Der Sprung meines Lebens
Ich leide an Höhenangst, mein Leben lang schon. Reicht nun ein "Alles ist gut", um sie zu heilen? Ein Selbstversuch.»
Text: Dominic Wirth
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Drei...“, zählt Xandi, energisch und viel zu laut. Laut genug für die Gäste der Berghütte, die jetzt alle stehen, mit gereckten Hälsen und gierigen Blicken. Blicken, die nur darauf warten, dass ich loswimmere, mich aus dem Gstältli winde, mit dem ich wie ein kleines Kind an Xandi und dem Gleitschirm hänge. Noch liegt der Gleitschirm ruhig da. Aber gleich, wenn wir auf unseren Skiern die steile Piste hinunterschiessen, wird er sich mit Luft füllen, wird uns in den Walliser Himmel hinaustragen, hoch über das Obergoms mit seinen mächtigen Gipfeln, die sich schneebedeckt auftürmen.
Mein Herz tobt, der Magen krampft sich zusammen. Aus der Sache komme ich wohl nicht mehr raus, denke ich, da müsste ich mich jetzt ganz clever anstellen. Einfach hinlegen, das könnte man machen. Oder weinen. Oder zu früh wegfahren, die Piste runterdonnern mit meinen lächerlichen kleinen Skiern, hinein in den Wald, und dort eine Hütte bauen und bleiben. „Zwei...“, zählt Xandi. Eine Entscheidung muss her. Hinlegen? Weinen? Abhauen? Wenigstens noch eine Zigarette. Oder Schnaps. Doch Xandi ist schneller, „eins... und jetzt losfahren!“. Ich zaudere, verkrampfe. Die Beine, bleischwer, gehören nicht mehr zu meinem Körper, entwickeln eigenes Leben, bocken wie ein störrischer Esel. Ich frage mich: Wie konnte es bloss so weit kommen? Ich war an diesem Tag im Januar losgezogen, um eine Angst zu besiegen. Eine Angst, die schon seit Jahren in mir schlummerte, seit einer Wanderung im Alpstein. Damals, ich war kaum zehn Jahre alt, stieg ich mit meinen Eltern auf den Hohen Kasten. Plötzlich, unter einer steilen Felswand, versagten meine Beine, wollten nicht mehr weiter und auch nicht zurück. Die Angst war geboren. Und so mied ich fortan luftige Höhen, ging mit Mami bei Wanderungen den sicheren Weg, während meine kleinen Brüder hoch über mir durch die Felsen turnten. Setzte mich im Kölner Dom auf halber Höhe auf eine Bank, um mir später vom wunderbaren Ausblick erzählen zu lassen. Schimpfte unter dem Eiffelturm über die zu lange Schlange, fürchtete beim Abstieg in den Grand Canyon ein nahendes Gewitter. Ich hatte meine Höhenangst akzeptiert, mir ein Leben mit ihr zurechtgelegt, die Furcht vor der Höhe als klein und unwichtig abgetan. Doch dann kamen die vergangenen Weihnachtsferien. Ich sah einen Mann, der an einem Gleitschirm hing und Skier an den Füssen hatte. Immer wieder sauste er aus der Höhe in die verschneiten Hänge, zeichnete eine Kurve in den Schnee, schoss in den Himmel. Kreiste über dem Hang, um dann wieder hinunterzudonnern. Was dieser Mann da machte sah nach Freiheit aus und nach Leichtigkeit, nach Grenzenlosigkeit. Ich war begeistert, wollte auch, recherchierte im Internet. Para-Skiing: ein Gleitschirm, 15 bis 35 Quadratmeter Fläche. Je kleiner, desto schneller und wendiger. Neun Stammseile zum „Gstältli“ des Piloten, 160 Aufhängepunkte am Schirm. Zwei Skier an den Füssen. Ein Startpunkt in einem Berghang, steil genug, um abzuheben. Flach genug, um die Fahrt vorher zu überleben. Und ich stiess auf Xandi Furrer, Fluglehrer