Dennis Bühler begleitet in Tschernobyl zwei Touristenführer auf einer ihrer unzähligen Touren zum Reaktor 4. »
Text und Bild von Dennis Bühler
«Bleib nicht zu lange an dieser Stelle stehen», warnt Igor. «Sonst musst du am Abend deine Schuhe am Checkpoint abgeben oder darfst die Sperrzone gar nicht mehr verlassen.» Mein ängstlich-skeptischer Blick scheint ihn zufriedenzustellen, jedenfalls lacht er jetzt übers ganze Gesicht. «Zeig mal her», sagt er und wirft einen Blick auf meinen Geigerzähler, der seit Minuten nervtötend piepst. «14,27 Mikrosievert – nicht schlecht!»
Igor Solomianiuk und ich stehen vor dem zerfallenen Haus in Kopatschi, in dem einst der Kindergarten des Dorfes untergebracht war, um uns herum zwei Dutzend Touristen aus aller Welt. Deutsche, Italiener, US-Amerikaner, Niederländer. Alle wollen sie den mysteriösen Ort sehen, den das Wirtschaftsmagazin «Forbes» vor ein paar Jahren zur «exotischsten Touristendestination der Welt» gekürt hat: den Reaktor 4 des Atomkraftwerks im ukrainischen Tschernobyl. Auf dem Hinweg aber haben wir erst einmal «die einzigartige Chance, im alten Kindergarten gruselige Fotos der Puppen zu machen», wie Igor gutgelaunt sagt. «Fünf Minuten für Erinnerungsbilder!» Mit Handys, Foto- und Videokameras stürmen wir ins Gebäude.
Hastig wird Kopatschi evakuiert an diesem 2. Mai 1986, sechs Tage nach der Katastrophe. Die wichtigsten Dokumente sowie Kleider für drei, vier Tage sollen die 1114 Dorfbewohner mitnehmen, sagen die Funktionäre, danach könnten sie zurückkehren in ihre Häuser. Doch sie dürfen nie wieder zurück. Jod-131, Cäsium-137, Strontium-90, Plutonium-241 und Americium-241 machen die Region unbewohnbar für Hunderte von Jahren. Bis auf den Kindergarten werden alle Häuser Kopatschis abgerissen oder niedergebrannt, die Überreste werden vergraben. So hoffen die Behörden die radioaktive Belastung zu senken. Tatsächlich aber gelangen die Substanzen ins Grundwasser.
Die Dielen knacken, wo sie nicht von Glasscherben übersät sind, durch die kaputten Fenster des Kindergartens hört man die Vögel zwitschern. Vergilbte Notizhefte und Zeichnungen liegen überall auf dem Holzboden verstreut. Im Schlafsaal, in den sich die Kinder einst zum Mittagsschlaf zurückzogen, hat jemand eine Puppe auf ein Bettgestell gesetzt. Sie hat nur noch ein Glasauge. Klick. Klick. Klick. Wer fotografiert, versucht den Eindruck zu erwecken, er sei alleine hier. Alleine am Ort der grössten nuklearen Katastrophe. Menschenverlassenes Stillleben. 110 Euro kostet die Tagestour, die exklusive Selfies verspricht, Nervenkitzel, ein Date mit der Apokalypse. 16 386 Besucher aus 84 Ländern registrierte die Zonenverwaltung im Jahr 2015, im Jubiläumsjahr 2016 waren es mehr als doppelt so viele: 40 000 Gäste zwischen 18 und 89 Jahren seien im vergangenen Jahr mit einem der zwei grossen Tourenanbieter in die Sperrzone gereist, sagt Ekaterina Aslamova, die uns am Morgen gemeinsam mit Igor in Kiew begrüsste und uns mit den 22 Regeln vertraut machte, die wir heute zu befolgen hätten. Die Wichtigste: Im Freien sollte nicht geraucht werden, weil das Risiko, radioaktive Partikel zu inhalieren, viel zu gross ist. Hiroshima, Verdun, Pompeji, Tschernobyl – manche Touristen ziehen Albträume Traumstränden vor. Bei Tripadvisor haben 318 User das Prädikat «ausgezeichnet» verliehen, 23 bezeichnen die Tour als «sehr gut». Kein Einziger, der unzufrieden wäre.
