Auf ATEMREISE
ERNST-Redaktor Ivo Knill fährt nach Japan, und kommt bei sich und in der Trauer um seinen Bruder an. »
Text: Ivo Knill, Illustrationen: Simon Bretscher
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Nichts Denken. Zählen vielleicht, aber nichts denken. Atmen. Ich tauche ab. Was strudelt, treibt, wogt und tobt in mir kommt zur Ruhe. Der Schnee in der Schüttellandschaft im Glas senkt sich. Ich bin unterwegs in mein Inneres. Atemzug um Atemzug.
Man könnte es meditieren nennen – aber von aussen sieht es ganz bestimmt nicht so aus. Ich praktiziere es im Zug, stehend in der Sonne vor der Haustüre, liegend im Bett, bevor ich wach bin oder wenn ich, den Pappbecher mit dem Kaffee in der Hand, durch den Bahnhof gehe. Es ist ganz einfach: Ich atme und lasse alles los, was meinen Geist beschäftigt. Die Gedanken an die Mails, die noch zu schreiben sind, die Nachgedanken zu einer Besprechung, die Pläne für den Nachmittag und das tiefsitzende Gefühl, das falsche Leben zu führen: Man kann das alles einfach loslassen. Man kann es sachte entgleiten lassen mit jedem Atemzug. Es ist so einfach, selbst im grössten Trubel für einen Augenblick oder einen langen Moment zu sich zu kommen. Man trägt ja alles, was es dazu braucht immer mit sich herum. Man kann sich jederzeit in die unermesslichen Welten seines Innern sinken lassen: Denn das Innere ist immer mit uns. Natürlich schreien, lärmen, nerven, schrillen und motoren einem tausend Stimmen im Kopf herum, tausend Herren, deren Diener man sein zu müssen glaubt. Aber eben: Das ist meist ein Irrtum. Man kann immer abtauchen und fast immer lohnt es sich. Der Tabaksgeschmack von Meditation Dieses Abtauchen ist eine Form von wilder Spontanmeditation. Kein Kissen, kein Polster, kein Tempel sind erforderlich. Gelernt habe ich dies vor einigen Jahren bei Budi Otong , einem indonesischen Regisseur, Butoh-Tänzer, Drum-Raucher und Regimekritiker. Wir sassen im Kreis, draussen lärmten die Vögel, das Grün stand dicht, es war ein Samstagnachmittag im Vorsommer. Mit Zeige- und Mittelfinger wies Budi auf die beiden Nasenlöcher: Da fliesst der Atem ein und aus, da muss die Aufmerksamkeit hin, noch etwas höher, wo der Luftstrom zusammenwirbelt, bevor er in den Rachenraum fliesst. Das ist alles, erklärter er. Sitzen, liegen, stehen, alles ist möglich. Budi wurde einmal von einem Jeep mit Soldaten angefahren. Einmal, in der Schweiz, geriet er in der Aare in einen Strudel und wurde hinter einer Schwelle bis an den Grund hinuntergezogen. Jetzt ist er wieder oben, wir meditieren. Er singt hinter unserem Rücken mit tiefer Stimme, wir meditieren. Er geht draussen eine rauchen, er kommt zurück, singt wieder und in mir lösten sich die Knoten. Piff. Paff. Einatmen, ausatmen. Das war mein erster Zugang zur Meditation – wild und radikal. In Japan lernte ich dazu. Im Vorortszug von Osaka Im Vergleich zu den Städten Japans ist jede Schweizer Stadt klein. Trotzdem fühlte ich mich in den grossen Städten Japans völlig ruhig, sicher und geborgen. Sosehr, dass ich bei der Rückkehr über den Stress in unseren Strassen verblüfft war. Denn in den japanischen Städten gibt es kaum Hektik, kaum Stress, keine Rempeleien. Das Geheimnis liegt in der Fähigkeit der Menschen, sich dezent zu verhalten. Das heisst nicht, dass der Anblick der Menschen monoton wäre. Im Gegenteil. Die Vielfalt ist erstaunlich: Büffelmänner in Businessanzügen, Bohemiens in Manchesterhosen, Sportsmänner in Turnschuhen und Trainerhosen begegnen mir. Die junge Frau im knapp geschnittenen Schuluniformrock steckt nacktbeinig in flachen Schuhen, ihre Kollegin ist