Grosse Menschen sind dienende, verzeihende, gewährende Menschen. Sie sind begeisterungsfähig, weil sie in den Dingen ein Potential sehen, und weil sie die Fähigkeit haben, sich mit diesem Potential zu verbinden. Grosse Menschen haben die Gabe, die Dinge gross zu machen, und das muss man: So erzählt mir mein Freund Martin während einer Wanderung von einem missglückten Kostümumzug. Schulfasnacht. Seine Tochter war begeistert von der Maske, die sie aus Ton geformt, mit Pappmaché überzogen und farbig bemalt hatte. Das Kostüm sass und sie freute sich auf den Umzug – aber der war schlecht organisiert. Die Eltern standen herum, waren kaum begrüsst worden, es gab keine Rede, der Zug lief los und verlor sich im grauen Februarmatsch, die Freude war futsch. Und ihm, als Vater, mit kalten Füssen im Matsch, war klar: So geht das doch nicht.
Bescheidenheit ist Ausrede Denn ob es ein Geburtstagsessen ist, eine Turnstunde, ein Besuch bei Freunden, eine Sitzung, ein Meeting – oder eben ein Maskenumzug: Auch, wenn sich der eingefleischte Bescheidenheitsschweizer, der ewig zurechtgewiesene Deutsche in einem weigern, auch, wenn sich Calvin und die Päpste der antiautoritären Erziehung und alle coolen Miesepeter und Kleindenker in uns verbünden wollen und auch, wenn wir Bescheidenheit heischen und leisetreten wollen, um ja nichts falsch zu machen: Es hilft alles nichts. Man muss es einfach auch mal gross machen! Man muss der Sache dienen, für die man geht. Man muss einen Anlass würdigen. Man muss die Mühe, die Sorgfalt, das Geschick und das Glück wertschätzen, die es möglich machen, das wir hier alle an diesem Tisch sitzen und gemeinsam feiern, essen oder arbeiten. Und nein, es braucht kein grosses rhetorisches Talent, um die Eltern der Kinder zu begrüssen, die Kostüme zu loben, die Konfetti zu verteilen und die Route bekannt zu geben. Darum, bitte: Wir müssen ja nicht uns grossmachen. Wir brauchen auch nichts zu erfinden. Aber wir sollten erkennen, was gross ist und es würdigen. Klar, ganz einfach ist das nicht immer. Denn um Dinge gross zu machen, braucht es Mut.
Grösse ist oft leer Den Mut etwas gross zu machen, sollten wir also würdigen. Uns immer hinter unserer Bescheidenheit zu verstecken, ist feige. Und doch gilt auch: Grösse ist oft leer. Grösse ist oft nur Verpackung. So ist der Palast des letzten Königs von Laos in Luang Prabang ein imposantes Gebäude. Den buddhistischen Tempeln nachempfunden, von denen einer zur Palastanlage gehört, spielt der Palast mit dem vielfachen Schwung der Dächer, er eröffnet einen grossen Vorhof und ergeht sich in weitläufigen Innenräumen. Es gibt Schnitzereien und Malereien: Pracht, die von den französischen Kolonialherrn für den König in ihren Diensten hergestellt wurde. Im Nebengebäude aber stehen die Autos. Ein Citroën DS rostet vor sich hin, ein gewaltiger Amerikaner steht achsbrüchig im Schatten, ein Jeep bröckelt unter seinem Verdeck. Und diese Autos eben zeugen von einer Grösse, die schon hohl war, als sie demonstriert wurde. Denn wo sollte der König von Laos seine gewaltigen Amerikaner ausfahren, in einem Land, das den Verkehr über den Mekong auf unzähligen kleinen und einigen grossen Booten abwickelt und damals kaum Strassen kannte?
Der Rausch der Dinge An diese Autos erinnere ich mich, die mehr erzählen über den König von fremden Gnaden als alle Schautafeln im militärisch bewachten Palast. Nutzlose Grösse. Und ich erinnere mich an den Nachtmarkt in Laos, die Verkaufsstände in der Hauptgasse, die Essbuden in den Nebengassen. Ich erinnere mich an das Drängen, Schieben, Stossen und Gestossenwerden im Lärm und im Rauch der unzähligen Grillstände. Hühnerbeine, ganze Fische, Fleischspiesse, Langusten, Flügelstücke und Würste türmen sich über der Glut. Der schwere Mann am heissen Grill fächelt Luft, und von seiner Stirn läuft der Schweiss ins Russgesicht. Er steht und fächelt und wendet die Fleischstücke und trinkt Wasser aus der grossen Flasche und lässt es gar werden, gar und gross. Die nächste Marktfrau herrscht über ein Reich aus Reis, glänzenden Glasnudeln mit Gemüse und goldgelb gebratenen Nudeln mit Ei. Glasierter Kohl, frittierter Fisch im Bierteig und Unmengen von Salat warten auf hungrige Käufer. Auf dem Präsentierteller liegen fettglänzend vier Hühnerköpfe samt Hals zum Verzehr bereit. Diese Fülle, dieses Gedränge, dieser Rausch des Kochens, Bratens und Essens in der fremden Stadt, das ist gross und betörend. Auf diesem Marktplatz der prallen Sinnen zählt, was Masse, Fülle und Imposanz hat. Wer hier nicht geniesst, geht unter im Strom des entfesselten Genusses.