aus Fiesch im Oberwallis. Der einzige Anbieter von Tandem-Flügen in der Schweiz. Wahrscheinlich ist das keine gute Idee, dachte ich mir. Da macht man sich bloss in die Hosen. Steht am Hang und bricht doch noch ab. Die ultimative Demütigung, nach all den kleinen, über die Jahre verteilten. Ich las ein wenig über die Höhenangst. Fand heraus, dass sie zur Gruppe der phobischen Störungen gehört, Akrophobie genannt. Eine pathologische, also krankhafte Angst, „der Situation erkennbar nicht angemessen, für den Betroffenen weder erklärbar, noch beeinflussbar, noch bewältigbar“. Ja, das kommt hin, dachte ich mir, und stiess bald auf das Kapitel zu den Ursachen. Das war lang, sehr lang, aber eine Erklärung setzte mir besonders zu: „die Angst als Persönlichkeitseigenschaft, als genetische Disposition“. Aha. Eine Memme, von Geburt an. Fein. Und passend. Lieber nicht zu schnell fahren. Lieber nicht an den pöbelnden Teenagern vorbei. Einmeter statt Fünfmeter. Ich las weiter, kam zu den Therapieformen. Konfrontation, graduell: Turm, Seilbahn, Felswand - immer höher hinauf, Schritt für Schritt. Oder frontal: alles, auf einen Schlag. Und weil gerade ein neues Jahr anbrach und weil ich gerade herausgefunden hatte, dass ich eine Memme war, genetisch, griff ich zum Hörer und rief Xandi Furrer an. Und so sass ich an einem Tag im Januar im Zug von Zürich nach Fiesch, einem Tag, an dem ich früh aufgewacht war, mit Knoten im Magen und zittrigen Fingern. Und je näher der Zug dem Wallis kam, je höher die Berge zum Himmel ragten, desto grösser wurde der Knoten, desto zittriger wurden die Hände. "Ich tat so, als ob ich wollte."
In Fiesch schlich eine Katze über die Geleise. Chalets mit roten und blauen Fensterläden prägten das Dorfbild, die Holzfassaden braun gebrannt von den Jahren an der Sonne. Aber ich hatte keine Zeit für diese Idylle, hastig eilte ich zur Talstation der Bergbahnen, wo mich Xandi Furrer erwartete. Der Mann, dem ich mein Schicksal in die Hände legte. Mein Therapeut, der nichts wusste von seinem Glück. „Salü, ich bin der Xandi. Schon nervös?“, fragte er, die Haare zerzaust, die Mammut-Skijacke halboffen, im Gesicht die Konturen der Sonnenbrille und ein verschmitztes Lächeln. „Neinnein“, sagte ich lässig. Aber Xandi klopfte trotzdem väterlich auf meine Schultern, er hatte wohl schon einige tapfere Unterländer kennengelernt. Und tatsächlich: Am liebsten hätte ich mich in seine Arme geworfen, denn nun, da sich der Berg vor mir auftürmte und ich die Seilbahn sah, in die ich gleich steigen sollte, hatte ich die Hosen voll. Richtig voll. Und es wurde nicht besser, als der lustige Xandi in der Gondel bei jedem Mast „Oooohhh“ schrie und sich vor Glück kaum mehr einkriegte. Und es wurde auch nicht besser, als Xandi erzählte, was er doch früher für ein wilder Hund gewesen sei. Mit ganz kleinen Schirmen habe er sich vom Berg gestürzt, manchmal auch von Felswänden, Speedflyer hätten sie sich genannt, eine kleine Gruppe waghalsiger Männer. Aber dann habe er jedes Jahr zu einer Beerdigung gemusst. Da habe er sich zurückgezogen aus der Szene. „Aber wenn du willst, kann ich nachher schon mal durchdrücken, dann weisst du ungefähr, wie das war damals“, sagte er noch, und ich grinste schief und tat so, als ob ich wollte.