prall geschminkt im Mangalook unterwegs, die Dame schräg vis-à-vis trägt einen Kimono, neben ihr sehe ich eine Frau im akkuraten Businesslook. Sie alle sitzen ruhig und in sich gekehrt im Zug. Ich lasse mich darauf ein und erlebe das Geheimnis des japanischen Abtauchens. Ich stehe dicht neben der Wand zwischen der Türe und der Sitzreihe. Halb an mich und halb an die Tür lehnen zwei junge Frauen. Der Zug schüttelt. An meinem Rücken nehme ich eine Tasche oder einen Ellbogen wahr, auf Kniehöhe berühre ich einen weiteren Körper. Der Zug rüttelt sanft um die Kurven. Sonst ist es still. Die Menschen sind ruhig. Die meisten haben die Augen zu. Sie sind auf Innenreise. Jeder ein Herrscher in einem unbegrenzten Reich des Innern. Der Kopf des Mädchens, das neben mir steht, sinkt immer tiefer. Und auch ich schliesse die Augen. Ich tauche ab. Und ich sinke in meinen Körper und sinke und atme und unten komme ich an. Unten, beim Lebendigen, der Atem ist es, der mich trägt. Das ist das Abtauchen in der Menge. Zwanzig Zenhiebe Wenig später reise ich nach Kyoto, will dem Geheimnis der Meditation dort noch mehr auf die Spur zu kommen. Im Tempelbezirk will ich mehr über Zenmeditation erfahren. Ein Mönch empfängt uns in einer neu erstellten Meditationshalle. Die Reisstrohmatten stehen auf präzise gefügten Holzkonstruktionen, am Kimono des Mönchs lösen sich Fäden und seine nackten Füsse stecken in Kunststoffschlüpfern, die Klimaanlage surrt. Nichts ist heilig, nichts ist überflüssig, nichts lenkt ab. Der Mönch weist uns ins Atmen ein, zählen sollen wir, bis zehn. Wir atmen, wir zählen. In der Pause Frage ich nach den Koans. Die Fragen, die nicht denkend beantwortet werden können, gehören zu seiner Ausbildung als Mönch. Und so berichtet er mir vom unmöglichen Sinnspruch und vom Meister, dem er wieder und wieder die in der Meditation gefundene Lösung präsentieren muss. Zwei Dinge sind möglich: Der Meister stimmt zu, dann ist es gut. Oder der Meister lehnt die vorgeschlagene Lösung ab, dann gibt es einen symbolischen Schlag mit dem Stock. So ungefähr zwanzig oder dreissig Schläge sind bis zur Lösung die Regel, lacht er. Ich frage ihn nach dem Koan, das er zu lösen hatte. Es war eine Frage: «Wie kann man mit nur einer Hand klatschen?» Die eigentliche Frage lautet aber: Wie kann man eine Lösung suchen, ohne ins Suchen zu geraten? Zwanzig Schläge kann das dauern. Ein Tod ohne Trauerarbeit Die Nachricht vom Tod meines Bruders erreicht mich dann kurz nach dem Besuch des Tempelbezirks. Ich war völlig überrascht. Die Nachricht kam unerwartet. Ich wusste nicht, was diese Nachricht für meine Reise bedeuten würde – aber ich nahm mir im ersten Moment vor, alle Gefühle zuzulassen und sie so wenig wie möglich zu verändern. Vielleicht war es ein Reflex auf frühere Todesfälle, die ich zu meistern, zu bewältigen, zu verarbeiten versuchte hatte – so sehr vielleicht, dass ich mit meinen Empfindungen gar nicht in Kontakt kam. Schmerz, Verlust, Scham, Wut, Verlegenheit, Ärger: Diesmal wollte ich alles zulassen und doch damit weiterkommen. Keine Trauerarbeit. Ich will im Vorortszug von Osaka stehen, alles loslassen, alles zuzulassen. Ich will mit einer Hand klatschen. Also sammle ich in meinen Gedanken Bruchstücke des Verschwindens und ich sammle Erinnerungen an das Leben. Splitter, schmerzhafte Stellen an meinem Körper, der mitleidet. Die Knochen. Ja, dieser Tod fährt in die Knochen. Lässt in sie Stücke zerfallen, in Scherben. Was einmal ganz war, was einmal durch den Faden des Lebens zusammengehalten war fällt in Stücke. Der Mensch, der diesen Körper bewohnte, ist gegangen. Ich