Der Himmel meines Bruders
Eine Essay über den Umgang mit dem Tod.»
Text: Ivo Knill
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Auf dem Tisch, oben im Vorraum zum Büro: Eine Flasche vom guten Whisky. Ein leeres Glas. Der Stuhl steht angewinkelt und lädt zum Sitzen ein. Unten, auf dem Stubentisch, liegen letzte Sachen. Seinen Ring hat er hier abgelegt und die Uhr. Er hat die Krone gezogen, so dass sie auf sieben Uhr steht. Medikamente. Schreibzeug, Notizbücher. Und ein Abschiedsbrief: Auf wenigen Zeilen dankt er allen Freunden und Angehörigen für die guten Momente und er bittet uns, seinen Entscheid zu verstehen. Dann ist er hoch, in den oberen Stock, hat den Whisky getrunken und ist gegangen. Durch jene Türe, durch die kein Körper geht, da ist er durch, und seinen Körper hat er dagelassen. Und alle Rätsel und Fragen, die aufgehen, wenn ein Mensch seinem Leben ein Ende setzt.
Der unsichere Punkt nach einem Tod Mein Bruder hat sich das Leben genommen. Ist aus dem Leben geschieden. Abgehauen. Umgebracht hat er sich. Selbstmord hat er gemacht. An einem Selbstmord gestorben. Die Nachricht erreichte mich in Japan. Am Telefon war ich gefasst – als ich den Hörer auflegte, begann mein Körper zu verstehen und die Gefühle regten sich. Schmerz, Schuld und Scham. Das Gefühl, versagt zu haben, nicht geholfen, nicht Kontakt gepflegt, nicht nachgefragt zu haben. Ich schrieb. Ich fand Trost, wenn ich auf die Spur der Erinnerungen ging und mir gute Erinnerungen an den Bruder vergegenwärtigte. So oft ich vor den Gefühlen der Bodenlosigkeit, der Scham und der Schuld stand, stellte ich mir eine Waage vor. In die eine Schale liess ich alles fallen, was für den Tod stand und ihm recht geben wollte: Wieso weiterleben? Wieso je wieder Freude haben, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist? Wieso sich freuen, wenn das Leben doch endlich ist, wenn eines Tages alles vorbei und zu nichts geworden ist? In die andere Waagschale legte ich, was für das Leben sprach: Die Erinnerung an alles, was ich an meinem Bruder geliebt hatte. Die Beobachtung, dass die Sonne weiterhin schien. Dass ich atmete, dass in mir Leben war, trotz allem. Ich verbot mir nicht die Bodenlosigkeit, aber ich übte mich darin, die andere Waagschale auch zu füllen und ich hielt mich dazu an, ehrlich zu bleiben. An der Trauerfeier hielt ich eine Rede. Ich schilderte Erinnerungen an den Bruder. Ich gewann ein Bild auf ein ganzes Leben, ein Leben, das Sinn machte. Aber ich wusste auch, dass der Punkt, den ich mit diesen Worten hinter den Tod meines Bruders setzte, ein vorläufiger war. Ich wusste, dass ich wieder und wieder zwischen der Sache des Todes und der Sache des Lebens schwanken würde – und so war es auch: Trauer ist langsam. Man muss Argumente für das Leben finden. Das dauert. Im Sommer hatte ich das Gefühl, wieder Boden gefunden zu haben. Ich hatte drei Wochen frei, Zeit für Projekte, Zeit, endlich mal nichts zu machen, aber was ich tat, war alles ohne Ruhe. Ich war verwirrt – und merkte erst, als ich in die Ostschweiz fuhr, dass es noch einmal um ihn gegangen war. Dass die Unruhe aus dem Untergrund gekommen war und ich noch immer weit davon entfernt war, einen Punkt hinter den Tod des Bruders zu setzen. Was übrig bleibt Ich bin zusammen mit sechs Geschwistern gross geworden. Auf dem Foto von der Taufe meiner jüngeren Schwester sind alle da, aufgereiht, gruppiert, dem Leben und der kleinen Schwester zugewandt. Ein schönes Bild, aber die Ruhe und Ordnung auf der Fotografie täuscht. Normalerweise waren wir in ständiger Bewegung. Immer war jemand krank, hatte den Arm im Gips, eine Reklamation von einem Nachbarn am Hals, die Mappe für die Schule unter dem Arm oder kam vom Klettern oder einer Reise oder vom Spital oder spielte auf der Gitarre oder war um Mitternacht noch nicht zuhause oder war schon zum gleichen Lehrer gegangen wie ich: Alles war immer da, alles war immer in Bewegung, alles