Oben angekommen, schnallte mir Xandi Skier an die Füsse, Kinderskier mit Snowboardbindung. „Das reicht, du musst nur geradeaus fahren, bis wir abheben“, antwortete Xandi auf meinen fragenden Blick. Wir fuhren zum Startpunkt, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten unterwegs, weil die Beine zitterten und die kleinen Skier. Als wir ankamen, schoss gerade ein anderer Paraskiier in die Luft hinaus, schwebte bald hoch über uns, und erst jetzt wurde mir bewusst, worauf ich mich eingelassen hatte. Ich hatte in meinem Leben die Hände noch nie über dem Kopf zusammengeschlagen, aber nun tat ich es. Xandi zerrte derweil den Gleitschirm aus dem mächtigen Sack, entwirrte Seile, prüfte Haken. „Sorgfältig, mein guter Xandi, bitte sorgfältig“, dachte ich, während Xandi etwas von Knöpfen in Seilen murmelte, die wir nicht brauchen könnten. Dann musste ich in mein Gstältli steigen, Xandi hakte die Verschlüsse ein, die mich gleich tragen sollten. Lumpige drei Verschlüsse. Zurrte meinen Helm fest. Dann begann Xandi zu zählen: „Drei..., zwei..., eins..., und jetzt losfahren!“ Und ich wuchte die steifen Beine auf die Kinderskier, „Augen zu und durch“, denke ich noch. Dann fahre ich los, hinter mir Xandi und der Gleitschirm, wir werden schneller und schneller und die Piste steiler, und plötzlich ein Ruck, und dann schweben wir über der Piste. Das gefällt mir ganz gut, denke ich, wie wir da durch die Luft schweben, unter uns die Skipiste und verschneite Chalets und Bäume. Aber Xandi will nicht schweben. „Schau mal, was passiert, wenn ich an diesem Seil ziehe“, sagt er noch, dann zieht er, und wir fallen scharf nach rechts, zur Piste hinunter. Der Magen protestiert, ich stöhne vor mich hin, die Hände umklammern sich. Dann zieht Xandi an seinem linken Seil, und wir jagen über ein paar Baumwipfel in die Höhe. Weit unter uns liegt das Tal, Fiesch döst vor sich hin, während ich japse und Xandi schon wieder an seinen Seilen zieht, nach links, nach rechts, der Gleitschirm bald neben, bald über uns, ich will weinen und lachen, entscheide mich fürs Lachen. Lache wie von Sinnen und merke, dass der eigene Speichel an der Backe klebt, will ihn wegwischen, aber die Hände umklammern sich noch immer. Xandi lässt mich gerade wieder ein wenig schweben, wir schweben weg vom Wald, in die Mitte des Tals. Tief unter uns hat jemand einen roten Punkt in den Schnee gesprüht. „Jetzt geben wir noch ein bisschen Gas“, brüllt Xandi, dann zerrt er wieder an seinen Seilen, und wir donnern aus 150 Metern zum Landepunkt. „Spürst du die Schwerkraft?“, fragt er, und ich stöhne und ächze und verfluche diesen Mann, der wie wild an seinen Seilen zerrt und immerzu in die Walliser Berge jauchzt. Als wir endlich landen, liege ich eine Weile wie benommen im Schnee, die Beine zittern, ich schnappe nach Luft. Der Kopf fühlt sich leer an und leicht. Xandi lacht, als er mir meine Kinderskier abmontiert, wir hämmern unsere Fäuste gegeneinander, er plappert, ich nicke und lache und verstehe kein Wort. Das Adrenalin rauscht noch immer durch meine Adern, verunmöglicht jeden Gedanken. Nur ans Kotzen denke ich immerzu, eine ganze Weile noch, auch als ich mich längst aus Fiesch verabschiedet habe. Erst als der Zug aus dem Lötschberg-Tunnel ins Berner Oberland taucht, kann ich wieder einen klaren Gedanken fassen. Und ich denke darüber nach, was als nächstes kommt. Der Eiffelturm vielleicht? Oder doch der Kölner Dom? Nein. Der Hohe Kasten soll es sein. |