möchte hinterher. Ich bin auch nur noch Stück und Faden. Die Kanister des Ärgers Aber Leben heisst: Im Fluss sein. Zusammenhänge sehen, den Klang wahrnehmen, ins Sinnhafte eingebettet sein. Die grossen Gefühle der Trauer führen nicht einmal so weit weg vom Leben. Zur Trauer gehören Moment, wo das Ganze eines Lebens sichtbar wird, die Würde und Grösse eines Lebens, die als Bedingung den Tod einschliessen. Die Trauer macht mir nicht zu schaffen. Es ist eine andere Regung: Der Ärger. Als wäre er der Kater nach den grossen Gefühlen des Abschieds. Der Ärger siedelt sich am Saum der grossen Gefühle an. Ich habe ein klares Bild für diesen Ärger: Schwemmgut am Strand, das zurück bleibt nach dem grossen Sturm. Die Kanister, Korkstücke, Äste, Nylonseile, ganze Baumstrünke, kleine Teerbrocken. Ich sehe mich durch dieses Schwemmgut staksen, das vom grossen Sturm geblieben ist. Der Ärgersaum bleibt, in dem ich mich verfange, wo ich hängen bleibe. Wie man nicht den Tod betrauert, sondern sich über den Arzt ärgert, der versagt hat, seine wegwerfende Geste, als er die Patientin zuerst sah. Kanister, Korkstücke und ich, wie ich mich darin verfange. Und wie, bitte: Soll man das wegatmen? Es geht, weil es ein Bild ist. Leere Kanister können nicht im Meer des Atems untergehen: Das Bild von ihnen schon. Was uns plagt, nervt, beutelt, schüttelt und ärgert, sind nicht die Dinge selbst, sondern die Bilder, die wir uns von ihnen machen, also löse man sich von den Bildern. Den Gedankenschlingen. Man darf die Bilder untergehen lassen, gefahrlos: Denn die Welt geht ja weiter. Und nicht nur die Welt geht ohne meinen Ärger so gut weiter wie mit: Auch ich. Wie wenig weiss ich davon, was mich ausmacht, was in mir wirkt, was sich vorbereitet, vollzieht, entfaltet. Noch das meiste, das mein Leben bestimmte, kam unverhofft, war plötzlich da, nachdem es sich innerlich vorbereitet hatte. Wie diese innere Landschaft funktioniert, die mein Leben bestimmt, weiss ich nicht. Was mich träumen und handeln lässt: Wie wenig weiss ich davon! Darum über ich mich darin, bei mir zu sein, als Gast in einer Landschaft, die mir unbekannter ist, als ich vermute. Die Hand sein Ich glaube, dass sich die wesentlichen Dinge im Verborgenen abspielen. Seit ich in Japan war, seit mein Bruder gestorben ist, glaube ich es noch mehr. Und weil es so ist, muss man loslassen, damit die Dinge sich entwickeln können. Ich habe gespürt, wie sich das Leben regte, unversehens, vielleicht wenn ich im warmen Wasser des Onsens lag, ich habe gespürt, wie es sich verlor im schönsten Abendlicht über den Tempeln. Ich sammelte Splitter und erlebte, wie Bilder in mir aufstiegen, die voller Kraft und Leben waren. Ich war bei alldem Zuschauer und am erfolgreichsten, wenn ich mein Denken zu Ruhe bringen konnte. Ich kam meinem Bruder und seinem rätselhaften Tod näher, spürte intensiv, wo sich mein Leben mit seinem Tod berührte. Ich war weit weg, ich war ganz da. Die Zeit dieser Trauer lässt mich wünschen, dass mein Leben für die wesentlichen Dinge, also für das Leben selbst, offener sein sollte. Und bald stehe ich wieder im Vorortszug von Osaka. Er rüttelt leicht. Ich kann es spüren. Ich habe schon früher geatmet, heute atme ich einfach ein bisschen mehr. Gehe mal kurz auf Atemreise. Nicht kämpfen, nicht ärgern: Nur loslassen, beobachten, aushalten, gewähren lassen. Alles ist da, was es braucht. Da also ist der geheimste Ort: Bei mir selbst. Im Atemfluss, der das Gedankenmeer untergehen lässt. Und wie klatscht man mit einer Hand? Der Zenmönch hat mir seine Antwort verraten: Indem man diese Hand wird. Alles ist einfach. |