In der Nacht auf Freitag, den 26. April 1986, soll Schichtleiter Alexander Fjodorowitsch Akimow testen, ob sich das Wladimir-Iljitsch-Lenin-Kraftwerk auch bei einem vollständigen Ausfall der externen Stromversorgung abschalten liesse. Der Test mündet in die Katastrophe, Reaktor 4 explodiert um 1.24 Uhr nachts. Ein Konstruktionsfehler gilt als Hauptursache. Hinzu kommt, dass sich weder Akimow noch seine Ingenieure die Blösse geben wollen, den Versuch abzubrechen. Am Morgen weisen die Messgeräte in Prypjat, der Stadt in vier Kilometern Entfernung, eine 15 000 Mal höhere Strahlung aus als normal, am Mittag die 600 000-fache Dosis.
Im grossen Mercedes-Bus fährt uns ein Fahrer von Kopatschi nach Tschernobyl, ins Dorf, das seit drei Jahrzehnten Synonym ist für den radioaktiven GAU. Hier, inmitten der 30-Kilometer-Sperrzone rund um das Kraftwerk, die offiziell «Zona Otschuschdenija» heisst – «Zone der Entfremdung» –, steht die einzige Lenin-Figur des Landes. Sie bleibt, auch wenn die Ukraine seit mehr als drei Jahren Krieg führt mit Russland und sich Erinnerungen an die Sowjetunion verbittet und Europa zuwendet. Ein wenig ist die Zeit hier stehengeblieben, und doch geht das Leben auch in Tschernobyl weiter: Das Postamt hat von Montag bis Freitag geöffnet, drei Mal täglich fährt der öffentliche Bus nach Kiew, im einzigen Hotel des Dorfes gibt es Wlan. Von den einst 14 000 Bewohnern sind gemäss offizieller Statistik deren 88 übriggeblieben. Hinzu kommen ein paar hundert Arbeiter, die die eine Hälfte des Monats hier wohnen und die andere Hälfte ausserhalb der Sperrzone. Fünfzehn Kilometer entfernt liegt die Grenze zu Weissrussland, jenem Staat, der noch stärker als die Ukraine unter den Nachwirkungen der atomaren Katastrophe leidet. Siebzig Prozent des gesamten radioaktiven Niederschlags gingen über den Regionen Gomel und Mogilew nieder, ein Viertel des Staatsgebietes ist kontaminiert. Dennoch setzt Weissrussland auf Atomstrom: Ende nächsten Jahres wird bei Ostrowez im Nordosten des Landes der erste weissrussische 1200-Megawatt-Reaktor seinen Betrieb aufnehmen, im Jahr 2020 soll der zweite folgen. Und auch in der Ukraine spricht niemand von Atomausstieg: Gegenwärtig produzieren fünfzehn Kernreaktoren mehr als die Hälfte des Strombedarfs der 43 Millionen Einwohner. Sie schmälern die Abhängigkeit des Landes vom verhassten Nachbarn Russland.
«Fünf Minuten für Erinnerungsbilder»
Monatelang bekämpfen Helikopterpiloten, AKW-Angestellte, Soldaten und Reservisten der Roten Armee das Feuer in Reaktor 4, werfen Trümmer, Bor, Blei, Sand und Lehm in den glühenden Schlund. Bekannt werden die 600 000 bis 800 000 eingesetzten Liquidatoren als «Bioroboter». Während Maschinen den Geist aufgeben, weil die Fernsteuerung versagt oder Drähte schmelzen, zeigen die «Bioroboter» vor Ort noch keine Anzeichen von Schwäche. Das kommt erst später. Viele Liquidatoren erkranken an Krebs oder leiden an Strahlenkrankheit. Wie viele von ihnen an den Folgen ihres Einsatzes sterben, erhebt niemand. Die Weltgesundheitsorganisation spricht im Jahr 2005 von weniger als 50 unmittelbaren Todesopfern der Katastrophe von Tschernobyl – eine Zahl, die unabhängige Experten als blanken Hohn bezeichnen.