war immer anders. Und jetzt, vier Monate nach der Beerdigung, kommen wir zusammen, um die Wohnung unseres Bruders zu räumen. Und diese Wohnung erweist sich als ein Kosmos aus Bildern, Zetteln, selbstgebauten und entworfenen Möbeln und Gegenständen aus unserer gemeinsamen Kindheit. Wir sind zu viele für die kleine Wohnung, und doch füllen wir die Leere nicht, die er hinterlassen hat. Wir sind hier, um zu entscheiden, was von dieser Wohnung zu behalten ist, was man archivieren muss und was weggehört. Wir arbeiten uns durch die Zimmer, wühlen in Schubladen, heben Blätter von Stapeln, blicken in Notizbücher, greifen in Schränke, blicken unter das Bett. Der Tod und die Abwesenheit des Bewohners dieser Wohnung schafft eine Intimität, die ohne Scham ist: Alles liegt offen. Banales, Bedeutsames, Geheimnisvolles, Staub, Hitze und Nikotingeruch. Alles ist ohne Sinn, alles hat den Zusammenhang des Lebens verloren, und gleichzeitig beginne ich, als ich in Mailentwürfen und Briefen meines Bruders lese, zu verstehen, wie mein Bruder gelebt hatte – grossherzig und verletzlich zugleich. Auch das wird zu einem Bild, zu einem Moment des Verstehens, der mir hilft. Was fehlt Während meine Brüder und Schwestern räumen und hantieren, mache ich Fotos und löse die Zettel, die mein Bruder an den Wänden seiner Wohnung aufgehängt hatte, ab. Die Aufnahmen und die Zettel nehme ich mit. Aber ich nehme auch Rätsel mit. Ganz konkret: Mein Bruder hatte nicht nur Merksprüche formuliert und an die Wände gepinnt – er hatte auch unerklärliche Zahlenreihen notiert. Listen, die ich nicht entschlüsseln kann. Ich knoble, denke an Blutwerte, Höhenangaben, Geheimzahlen – aber ich finde keine Lösung. Dazu kommt eine Fotoserie, die ich mir nicht erklären kann: Mein Bruder hatte fast ein Jahr lang die immer gleiche Aufnahme gemacht: Sie zeigt den Ausblick auf den Säntis und die Hügel, die sich vor ihm aufbauen. Ein Haus, ein Baum im Vordergrund, ein Stück Appenzellerbahnlinie. Aber wozu? Und ich stelle die Frage nach dem Himmel. Mir ist klargeworden, dass ich einen Ort brauche, wo ich und mein Bruder zur Ruhe kommen können. Früher war das der Himmel. Strahlend, glänzend, glorreich, aus Licht und Wolken gebaut. Unsere Vorfahren waren klug: Sie schenkten den Toten ein Reich aus Nichts und Ewigkeit und hielten sie so von sich fern. Als Kind hatte ich daran glauben können, dass Zio Don Agostino, ein Fels von einem Mann, in den Himmel gekommen war, und seltsamerweise glaube ich es noch heute, dass er dort ist. Aber seit mir der Kindheitsglaube abhanden gekommen ist, fehlt mir die Leiter für den Himmel. Und doch merke ich: Wenn ich weiterleben will, dann muss ich einen Ort haben, wo ich den Tod ablegen kann. Dafür waren die Friedhöfe einst gebaut und die Kirchen und alle Tage des Andenkens: Um dem Tod einen Ort zu geben. Einen Ort, wo man das Andenken an die Toten wahrte. Da waren die Toten und darum herum baute man Mauern, um das Leben vom Tod zu trennen. Und jetzt, als ich wieder nachhause fahre, merke ich, dass ich für meinen Bruder einen Himmel wünsche. Der Himmel: Das wäre ja der Ort, in dem das Leben aufgeht und Sinn macht, auch wenn es mit einem Selbstmord geendet hat. Auch wenn dieses Leben dahin geführt hat, dass einer Schluss macht, aufhört und den Löffel abgibt, abhaut. Die andern mit ihrem Leben alleinlässt. Geht. Den Kurzen nimmt. Oder eben die Tür, hinter der der Körper zurückbleibt. Als Kinder hatten wir Federball gespielt, mein Bruder und ich: Brav wie blonde Mädchen liessen wir den Ball hin und her segeln. Oder wir pfefferten ihn in den Himmel, mitten in die Sonne hinein. Oder forderten uns sportiv heraus, zielten, sprangen, hechteten dem Ball nach. Spielten auf Sieg, spielten auf Freude und Effekt. Und dieses Spiel dauerte über die Kindheitstage hinaus ein ganzes Leben. Wenn immer wir uns sahen, nahmen wir das Hin und Her wieder auf, tauschten Worte, trafen, kooperierten, verletzten, riskierten