Imposanz Diese Grösse kann auch erschrecken, weil sie kein Mass – und keine Moral kennt. «Make America great again» ruft da einer und wird Präsident und erschreckt, weil sein Bluff, das Banale und das Monströse plötzlich wahr werden. Grösse imponiert und erschreckt. Vielleicht habe ich deshalb eine ambivalente Einstellung gegen Männer mit richtig dickem Bauch: Wie sich das Hemd vom ersten ist zum letzten Knopf über dem Bauch spannt! Ich schaue an mir herab und finde mich klein und zögerlich und ich beneide den Chuzpe dieses Mannes in seinem längs gestreiften Hemd und den unter die Gürtellinie gerutschten Jeans: Er trägt seine Masse durch die Strasse, wo ich mit meinen wenigen Pfunden geize und hadere und zögere. Wie kleinmütig bin ich! Und wie streng mit mir selbst und ohne Humor und Mut, mich der Welt Preis zu geben. Für wen spare ich mich denn auf? Oder diese hoffnungslos reiche Frau, die über und über voll teuren Kleidern und glänzendem Schmuck hängt. Schön wird sie nicht damit: Aber sie trägt die teuren Sachen und trotzt der Verachtung der schönen Armen. Seid schön und neidisch, ich bin hässlich und reich, sagt sie, und wie fragil sie bei alldem ist! Gross muss nicht schön sein – und das Schöne muss nicht gut sein und Moral ist nicht geschenkt.
Grösse braucht GrösseIch wandere mit Martin vom Niederhorn zu den sieben Hengsten. Der Weg verläuft über weite Strecken auf einem Grat, man sieht fern in die Hügelzüge des Emmentals, grün sind sie und versprechen Schatten und Kühle in ihren Wäldern. Auf der anderen Seite erheben sich Eiger, Mönch und Jungfrau. Ich sehe sie an klaren Tagen auch von fern, von der Lorrainebrücke in Bern, wenn ich zur Arbeit gehe. Dann sehe ich sie als ferne Verheissungen im ersten Morgenlicht, wenn ich noch im Schatten bin, oder ich sehe sie abends, im Herbst, rot und fern aufflammen wie alles Schöne, das vergeht. Aber hier, vom Grat zwischen dem Niederhorn und den sieben Hengsten aus, sehe ich erst ihre ganze Grösse. Eiger, Mönch und Jungfrau: Martin und ich sehen, wie sie sich von Flanke zu Flanke, über Steilwände, Abhänge, Schrunden, Felsabstürze, Brüstungen, Podeste, Kamine, scharfe Gräte und jähe Zacken aufbauen, ich sehe die Gletscherzüge, die Schneefelder, die nackten Felsen. Ich sehe die Berge als grosse Gestalten der Zeit, die in Millionen von Jahren gewachsen sind und in dieser Sekunde in voller Pracht dastehen. Und ich erkenne: Man muss eine gewisse Höhe erreicht haben, um zu sehen, um wie viel höher diese Berge sind und um ihre Grösse ermessen zu können. Vom Gemmenalphorn auf 2061 Meter über Meer, wo wir stehen, wird fassbar, dass es noch einmal mehr als zweitausend Meter hinauf geht bis zur Jungfrau auf 4158 Meter über Meer. Was vom Flachland her gesehen zwischen den Hügeln verschwindet, zeigt sich hier in seiner wahren Grösse.
Wir sind klein Es ist also nicht wegzureden: Wir Menschen sind klein. Klein neben dem Berg, klein auch vor der Schlagzeile des Tages, jeden Morgen. Ich löffle mein Morgenmüesli, blättere in der Zeitung und frage mich, warum ich mir den Tag mit diesem Cocktail aus desolaten Nachrichten verderbe, bevor ich auch nur einen Zug frische Luft getankt habe. Was soll ich mich interessieren und informieren und aufregen? Angesichts der unsinnigen Kriege, ausgelöst durch Missgeschick, Eitelkeiten, Borniertheit und ideologisch verbrämte Interessen, bin ich unsäglich klein. Klein und verschont, das ist wahr. Ich lese zum Frühstückskaffee die Reportage von einer syrischen Mutter, die mit ihren vier Kindern seit fünf Jahren in Italien festsitzt. Ihre Familie wäre in Deutschland, dort gäbe es für sie Unterstützung, Perspektiven, Möglichkeiten – aber sie kann nicht ausreisen. Sie bleibt in Italien hängen, hangelt sich von Unterkunft zu Unterkunft, landet dazwischen auf der Strasse, hangelt sich weiter, hofft, verzweifelt. Ich habe mir Rosinen in den Porridge gemischt und ihn mit Ahornsirup bekömmlich gesüsst. Wie klein sind meine Probleme im Angesicht der Welt. Soll ich News-Fasten, damit mir mein Frühstück nicht auf dem Magen liegt? Man soll sich nicht über Dinge aufregen, die man nicht ändern kann, denke ich mir und lege die Zeitung weg. Man soll nicht ignorant sein, denke ich mir und hole die Zeitung zurück. Und vielleicht fällt mir auch nicht viel Besseres ein, als die morgendliche Bewusstseinslücke mit News zu füllen, die ein bisschen meine Neugierde, ein bisschen meine Sensationslust und selten meinen Verstand füttern. Und so lese ich weiter, klein in der grossen Welt, mit Milchschaum auf dem Kaffee.