Je näher uns der Bus zu den stillgelegten Reaktoren bringt, desto lauter wird das Piepsen der Geigerzähler. Ein Tourist nach dem anderen verliert die Geduld und bittet Igor oder Ekaterina, den Warnton auszuschalten. Die hohe Strahlenbelastung lässt sich ignorieren, ausmerzen lässt sie sich nicht – die Halbwertszeit von Plutonium-239, der gefährlichsten Substanz, beträgt 24 110 Jahre. Unsere Reiseführer aber beschwichtigen. Die radioaktive Belastung sei inzwischen 75 000 Mal tiefer als unmittelbar nach dem GAU, sagt Ekaterina, wir müssten uns keinerlei Sorgen machen. «Wer mit dem Flugzeug in die Ukraine geflogen ist, hat sich einer grösseren Belastung ausgesetzt, als er am heutigen Tag zu gewärtigen hat.» Igor, Ekaterina und ich haben eine Gemeinsamkeit: Wir erlebten den AKW-Unfall in den Bäuchen unserer Mütter. Er kam im Juni, sie im Juli, ich im November 1986 zur Welt. «Wahrscheinlich hätte Mama Vorkehrungen treffen müssen», sagt Igor. «Aber niemand hat ihr gesagt, was sie tun sollte. Der einzige Rat der Kiewer Stadtbehörden lautete, Schwangere und gebrechliche Personen sollten im Mai ihre Häuser so selten wie möglich verlassen.» Meine Mutter hingegen hat sich in Zürich penibel an die Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission zur Überwachung der Radioaktivität gehalten: Schwangere und Kleinkinder unter zwei Jahren sollten vorübergehend vom Verzehr von Gemüse und Salat absehen, Frischmilch sollte durch Milchpulver ersetzt werden. Schlaflose Nächte hatte sie trotzdem, weil sie um meine Gesundheit fürchtete. Einen Tag vor meiner Abreise in die Ukraine hat sie mir gesagt: «Und 31 Jahre später reist du freiwillig mitten ins verstrahlte Gebiet».
Der Bevölkerung verheimlicht die sowjetische Führung den GAU zuerst. Am Morgen des 28. April 1986 allerdings, rund dreissig Stunden nach der Explosion, wird im mehr als 1200 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Forsmark in Schweden wegen erhöhter Radioaktivität Alarm ausgelöst. Nachdem bei Kontrollen der eigenen Anlagen kein Leck entdeckt worden ist, richtet sich der Verdacht der Schweden aufgrund der aktuellen Windrichtung gegen ein AKW auf dem Gebiet der Sowjetunion. In den Nachrichten vom 28. April informiert die TV-Station der Ukraine an elfter Stelle über einen «kleinen Zwischenfall» in Tschernobyl.
Der Bus biegt um eine letzte Kurve, da ragt er plötzlich vor uns in die Höhe: der neue Sarkophag. 260 Meter breit ist er, 165 Meter lang, 110 Meter hoch und 36 000 Tonnen schwer. Unter ihm fänden der Hamburger Hauptbahnhof, die Pariser Kathedrale Notre-Dame oder zwölf Fussballfelder Platz. Seit Ende letzten Jahres umschliesst er die Ruine von Reaktor 4 und den alten Sarkophag, den die Sowjets im Jahr 1986 in nur gerade 209 Tagen errichtet hatten, der aber bald zu rosten begann und mit der Zeit löchrig wurde. An der neuen Ummantelung bauten unter französischer Leitung 1200 Arbeiter aus 27 Ländern, vierzig Staaten haben sich die Kosten von fast drei Milliarden Dollar geteilt. Der Sarkophag soll die Umwelt von den 150 bis 200 Tonnen Uran abschotten, die Schätzungen zufolge noch immer im Innern des explodierten Reaktors strahlen. Doch auch er ist nur ein Provisorium, der die radioaktive Gefahr nicht beseitigt, sondern nur den Schaden mindert. Beim Gedenkstein ein paar Dutzend Meter vor dem Sarkophag sind es wir Reisenden aus aller Welt, die strahlen. Für ein Foto, das Ekaterina für die Homepage des Tourenanbieters schiesst. Seit sechs Jahren fördert die ukrainische Regierung die touristische Entwicklung der Sperrzone offiziell, Vertreter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen begrüssten diese Entscheidung. Denn Touristen bringen wertvolle Devisen – erst recht, seit sich die Landeswährung Hrywnja im freien Fall befindet. Im Durchschnitt verdienen Ukrainer aktuell 206 Euro pro Monat. Weniger als das Doppelte des Betrages, den wir für einen Tag in Tschernobyl und Umgebung bezahlen.