und gewannen. Und jetzt: Franco ist weg, der Ball liegt am Boden und die Sonne ist kalt geworden und das Licht ist leer und nichts macht mehr Sinn. Und so stehe ich da, mit einem Leben, das keinen Sinn mehr macht und frage mich: Was bleibt denn von einem Leben, jetzt gerade beim Räumen mit den Brüdern und Schwestern: Was bleibt denn? Was ausser unserer verwegenen Verlegenheit, aus der wir nun anstossen mit dem Whisky, aus dem er seinen letzten Schluck genommen hat. Dann fuhr ich heim, mit allen Rätseln, mit den Zahlenreihen, die ich allmählich idiotisch finde, weil sie einfach keinen Sinn machen, jeden Tag zwei dreistellige Zahlen. Komme zwei Wochen später wieder, ordne, suche, verliere und finde dann: Den Himmel meines Bruders. Ich habe nochmals einen ganzen Tag in der Wohnung verbracht, habe meine Rätsel nicht lösen können und will doch eine Lösung finden. Nachts um zwölf setze ich mich im Bett auf und schreibe. Und finde heraus, dass ich den Himmel erfinden muss, dass es an mir ist, das ist der Ball, den ich so weit wie immer nur möglich der Sonne entgegenpfeffern musste. Der Mann mit dem Stock Jetzt eben, während diesen wirren Sommertagen, bin ich wieder hier, im Haus. Bin zwei Wochen nach der ersten Räumungsaktion noch einmal durch die halbe Schweiz hierhin gefahren, ins Appenzellerland. Zäh war der Verkehr und ich war zuvorderst an der Gewitterfront, wo der Wind aufpeitschte und Herbst übte und Staub und dicke Regentropfen mischte und dann niedertanzte. Die Flut auf der Strasse wälzte sich gegen die Flut aus dem Himmel. Ich fahre, ich schiebe mit und werde mitgeschoben vom Verkehr und denke hinter den Scheibenwischern an die Welt, in der ich aufgewachsen bin, wie sie heil war, bevor die Brüche kamen und was diese Brüche waren, was sie mir bedeuteten und wieso es diesen Untergang gegeben hatte und wo in meiner Erinnerung ein Trost zu finden wäre. Und vielleicht hätte er dazu gesagt, der Mann mit dem Stock: Flenn mir doch gleich in die Unterwäsche, denn seine Worte trafen, sie verletzten, ihn und alle anderen, auch wenn man sich daran gewöhnte an jenen Sonntagen, in denen der Rauch über der Stube hing – alle rauchten: Zigarren, Zigaretten, Pfeife –, und jetzt sitze ich im Auto und schiebe und dränge gegen den Regen in den Osten. Den Schlüssel zur Wohnung hole ich beim ältesten Bruder, dessen Händedruck mich überrascht, so weich. Dann eben das Haus, ich bin allein, ohne die anderen. Der Aufstieg über die Treppe, die in kurzen, steilen Stufenfolgen hochgeht, das Licht musste ich suchen, dann, noch bevor die Wohnung aufgeht: Frisch als Plakat an der Türe: Das ist die Wohnung der Wörter und da ist der Geruch nach abgestandenem Rauch. Jetzt zeigt sie jenes Maximum an Ordnung, die er noch hergestellt hatte. Es regnet, zum Glück, es wird etwas kühler. «Empört euch» liegt da, und «Land, Land», neben dem Bett: Die letzten Bücher und ein Kassettenrecorder, in dem die Kassette eines Italienischkurses liegt, der so uralt ist, dass er noch vom Rom der Spitzbuben und freien Autoparkplätze zu erzählen weiss. Also: Der Mann mit dem Stock, mein Bruder. Er hat einen Plan aufgestellt. Die Zeiten für die Aufnahmen leiten sich aus dem Gang der Sonne ab. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang. Dazu immer das Datum und immer der Eintrag. Das heisst: Der Mann steht auf, fotografiert, macht eine Eintragung unter dem jeweiligen Datum. Hält fest, wenn die Sicht schlecht ist, vermerkt in seltenen Fällen Verspätungen. Im Sommer, wenn es noch früh ist, legt er sich noch einmal hin. Die Kamera hat er in einer der beiden Nebenkammern zum Büro aufgebaut. Die Kammer ist so schmal, dass er auf dem Bauch zum kleinen, quadratisch auf der Spitze stehenden Fenster robben muss. Da vorne ist die Kamera aufgebaut, auf dem kurzbeinigen Stativ, mit Klebeband sind die drei Punkte markiert, wo es zu stehen hat. Er hat Lammfelle ausgelegt, die das