Die Grösse und Nichtigkeit des Menschen Denn so ist es: Der Mensch ist ein flirrender Punkt von schwankender Bewusstheit in einer schwankenden Welt, die ihn in allem an Grösse übersteigt. Unsere Lebenszeit ist begrenzt, unser Einfluss ist klein, die Beweggründe, die Folgen und die Bedeutung unseres Handelns überschätzen wir masslos, denn unser Handeln bewegt letztlich wenig auf dieser Welt. Blaise Pascal, der grosse Philosoph an der Schwelle zur Neuzeit, sagte es ganz genau: «Der Mensch ist nur ein Rohr, das schwächste der Natur, doch ein denkendes Rohr. Es ist nicht nötig, dass das ganze Universum sich bewaffne, ihn zu zermalmen. Dampf, ein Wassertropfen genügt.» Pascal hat seine «Pensées» um das Jahr 1657 geschrieben. Der Dreissigjährige Krieg hatte Europa heimgesucht und Deutschland verwüstet: In manchen Landstrichen starben zwei von drei Menschen, die da gelebt hatten. Die Nichtigkeit des Menschlebens lag allen vor Augen, der Unsinn der Kriege, die Menschen anzettelten, die Belanglosigkeit ihrer Gründe. Und wo der Krieg nicht den Tod brachte, da tat es die Pest – und die könnte jener Dampf und Wassertropfen sein, von dem Blaise Pascal spricht. Und so ist es: Der blosse Blick in den Nachthimmel macht erfahrbar, wie winzig der Ort ist, der uns Menschen die Welt ist. Und noch der Stein, den wir mit unserem Fuss wegkicken, trägt in sich jene Abermillionen von Jahren, die die Welt ohne Menschheit ausgekommen ist. Blaise Pascal breitet das alles aus, die Nichtigkeit des Menschen im Verhältnis zu Raum und Zeit und in Anbetracht seines von Eitelkeit getriebenen Tuns. «Alles Unheil kommt von einer einzigen Ursache, dass die Menschen nicht in Ruhe in ihrer Kammer sitzen können», schrieb dieser strenge Moralist über die Menschen dereinst. – Wie imposant ist die grosse Kraft des moralischen Urteils in diesen Worten. Was für ein Rigorismus, der auch schon wieder rauschhaft ist und was für ein Talent, die Dinge wirklich gross zu denken! In seinem Gedanken über den Menschen als denkendes Rohr, das dem Universum hoffnungslos unterlegen ist, von einem Luft- und Dampfhauch auszulöschen, fährt er fort: «Doch wollte ihn das Universum zermalmen, wäre der Mensch höher, als was ihn tötete, denn er wüsste: Dass er stirbt. Und von dem Vorsprung, den das Universum vor ihm hat, weiss es nichts.» Das also ist die Grösse des Menschen: Sein Denken. Sein Bewusstsein. Sein Wissen von der eigenen Existenz. «So besteht unsere Würde vollkommen im Gedanken. Von ihm haben wir aufzubrechen und nicht vom Raum und der Zeit aus, die wir nicht erfüllen könnten. Arbeiten wir daran, gut zu denken: Das ist das Prinzip der Moral.» Gross denken Das also ist der Schlüssel zu einer Grösse, die dem Universum trotzt, wenn es uns mit Banalitäten belagert: Das Denken. Die Einsicht in all die Begrenzungen, denen wir unterliegen, die Einsicht in die Unzulänglichkeiten unseres Tuns und in die Vergänglichkeit unseres Strebens. Aber auch die Einsicht in die Einzigartigkeit unserer Existenz, die noch ein Wunder ist, wenn sie scheinbar banal vor sich her dümpelt, die eine Feier der Sinne ist, wenn wir uns ihr öffnen, und die ein Fest der guten Gesten ist, wenn wir sie denn wahrnehmen. Wie einfach ist es, alles kleinzureden, wie schwierig ist es, die Grösse in den Dingen zu sehen. Aber wir haben keine Wahl: Wir müssen es gross sehen, gross denken und gross lieben, denn es ist unser Leben. Die Kostüme sitzen, die Masken glitzern, die Schminke haftet: Der Umzug beginnt! Machen wir ihn gross.