Obwohl die sowjetische Führung überlegt, ganz Kiew zu evakuieren, wird der grosse 1.-Mai-Umzug im Jahr 1986 durchgeführt, tausende Menschen säumen die Strassen. Sechs Tage später findet in Kiew die 39. Friedensfahrt teil, 100 000 Zuschauer jubeln dem siegenden DDR-Radfahrer Uwe Ampler zu. Erst achtzehn Tage nach der Katastrophe wendet sich Staatschef Michail Gorbatschow via TV-Ansprache an die Bevölkerung. Schichtleiter Alexander Fjodorowitsch Akimow ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Seine verstrahlte Leiche wird genauso wie jene seiner Ingenieurskollegen in einen Bleisarg gelegt, mit Beton ausgegossen und in Moskau in den Boden versenkt. In den Tagen und Wochen nach der Explosion müssen 115 000 Menschen ihre Heimat verlassen, später werden 220 000 weitere umgesiedelt.
Seit einem Jahr fährt Ekaterina vier Mal pro Woche in die Sperrzone. «Fragst du mich, wie lange ich schon dabei bin, weil du wissen willst, wie lange man das überlebt?», fragt sie und lacht. Nach ihrem Soziologiestudium war sie Managerin eines 5-Sterne-Hotels in Kiew, musste täglich im Deux-Pièces und auf Highheels zur Arbeit erscheinen. «Der Job war sehr gut bezahlt, aber grausam langweilig», sagt sie. Als Reiseführerin ist sie glücklicher. «Lasst uns die Regeln brechen!», ruft sie unternehmungslustig. «Aber passt auf die Zombies auf!» Wir stehen im Zentrum von Prypjat, vier Kilometer nordwestlich der Reaktoren. Zum Zeitpunkt der Katastrophe lebten hier 48 700 Menschen, ein Drittel davon Kinder, das Durchschnittsalter lag bei 26 Jahren. Wer hier wohnte, war privilegiert, es gab Cafés, Restaurants, zwei Kinos, Diskotheken, drei Schwimmhallen, einen Jachtclub, ausgezeichnete Kindergärten und Schulen, ein grosses Hotel, zwei Sportstadien. Ganz Prypjat lebte vom Atom, mehr als 10 000 der Bewohner arbeiteten am Reaktor. Die Vorzeigestadt war im Jahr 1970 eigens für sie gebaut worden. Längst ist Prypjat eine Geisterstadt. Der ehemals prachtvolle Lenin-Boulevard ist von Bäumen und Sträuchern überwuchert. Ekaterina führt uns in den Kulturpalast, obwohl sie das aus Sicherheitsgründen nicht dürfte. Wie die meisten Gebäude ist auch er stark einsturzgefährdet. Im Schwimmbecken im Parterre steht das Wasser hüfthoch zwischen den versprayten Seitenwänden. Eine Etage höher liegt die Turnhalle, mit Fussballtoren an beiden Enden und einem Seil, an dem der Nachwuchs Prypjats einst das Klettern erlernte. Draussen, hinter dem Kulturpalast, ist bis heute der Rummelplatz aufgebaut. Kein Ticket wurde je verkauft für den Autoscooter, keine Runde auf dem Riesenrad gedreht. Drei Tage vor der 1.-MaiFeier des Jahres 1986 mussten die Bewohner Prypjats ihre Heimat verlassen, mit 1300 Bussen wurden sie aus dem Gefahrengebiet gekarrt. Die stillstehende Chilbi gilt seither als Mahnmal, vor allem aber ist sie das beliebteste Fotosujet des touristischen Erlebnisses «Tschernobyl». Anders als in Horrorfilmen wie «Chernobyl Diaries» oder Computerspielen wie «In the Shadow of Chernobyl» schreien während unseres Ausflugs keine Menschen und brüllen keine Zombies. Wir hören nur das Klicken unserer Fotoapparate und das Gelächter unserer Reisegruppe. Und manchmal, wenn wir genau hören und nichts ausblenden, auch das Piepsen unserer Geigerzähler.