rohe, splittrige Holz überdecken und die warm geben im Winter, wenn er früh morgens oder in der Dämmerung des Nachmittags vor der Kamera in Position geht, um auf den Moment zu warten, um den es geht. Es ist der Moment des Wechsels. Des Übergangs. Der Veränderung, die es jeden Tag gibt. Jeden Tag gibt es dieses unglaubliche Spektakel, dass der Tag sich in die Nacht verwandelt – und einige Stunden später: Dass sich die aussichtslose Dunkelheit der Nacht in Tag verwandelt. Der Mann mit dem aufklappbaren Stock ist kein Idealist. Er meistert ein Leben, dem eine Schwierigkeit beigegeben ist, eine Verletzung, die ein Datum trägt: 1971. Ein Unfall. «Alles, was danach folgt, ist eine Reaktion darauf.» So hat er es notiert auf einem Zettel, der in der Stube auf dem Gestell neben dem Tisch lag. Eine Reaktion oder eben ein Meistern, das auch, wenn Schmerz und Verletzungen wiederkehren, der Disziplin von Listen folgt, die einen Tag auf den nächsten folgen lassen. Der Mann, der hier, frierend vielleicht, - aber was ist schon frieren! - vor der Kamera auf den Moment des Übergangs lauert, hat, als einer, den Schmerzen immer begleitet haben, andern geholfen. War Freund, war grosszügig, war Einladung zum Abenteuer, Meister einer Espressomaschine, die schon allein durch ihr Ritual des Anlassens, Aufwärmens, Druckaufbaus jeden Kaffee zum Genuss werden liess. Jetzt liegt er da, der Abenteurer, der es mehr als genau nimmt, denn es geht ihm nicht um die Metapher, Metaphern sind Unterhosen, die zwei Leute hintereinander tragen. Keine Metaphern, keine Deutungen: Wahrnehmungen: Er liegt, die runde Uhr in der Hand, auf der Lauer. Er drückt ab, er schreibt die Zahl auf. Er robbt zurück, er steht auf, den Stock erlaubt er sich nur als Fotograf, sonst hat er auf zwei Beinen zu gehen. Es gibt Kaffee. Es ist Morgen geworden. Es gibt Bücher, die er noch lesen will, es gibt ein Streitgespräch über Religion, dass er sich noch anhören will. Es gibt den Tag. Es gibt den Schmerz des Missverstandenwerdens. Es gibt die Zuversicht, die aus Freundschaften geschöpft werden kann. Es gibt den Schmerz im Bein, im Rücken. Es gibt die Routine der einfachen Gerichte: Zubereiten, nicht kochen. Bohnen aus der Büchse, Rösti aus dem Beutel. Risotto mit Käse. Fleisch, schnell gebraten. Es gibt die Tage, an denen das Essen nicht schmeckt, keinen Sinn machen will. Es gibt die Erkenntnis: «Seit über fünfzig Jahren denke ich. Was?» Die Erkenntnis wird aufgeschrieben, der Block liegt auf dem Tisch, der mit seinen zwei Stühlen eine Einladung zum Dialog ist. «Zwischen richtig und falsch ist ein weites Gebiet. Können wir uns da treffen?» Es wird Abend. Es wird Zeit für die nächste Fotografie. Der Mann klappt seinen Stock auf, er steigt die Treppe hoch, er geht vor der schmalen Kammer in die Knie, er robbt zum Guckloch, er prüft die Kamera: Die nächste Batterie liegt bereit. Auf der Liste steht, wann die letzte Batterie eingewechselt wurde. Neben der Kaffeemaschine steht, wann die Dichtung gewechselt wurde. Auf der Telecomrechnung steht, an welchem Tag wie viele Megabits hoch- und runtergeladen wurde. Neben der Waage liegt die Liste für das Gewicht, zweimal am Tag ermittelt, dreistellig aufgeschrieben. Der Mann mit dem Stock drückt ab und vermerkt die Zeit. Der Himmel färbt sich. Der Säntis flammt auf. Es wird Abend, es wird Nacht. Himmel Erde Untergründe Das also war der Himmel, das ist immer wieder der Himmel: Das Leben meines Bruders als ganz zu sehen. Auch wenn ich nicht alles verstehe. Einen Himmel zu sehen, der über seinem Leben steht, einen Himmel auch, der über meinem Leben steht, eine Erde, auf der wir uns bemühen, die uns gehört und unseren Kämpfen und Freuden, und unter dieser Erde sehe ich, untergründig, ein Strömen am Werk, das uns alle erfasst und unser Leben bestimmt. Und genau dazwischen, von beidem nur ahnend, von dem was uns ausmacht und vom Himmel, in dem alles aufgeht: Da leben wir. Genau da. |