DER Trost im Sauerfleisch
Wenn die Worte in der Kirche leer verhallen, findet der Magen Trost in der Beiz .»
Text: Frank Keil
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Nach dem Tod meiner Schwester telefonierte ich mit unserem Vater wieder häufiger.
Nicht so wie vorher, als ich meinte halbwegs erwachsen geworden zu sein und ich meist am Sonntagnachmittag überlegte: komm, hab dich nicht so, ruf den alten Herren an, er weiß ja gar nicht, was du machst und es wird nicht lange dauern. Und ich setzte mich in den knarrenden Rattanstuhl, der in unserem nachlässig möblierten WG-Gemeinschaftsraum stand, wählte die Nummer und wickelte bald die Telefonschnur um meine rechte Hand. Nun aber sprachen wir länger und gern miteinander, erzählten uns, was uns bewegte, bis sich das wieder verlief. Und eines Tages (kurz nach dem Tod meiner Schwester eben) fasste mein Vater sich ein Herz, wie man so sagt: Er hätte in der Zeitung von einem Trauergottesdienst gelesen und einem anschließenden Trauergespräch für Angehörige, näher oder ferner, ob wir da nicht hingehen wollten. 18 Uhr ginge es los, er käme von der Arbeit, ich vielleicht von der Uni, vor der Eingangstür könnte man sich treffen, das würde doch passen. Er würde sich nun nicht allzu viel davon versprechen, aber vielleicht würde es helfen, vielleicht etwas erklären, vielleicht den Schmerz ein wenig lindern, der sich zwar schon zurückgezogen hatte, der aber noch lauernd da lag, seit vor ein paar Monaten der nicht allzu große Sarg mit meiner Schwester und seiner Tochter in der Erde versenkt worden war, an einem windigen Septembervormittag. Erst kam Gott Die Kirche, eine der Hauptkirchen unserer Stadt, war gut besucht, war bald bis fast auf den letzten Platz besetzt. Die Garderobenständen fielen unter der Last der fortlaufend aufzuhängenden Mäntel und Jacken immer wieder um und wurden ebenso entschieden wieder aufgerichtet. Schneematsch, den man unbekümmert hereingetragen hatte, taute zwischen den Gängen. Es wurde zunächst viel gesungen, laut und mit Inbrunst und eben viel. Und als es hätte genug sein können, kam noch ein Stück für Orgel und Chor und dann ein weiteres für Chor und Orgel. Dann kam Gott. Das war nicht überraschend, auch nicht unerwartet, ging auch in Ordnung (wir waren in einer Kirche, einer Hauptkirche), dass Gott kommen würde, um uns Trost zu spenden und uns Kraft zu geben, um zu helfen, das Unverständliche vielleicht ein wenig besser zu verstehen, möglicherweise, das wäre gut, das wäre hilfreich. Aber erstaunlich schnell wurde Gott zur Seite geschoben. Er kam kaum zum Ausreden. Wie man einen seltsamen Onkel, von dem man fürchtet, dass er inmitten einer sich sammelnden Familienfeier an ein Glas klopfen und etwas Unpassendes sagen könnte, schon mal vorab ans Büfett bugsiert, wurde Gott untergehakt und sachte weggeführt. Und dann kamen die drei Professorinnen. Wahrscheinlich waren nicht alle drei Professorinnen, eine aber war es gewiss, ich kannte sie vage vom Namen her aus dem Radio und manchmal aus dem Fernsehen, wo sie gerne befragt wurde, zu dem, was in unserer Stadt oder der Welt passierte und schief ging oder gänzlich aus dem Ruder lief, worauf sie eben so gerne etwas antwortete. Da standen sie nun zu dritt, in langen, eher schweren Kleidern. Und sprachen abwechselnd über den Tod und das Leben und das Sterben. Jedenfalls: Es sei ganz einfach mit dem Tod, sozusagen, der Tod gehöre zum Leben, so wie das Leben zum Tod gehöre. Eines sei ohne das andere nicht denkbar, auch nicht zu bekommen, zwei Seiten einer