wünschten uns ein besseres Leben, mehr Ruhe, mehr Gelassenheit, mehr Abenteuer. Dann wurde es schwierig mit uns. Wir zogen auseinander, wir mieteten uns je ein kleines Haus, in den Winter hinein. Sie half bei meinem Aus- und Umzug, und ich half bei ihrem. Und wir schauten nun je weiter auf Felder und Wiesen und Knicks, nur wenige Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, wir konnten uns zu Fuss erreichen, wenn uns danach war; und am Anfang war uns danach eher selten. Doch es wurde wieder gut mit uns, langsam im Frühling, dann im Sommer, im Herbst, der sich diesmal viel Zeit nahm und lange mild und fast warm blieb und sich immer wieder stolz aufbäumte. Wir planten nichts. Es würde kommen, was kommt. Ich begann zu schreiben, erste Seiten auf einer Schreibmaschine, G. begann sich für Kunst zu interessieren. Sie fing an zu malen, vorsichtig und zögernd erst, dann mit immer mehr Freude, und einmal buchte sie einen Workshop im Norden an der Küste, am Meer. Sie baute dort aus Sand eine kleine Gruppe von Figuren, verabschiedete sich von ihnen, bevor die Flut kommen und alles wegspülen würde, drehte sich um, ging weg. Es sei sehr traurig gewesen und sehr schön, beides zugleich, erzählte sie mir, als wir uns wieder sahen, das war, was uns beschäftigte. Manchmal fuhren wir auf Besuch in die Stadt, gemeinsam oder jeder für sich. Wir nahmen dazu den Überlandbus oder wir trampten. An einem Oktobernachmittag stieg sie zu einem jungen Mann ins Auto, der auf die Idee kam, in einer unübersichtlichen Kurve zu überholen und dazu die Gegenspur nahm. Er überlebte, sie war sofort tot. Ich hörte in den Verkehrsnachrichten von einem schweren Unfall auf der Bundesstrasse und schaltete das Radio aus. Zwölf Stunden später sass ich in ihrem kleinen Haus auf ihrem Bett. Ich war komplett durcheinander, und ich war klar bei Verstand. Ihre Tagebücher standen ordentlich aufgereiht in einem selbstgezimmerten Regal über dem Kopfende, jederzeit griffbereit. In einem bunten Karton lagen an sie adressierte Briefe, die sie aufgehoben hatte, in einem zweiten Karton Briefe von ihr, die sie geschrieben, aber die sie nicht abgeschickt hatte: an ihre Eltern, an eine enge Freundin, mit der sie sich fast überworfen hätte, an einen kurzzeitigen Liebhaber. (Manche dieser Briefe hatte sie in der Nacht in den Dorfbriefkasten eingeworfen, um sie frühmorgens wieder zurückzufordern. Sie stand dann neben dem Kasten, wartete auf den Postbeamten, der ihn leerte und der ihr den eingeworfenen Brief wieder aushändigte. Jedes Mal erzählte sie mir danach amüsiert davon, wir beide kannten diese Blicke, die die Dörfler uns als überspannt geltenden Städtern gelegentlich zuwarfen, und ausserdem war sie erleichtert, dass diese am Abend mit Verve begonnenen Briefe voller dunkler Vorwürfe und wortreichen Erklärungen nun wieder in ihrer Obhut waren und dort blieben.) Ich nahm alles mit und ging nach Hause. "Für immer gibt es nicht."
Die nicht abgeschickten Briefe und auch die angefangenen, die sie gleichfalls aufgehoben hatte, verbrannte ich gleich am nächsten Morgen und verstreute die flockige Asche am Rande meines kleinen Gartens, in dem der Lauch auf den ersten Frost wartete. Die Tagebücher und alles andere wickelte ich fest in eine Decke und legte diese in eine Abseite. Dann legte ich mich wieder schlafen, Schlaf war das, was ein bisschen half.
Noch einmal zwölf Stunden später hatten sich ihre Eltern von der Vermieterin den Schlüssel zu ihrem Haus geben lassen; sie hatten alles durchgesehen, nahmen manches mit, organisierten noch vor Ort die Auflösung ihres Haushaltes. Und ohne sich bei ihren Freunden oder bei mir oder sonst wem gemeldet zu haben, fuhren sie wieder weg, um Tage später am Telefon mir gegenüber ihren Schmerz in lange Klagen über G.’s eigensinnigen Lebenswandel zu verwandeln (Warum hatte sie ihre Festanstellung gekündigt? Warum hatte sie sich das Leben immer so schwer gemacht? Warum war sie ihnen gegenüber so abweisend und so ganz anders als ihre Schwester gewesen, die schnell geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte und nun in einem Eigenheim wohnte?). Ich bin bis heute so froh, dass ihre Tagebücher und die nicht abgeschickten Briefe und alles andere nicht mehr vor Ort waren, als sie vor Ort waren. Sondern in Sicherheit. Natürlich werde ich ihre Tagebücher (und alles andere) nie lesen, so wie ich sie damals nicht gelesen habe. Auch wenn ich in ihnen eine gewisse Rolle spielen dürfte, sie sind nicht für mich bestimmt. Es sind nicht meine Tagebücher, sondern ihre, auch wenn sie nicht mehr lebt. Ihr Tod ändert daran nichts. Auch nicht, dass dieser schon so lange zurückliegt und mir die Zeit mit G. längst vorkommt wie aus einem anderen Leben (wie hiess das Strassendorf, in dem sie damals lebte?, wie war noch die Hausnummer?), das entsprechend so lange vorbei ist, wie mir immer wieder klar wird, wenn ich mich im Spiegel sehe, wenn ich mich rasiere oder wenn ich mich einfach so anschaue, für ein paar Sekunden oder länger: Ich bin ein anderer geworden und auch nicht; man bleibt immer der, der man ist, auch wenn man sich im Laufe seines Lebens ändert, beides geschieht zum Glück. Und es ist auch alles gut geworden und ist gut, das Leben, und es soll nicht anders sein, überhaupt nicht. Wobei ich mich, wenn auch immer seltener, also in immer grösseren Abständen, frage, was wohl aus ihr und auch aus uns geworden wäre und wie wir aufeinander schauen würden, und sei es – vielleicht bis vermutlich – aus allergrösster Ferne. Und ich hätte nicht ihre Tagebücher (neben anderem) in einer Kiste in unserem Keller liegen, die mich jetzt schreibend so beschäftigt, obwohl oder vielleicht auch, weil sie so tabu sind und weil beides nicht geht: die Tagebücher wegzuwerfen, weil sie dann weg sind und unwiderbringlich verloren, und es geht auch nicht, sie für immer zu behalten, weil es für immer nun mal nicht gibt, wobei Letzteres schwerer wiegt, auch wenn mir das nicht gefällt. Und so muss ich nun auf den Moment warten, dass mir irgendetwas Kluges einfällt, was immer ich dann auch tun werde. Ich werde irgendwo stehen, mit den weiterhin in die Decke gewickelten Tagebüchern (und allem anderen), die ich habe, und die nicht mir gehören, vielleicht lasse ich alles zusammen wie das Paket, das es jetzt ist; vielleicht falte ich die Decke auseinander und nehme jedes Tagebuch (und alles andere) noch einmal achtsam in die Hand, und das, was damals war und schon lange nicht mehr ist, es wird mir endgültig aus den Händen rinnen, so wie auch ich eines Tages verschwinden werde und später die ganze Welt; wir werden verschwunden sein, und wir werden verschwunden bleiben, so ist das, so muss wohl das sein. |