Medaille, das sei auch der Kern aller Religionen, alles komme am Ende wieder zusammen, füge sich, das Leben, der Tod, ein Kreis. Und das Sterben ein Prozess, vom ersten Atemzug an ginge es auf das Ende zu, unausweichlich, Tag für Tag. Ich hatte diese magere Botschaft recht schnell verstanden: Tod gleich Leben und Leben gleich Tod. Und auch die Folgen waren nicht weiter verwunderlich: Wenn wir nämlich den Tod nicht als Tod, sondern als Teil des Lebens verstehen würden und das Leben als Teil des Todes, dann wäre das Sterben nichts anderes als ein Übergang von der einen Welt in die andere, den man nun nur noch sanft zu begleiten habe. Es war nicht immer genau zu unterscheiden und herauszuhören, wer von den dreien sprach (die Akustik war so lala, die Stimmen hallten in dem hohen Kirchenschiff doch sehr zeitversetzt nach), aber es war genau genommen auch nicht entscheidend. Und der Clou wäre: hätte man das erst einmal verstanden, es angenommen, das mit dem Tod und dem Leben und dazwischen dem Sterben, würde man den Tod nicht weiter verdrängen, wie das die meisten von uns machen würden, dann erst würde man den Tod akzeptieren und also das Leben leben können und alles wäre gut, sonst aber nicht. Ich hatte etwas mehr erwartet. Erwartete noch immer, dass noch etwas kommen würde (etwas kommen müsste! bei den vielen Leuten!), etwas Frisches, vielleicht etwas Provokantes, wenigstens eine offene Frage zu uns, wo es uns erkennbar nicht gut ging, wie wir da geknickt und auch verschreckt einer neben dem anderen hockten, denn wir hatten alle jemanden aus unserer Mitte verloren und das für immer und ewig und beileibe nicht nur symbolisch. Aber es kam nichts. Dann eine Portion Sauerfleisch Mein Vater saß da, vorn übergebeugt, er ist ein großer, massiger Mann gewesen (ich würde nie so körpermächtig werden), er hatte das gerötete Gesicht in seinen Handflächen verborgen und atmete tief ein und aus. Ich wusste das nicht recht zu deuten. Aber ich muss ihn aufmerksam genug von der Seite angeschaut haben, er streckte den Rücken durch, er ließ die Hände sinken und sah mich an: "Ist das schrecklich!", flüsterte er. Ich war mir nicht ganz hundertprozentig sicher, ob ich richtig lag. "Wollen wir uns nicht gleich hier mit hinlegen, so großartig wie das Sterben und das Totsein sein muss?", sagte er halblaut. Ich nickte vorsichtig und fragend Richtung Ausgang. "Komm, lass uns ein Bier trinken", sagte er mit fester Stimme. Dann quetschten wir uns durch die Kirchenbänke. Wir gingen über den Kirchhof in die nächste Kneipe, wir zogen uns nicht mal unsere Mäntel über. Wir eilten einfach so durch die raue, anbrechende Nacht, durch das nun dünne Schneegestöber. In der Kneipe war es laut und eng und aufregend warm; Männer und einige Frauen, die von der Arbeit nicht nach Hause wollten, lärmten durcheinander und manchmal kreischten sie aus dem Stand heraus laut auf. Im Hintergrund warfen einige Männer Pfeile auf eine Scheibe, schüttelten zuweilen die Fäuste oder klatschten sich gegenseitig auf die Schultern und verschwanden wieder im Dunst. Damals wurde noch mit Lust und Freude und vor allem mit aller Entschiedenheit geraucht. Wir setzten uns an einem Tisch dazu, wir mussten nicht viel reden. Wir bestellten ein Bier, dann noch eines. Dann jeder eine Portion Sauerfleisch. Noch ein Bier, je so ein frisch gezapftes Bier, bei dem sich der erste Schluck immer wieder wie neu anfühlt. Und dann saßen wir da, er und ich, und dachten an unser junges Mädchen, das keine Chance bekommen hat, hier einmal mit uns zusammenzusitzen. |